Ein Journalist fahndet nach einem serbischen Dichter, der während des bosnisch-serbischen Krieges unfreiwilliger Zeuge eines Massakers wurde. Doch schon seinen ersten Kontaktmann in Thessaloniki findet er nur noch tot vor. Er sucht den Dichter auf dem heiligen Berg Athos und gerät in den Klöstern dort in einen Strudel gespenstischer und bedrohlicher Ereignisse, die ihm immer neue Hindernisse in den Weg stellen. Es beginnt eine spannende und zugleich hochliterarisch erzählte Hetzjagd durch die Welt des Balkans, die erst in Istanbul endet.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.03.2000Der Blick des Odysseus ins Innere Europas
Gefährliche Recherchen auf dem Balkan und am Athos: Gerhard Roths Roman „Der Berg”
In der Dunkelheit des Wiener Apollo-Kinos endet Gerhard Roths neuer Roman: „. . . im selben Moment erschien das erste Bild, das Viktor Gartner sofort in Bann zog. Es zeigte, durch die Windschutzscheibe eines fahrenden Autos, ein menschenleeres Areal mit Neubauten, dem sich die Kamera mit einem schnellen Zoom näherte. ” Nach mehr als 300 Seiten erkennt der einigermaßen überraschte Leser, dass die Schlusssequenz mit dem Eingangsbild übereinstimmt und diese statt der Auflösung der kriminalistischen Verwicklungen den Bauplan eines allegorischen Romans über den heillosen Zustand einer europäischen Kulturlandschaft verrät. Unter dem Rad der Geschichte wiederholt sich ein Geschehen, das zunächst einen ganz anderen Verlauf erwarten lässt.
Am 1. Mai in einem der letzten Jahre des 20. Jahrhunderts betritt Gartner die Universität Thessaloniki. Bosic, den Mann, den er im Paläontologischen Institut treffen will, findet er dort mit durchgeschnittener Kehle vor. Gartner glaubt, in eine „Falle” geraten zu sein, was auch die Kapitelüberschrift nahe legt. Tatsächlich ist der Journalist in einer keineswegs harmlosen Mission unterwegs. Weil er einen politischen Skandal aufgedeckt hat, ohne ihn beweisen zu können, hat ihn seine Zeitung für einige Zeit zum „Wochenend-Journal” abgeschoben, für das er nun eine Reisereportage über den Berg Athos schreiben soll. Auf eigene Faust will Gartner allerdings nach dem serbischen Dichter Goran R. forschen, der sich in der Mönchsrepublik versteckt haben soll, „weil er im Jugoslawienkrieg Augenzeuge des Massakers von S. geworden war, bei dem sechstausend bosnische Moslems ermordet worden waren”. Da sein Informant Bosic, wie Gartner mutmaßt, von einem unbekannten Geheimdienst getötet worden ist, ändert er den „ursprünglichen Plan” und tritt die Reise zum Athos alleine an, begleitet lediglich von dem Bewusstsein, zugleich Suchender und Verfolgter zu sein.
„Der Berg” ist keine alpine Größe, sondern von mythologischer Gestalt. Gartner nähert sich daher seinem Ziel auf einer abenteuerlichen Irrfahrt, für die er sich mit einer archaischen Waffe, einer Steinschleuder, ausrüstet. Schon die Anreise per Schiff droht mehrfach zu scheitern und gleicht eher der Fahrt über den Styx. Die Erzählweise, typisch für Roth, zeichnet sich aus durch einen fotografischen Realismus in den Details, die jedoch durch den Protagonisten eine spezifische Interpretation erfahren, wodurch sich ein Text von magischer Mehrdeutigkeit herstellt. Indem die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Wahrnehmung verschwimmen, sind alle Sicherheiten aufgehoben.
Elias und Habakuk
Was dem Touristen als notwendige Ingredienz eines Griechenlandurlaubs erscheinen mag, verdichtet sich für Gartner zum Anzeichen einer elementaren Bedrohung. Die frommen Mönche tragen die Namen der Richter-Propheten Elias und Habakuk; sie agieren wie Agenten einer feindlichen Macht und raten dem Fragenden lapidar: „Geben Sie auf!” Der freundliche Polizist warnt vor der Gefahr, die er möglicherweise selbst verkörpert. Wie Lemuren tauchen die Bewohner der Mönchsrepublik auf, um ihr Spiel mit dem Eindringling zu treiben, der die Landessprache nicht beherrscht.
Wenig zuverlässig sind auch die Ortsnamen. Ouranopolis, die Himmelsstadt, gleicht einer Vorhölle. Der Heilige Berg ist eine Stätte des Todes, dessen Fanale überall sichtbar werden. Auf seinen Nachforschungen betritt Gartner ein vom Feuer zerstörtes Kloster, durchstöbert die verkohlten Reste der Bibliothek und glaubt gar, am Boden die Asche des Bibliothekars zu erkennen. Goran R. kann er am Berg Athos nicht ausfindig machen. Den trifft er dann in Istanbul, dorthin gelenkt durch geheimnisvolle Hintermänner, die auch vor einem weiteren Mord nicht zurückschrecken. Der Dichter lässt sich erst nach Zahlung einer beträchtlichen Geldsumme zu einem Interview bewegen, das jedoch keinerlei Neuigkeitswert besitzt. Er zählt zwar den „Ministerpräsidenten der serbisch-bosnischen Republik, der Psychiater war und selbst Gedichtbände veröffentlichte”, zu seinen Freunden und ist auch am Schauplatz des Massakers gewesen, will aber nichts gesehen haben. „Ich bilde mir ein, Schüsse gehört zu haben. Soldaten, wenn sie einen Ort besetzen, feuern immer Salven ab. ” Im Gegensatz zu den kaum getarnten Zeitgenossen bleiben die Umrisse des Poeten unbestimmbar, weshalb es von ihm heißt: „Er war ein Schwindler. Und ein Seher. Beides gleichzeitig. ”
In einem ungewöhnlichen Einvernehmen zwischen Griechen und Türken wird Gartner schließlich von den Behörden nach Wien abgeschoben. Am Ende erweisen sich seine Aufzeichnungen ebenso wie sein gesamtes journalistisches Handwerkszeug, das er immer wieder überprüft und inventarisiert hat, „um sich später besser erinnern zu können”, als völlig wertlos. Sein bloßes Zusammentreffen mit Goran R. reicht der Zeitung überdies für eine Schlagzeile: „Der Bericht enthielt zahlreiche Fehler. ” Der Journalist hat seine Aufgabe erfüllt, ohne, wie auch der Leser, die Zusammenhänge begriffen zu haben: Die Morde werden nicht aufgeklärt, die Personen nicht demaskiert. Es gibt keinen freundlichen Erzähler, der uns, den Versprechungen des Genres folgend, von den Verbrechen befreien würde, die den Südosten Europas beherrschen. So bleibt der Text notwendigerweise ein offener Fortsetzungsroman.
Der Österreicher Gerhard Roth muss, wie sein Schriftstellerkollege Handke, wie wir alle, durch die Geschehnisse auf dem Balkan zutiefst verstört worden sein. Die rätselhafte Offenheit des Romans spiegelt die Ratlosigkeit wider angesichts des Ausbruches von Hass und Gewalt, der ein mehr als tausendjähriges Zusammenleben und damit einen wesentlichen Teil europäischer Kultur vernichtet hat. Die Chiffre für das Unfassbare ist die „Ikonen-Dichtung” des schimärenhaften Goran R. In Anlehnung an die vielschichtigen Erzählbilder der Orthodoxie geht es in den Gedichten um die Blendung des serbischen Märtyrerkönigs Stephan III. Decansky und, auf einer tieferen Ebene, um die Blindheit des Kunstwerks, also um die Frage, wie der Künstler zur Wirklichkeit seiner Zeit steht, der er sich durch keine Flucht in ein Kloster entziehen kann.
Trotz seiner Dunkelheit ist daher der Roman eine Schule des Sehens. Phänomene, die „scheinbar grundlos in die Augen springen”, werden für Gartner zu wichtigen Wegweisern. Farben ergeben „einen Atlas verschwundener Denkwelten”, bilden „seltsame Landkarten” und ordnen sich zu einer „Mauerfleckenwelt”. Die Filme, an die er sich erinnert (Der Blick des Odysseus mit Harvey Keitel, Antonionis Blow up), thematisieren wiederum den Zweifel an dem, was die Bilder zeigen.
Weil die Konturen verschwimmen, weil Kommunikation und Konsens in einer politischen Katastrophe unterzugehen drohen („Der Krieg ist ein Chaos von unzähligen Punkten”), zwingt uns der Roman zu neuer Orientierung. „Wie wollen Sie richten, wenn Sie nur eine Seite sehen, einen Punkt herausgreifen?”, wird der Journalist gefragt. Auf die Verantwortung der Medien hat bereits 1979 Nicolas Born in einem Roman über den Bürgerkrieg im Libanon hingewiesen, den er Die Fälschung nannte. Heutige Satellitenaugen, die natürlich „ein Bild vom Massengrab in S. ” gesendet haben, sind unbestechlich. Obwohl sie keine Distanzierung erlauben, lassen die Fotos den Betrachter allein, weil sie nichts erklären. „Es war nur ein winziger Ausschnitt eines gewaltigen Freskos, das er nicht erfassen konnte,und es war unmöglich zu erraten, was darauf abgebildet war, weil der Ausschnitt zu klein war und er zu nahe dran”, so begründet Gartner sein Scheitern als Berichterstatter.
„Die künstlerische Einsicht und Entdeckung entsteht jedes Mal als ein neues und einzigartiges Bild der Welt, als eine Hieroglyphe der Wahrheit”, zitiert Gerhard Roth an anderer Stelle seinen Lieblingsregisseur Andrej Tarkowskij. In diesem Anspruch liegen, trotz allem, Aufgabe und Trost der Kunst.
HERIBERT HOVEN
GERHARD ROTH: Der Berg. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2000. 310 Seiten, 39,80 Mark.
Gerhard Roth. Trotz seiner Dunkelheit ist auch der neue Roman des Österreichers eine Schule des Sehens.
Foto: Ohlbaum
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Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Gefährliche Recherchen auf dem Balkan und am Athos: Gerhard Roths Roman „Der Berg”
In der Dunkelheit des Wiener Apollo-Kinos endet Gerhard Roths neuer Roman: „. . . im selben Moment erschien das erste Bild, das Viktor Gartner sofort in Bann zog. Es zeigte, durch die Windschutzscheibe eines fahrenden Autos, ein menschenleeres Areal mit Neubauten, dem sich die Kamera mit einem schnellen Zoom näherte. ” Nach mehr als 300 Seiten erkennt der einigermaßen überraschte Leser, dass die Schlusssequenz mit dem Eingangsbild übereinstimmt und diese statt der Auflösung der kriminalistischen Verwicklungen den Bauplan eines allegorischen Romans über den heillosen Zustand einer europäischen Kulturlandschaft verrät. Unter dem Rad der Geschichte wiederholt sich ein Geschehen, das zunächst einen ganz anderen Verlauf erwarten lässt.
Am 1. Mai in einem der letzten Jahre des 20. Jahrhunderts betritt Gartner die Universität Thessaloniki. Bosic, den Mann, den er im Paläontologischen Institut treffen will, findet er dort mit durchgeschnittener Kehle vor. Gartner glaubt, in eine „Falle” geraten zu sein, was auch die Kapitelüberschrift nahe legt. Tatsächlich ist der Journalist in einer keineswegs harmlosen Mission unterwegs. Weil er einen politischen Skandal aufgedeckt hat, ohne ihn beweisen zu können, hat ihn seine Zeitung für einige Zeit zum „Wochenend-Journal” abgeschoben, für das er nun eine Reisereportage über den Berg Athos schreiben soll. Auf eigene Faust will Gartner allerdings nach dem serbischen Dichter Goran R. forschen, der sich in der Mönchsrepublik versteckt haben soll, „weil er im Jugoslawienkrieg Augenzeuge des Massakers von S. geworden war, bei dem sechstausend bosnische Moslems ermordet worden waren”. Da sein Informant Bosic, wie Gartner mutmaßt, von einem unbekannten Geheimdienst getötet worden ist, ändert er den „ursprünglichen Plan” und tritt die Reise zum Athos alleine an, begleitet lediglich von dem Bewusstsein, zugleich Suchender und Verfolgter zu sein.
„Der Berg” ist keine alpine Größe, sondern von mythologischer Gestalt. Gartner nähert sich daher seinem Ziel auf einer abenteuerlichen Irrfahrt, für die er sich mit einer archaischen Waffe, einer Steinschleuder, ausrüstet. Schon die Anreise per Schiff droht mehrfach zu scheitern und gleicht eher der Fahrt über den Styx. Die Erzählweise, typisch für Roth, zeichnet sich aus durch einen fotografischen Realismus in den Details, die jedoch durch den Protagonisten eine spezifische Interpretation erfahren, wodurch sich ein Text von magischer Mehrdeutigkeit herstellt. Indem die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Wahrnehmung verschwimmen, sind alle Sicherheiten aufgehoben.
Elias und Habakuk
Was dem Touristen als notwendige Ingredienz eines Griechenlandurlaubs erscheinen mag, verdichtet sich für Gartner zum Anzeichen einer elementaren Bedrohung. Die frommen Mönche tragen die Namen der Richter-Propheten Elias und Habakuk; sie agieren wie Agenten einer feindlichen Macht und raten dem Fragenden lapidar: „Geben Sie auf!” Der freundliche Polizist warnt vor der Gefahr, die er möglicherweise selbst verkörpert. Wie Lemuren tauchen die Bewohner der Mönchsrepublik auf, um ihr Spiel mit dem Eindringling zu treiben, der die Landessprache nicht beherrscht.
Wenig zuverlässig sind auch die Ortsnamen. Ouranopolis, die Himmelsstadt, gleicht einer Vorhölle. Der Heilige Berg ist eine Stätte des Todes, dessen Fanale überall sichtbar werden. Auf seinen Nachforschungen betritt Gartner ein vom Feuer zerstörtes Kloster, durchstöbert die verkohlten Reste der Bibliothek und glaubt gar, am Boden die Asche des Bibliothekars zu erkennen. Goran R. kann er am Berg Athos nicht ausfindig machen. Den trifft er dann in Istanbul, dorthin gelenkt durch geheimnisvolle Hintermänner, die auch vor einem weiteren Mord nicht zurückschrecken. Der Dichter lässt sich erst nach Zahlung einer beträchtlichen Geldsumme zu einem Interview bewegen, das jedoch keinerlei Neuigkeitswert besitzt. Er zählt zwar den „Ministerpräsidenten der serbisch-bosnischen Republik, der Psychiater war und selbst Gedichtbände veröffentlichte”, zu seinen Freunden und ist auch am Schauplatz des Massakers gewesen, will aber nichts gesehen haben. „Ich bilde mir ein, Schüsse gehört zu haben. Soldaten, wenn sie einen Ort besetzen, feuern immer Salven ab. ” Im Gegensatz zu den kaum getarnten Zeitgenossen bleiben die Umrisse des Poeten unbestimmbar, weshalb es von ihm heißt: „Er war ein Schwindler. Und ein Seher. Beides gleichzeitig. ”
In einem ungewöhnlichen Einvernehmen zwischen Griechen und Türken wird Gartner schließlich von den Behörden nach Wien abgeschoben. Am Ende erweisen sich seine Aufzeichnungen ebenso wie sein gesamtes journalistisches Handwerkszeug, das er immer wieder überprüft und inventarisiert hat, „um sich später besser erinnern zu können”, als völlig wertlos. Sein bloßes Zusammentreffen mit Goran R. reicht der Zeitung überdies für eine Schlagzeile: „Der Bericht enthielt zahlreiche Fehler. ” Der Journalist hat seine Aufgabe erfüllt, ohne, wie auch der Leser, die Zusammenhänge begriffen zu haben: Die Morde werden nicht aufgeklärt, die Personen nicht demaskiert. Es gibt keinen freundlichen Erzähler, der uns, den Versprechungen des Genres folgend, von den Verbrechen befreien würde, die den Südosten Europas beherrschen. So bleibt der Text notwendigerweise ein offener Fortsetzungsroman.
Der Österreicher Gerhard Roth muss, wie sein Schriftstellerkollege Handke, wie wir alle, durch die Geschehnisse auf dem Balkan zutiefst verstört worden sein. Die rätselhafte Offenheit des Romans spiegelt die Ratlosigkeit wider angesichts des Ausbruches von Hass und Gewalt, der ein mehr als tausendjähriges Zusammenleben und damit einen wesentlichen Teil europäischer Kultur vernichtet hat. Die Chiffre für das Unfassbare ist die „Ikonen-Dichtung” des schimärenhaften Goran R. In Anlehnung an die vielschichtigen Erzählbilder der Orthodoxie geht es in den Gedichten um die Blendung des serbischen Märtyrerkönigs Stephan III. Decansky und, auf einer tieferen Ebene, um die Blindheit des Kunstwerks, also um die Frage, wie der Künstler zur Wirklichkeit seiner Zeit steht, der er sich durch keine Flucht in ein Kloster entziehen kann.
Trotz seiner Dunkelheit ist daher der Roman eine Schule des Sehens. Phänomene, die „scheinbar grundlos in die Augen springen”, werden für Gartner zu wichtigen Wegweisern. Farben ergeben „einen Atlas verschwundener Denkwelten”, bilden „seltsame Landkarten” und ordnen sich zu einer „Mauerfleckenwelt”. Die Filme, an die er sich erinnert (Der Blick des Odysseus mit Harvey Keitel, Antonionis Blow up), thematisieren wiederum den Zweifel an dem, was die Bilder zeigen.
Weil die Konturen verschwimmen, weil Kommunikation und Konsens in einer politischen Katastrophe unterzugehen drohen („Der Krieg ist ein Chaos von unzähligen Punkten”), zwingt uns der Roman zu neuer Orientierung. „Wie wollen Sie richten, wenn Sie nur eine Seite sehen, einen Punkt herausgreifen?”, wird der Journalist gefragt. Auf die Verantwortung der Medien hat bereits 1979 Nicolas Born in einem Roman über den Bürgerkrieg im Libanon hingewiesen, den er Die Fälschung nannte. Heutige Satellitenaugen, die natürlich „ein Bild vom Massengrab in S. ” gesendet haben, sind unbestechlich. Obwohl sie keine Distanzierung erlauben, lassen die Fotos den Betrachter allein, weil sie nichts erklären. „Es war nur ein winziger Ausschnitt eines gewaltigen Freskos, das er nicht erfassen konnte,und es war unmöglich zu erraten, was darauf abgebildet war, weil der Ausschnitt zu klein war und er zu nahe dran”, so begründet Gartner sein Scheitern als Berichterstatter.
„Die künstlerische Einsicht und Entdeckung entsteht jedes Mal als ein neues und einzigartiges Bild der Welt, als eine Hieroglyphe der Wahrheit”, zitiert Gerhard Roth an anderer Stelle seinen Lieblingsregisseur Andrej Tarkowskij. In diesem Anspruch liegen, trotz allem, Aufgabe und Trost der Kunst.
HERIBERT HOVEN
GERHARD ROTH: Der Berg. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2000. 310 Seiten, 39,80 Mark.
Gerhard Roth. Trotz seiner Dunkelheit ist auch der neue Roman des Österreichers eine Schule des Sehens.
Foto: Ohlbaum
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.06.2000Ein Wiener beim Komplott auf dem Balkan
Gerhard Roths Roman "Der Berg" · Von Karl-Markus Gauss
Viktor Gartner, ein Wiener Journalist in seinen desillusionierten vierziger Jahren, ist von seiner Frau geschieden, seinen Töchtern getrennt und von seinem Chefredakteur mit einem als Strafe gedachten Auftrag nach Griechenland geschickt worden. Anstatt für die Reportage über die Mönche des Berges Athos zu recherchieren, verfolgt er dort seine eigenen Absichten und verabredet sich in Thessaloniki mit einem serbischen Emigranten, der am Paläontologischen Institut arbeitet. Von diesem Dr. Bosic erwartet Gartner Hinweise auf den serbischen Lyriker Goran R., den er einmal flüchtig kennen gelernt hatte und der untergetaucht ist. Ein Mystiker, Trinker und Dichter, hatte Goran R. in einem surrealen Poem die Massaker von S. vorweggenommen, war dann aber im Tross des berüchtigten Generals M. Augenzeuge dieses Verbrechens geworden, dem angeblich 6000 bosnische Muslime zum Opfer fielen. Von verschiedenen Geheimdiensten und Organisationen gejagt, soll er jetzt vor dem Kriegsverbrechertribunal in den Den Haag aussagen und verbirgt sich vielleicht im Kloster Chilander auf Athos. Sicher ist das aber nicht, sicher ist nur, dass Dr. Bosic keine Aussage mehr machen wird, denn als Gartner ihn in seinem Institut besucht, ist dem Paläontologen die Kehle nach alter Sitte fachkundig durchgeschnitten.
Auf Seite 14 ist Dr. Bosic tot, und auf Seite 261 reicht es auch dem fortwährend in Sackgassen gelockten, von der Polizei, seinen eigenen Informanten und dubiosen Leuten malträtierten Gartner; da er sich auf seinen Irrgängen durch Thessaloniki, die griechischen Klöster, Istanbul und zahlreiche düstere Balkannächte auch keinen größeren Durchblick als der Leser verschaffen konnte, fragt er einen der zwielichtigen Mitspieler des Geschehens, die offenbar nur die Aufgabe haben, ihn auf falsche Fährten zu hetzen: "Wer hat den Mord in Thessaloniki auf dem Gewissen? Was hatte der Mönch Elias auf Ierssis mit der Sache zu tun? Woher hatte er ein Polaroidfoto von mir? Wer hatte die Hände im Spiel, als ich in Chilander verhaftet wurde? Wo sind meine fotografischen und schriftlichen Aufzeichnungen? Weshalb sind Sie aus Thessaloniki geflüchtet?" Ziemlich viele Fragen, und auf den dreißig Seiten, die folgen, wird Gartner keine Antworten finden. Die detektivische Struktur des Romans hat nur dafür zu sorgen, dass Gartner auf der Suche bleibt und der Autor seine Suche dokumentieren kann, aber sie führt nicht zur Klärung des Rätsels, das Gartner aufgegeben ist.
Da sich Roth konsequent auf die personale Perspektive der Hauptfigur beschränkt, sind deren Irritationen auch die der Leser. Das hat Folgen, zumal Gartner in seiner Gefühlsarmut wie eine Wahrnehmungsmaschine funktioniert, die unablässig prägnante und beliebige Details registriert und in Form eines fortlaufenden Protokolls auswirft: "Seit seiner Kindheit war ihm klar, dass ihn ein Universum der Gleichgültigkeit umgab, in dem alles nur vorläufig existierte. Ihm fielen die nebensächlichsten Details besonders dann auf, wenn eine Nachricht ihn niederschmetterte, er in Gefahr war oder wenn er vor einer schweren Entscheidung stand."
Diesem Wahrnehmungszwang Gartners verdankt Roths Roman einprägsame Passagen - ein Unfall an einer belebten Straße, ein Fischer bei der Arbeit an der Hafenmole, das Kommen und Gehen in einem Kaffeehaus, das alles vermag Roth atmosphärisch überzeugend zu schildern. Auch die Selbstbeobachtung, mit der sich Gartner gewohnheitsmäßig die Zeit vertreibt, führt mitunter zu feinen Zustandsbildern und schönen Sätzen: "Sie warf ihm einen Blick zu, den er trotz seines Ärgers als helles Rieseln auf seinem Rücken spürte." Die meisten der von Roth mit gleichmütiger Energie dargebotenen Details sind jedoch nicht nur "blind" im Sinne des Kriminalromans, der gattungsgemäß falsche Spuren legen und täuschende Zeichen setzen muss. Nein, diese Details sind blind in jeder Hinsicht, weil sie gar nichts zu bedeuten haben, außer dass da ein penibel aufnotierender Autor mit ihnen Seite um Seite zu füllen weiß. Man gewinnt den Eindruck, Roth arbeite ähnlich wie sein Protagonist, der mit Fotoapparat und Notizblock so nah beim Geschehen ist, dass er es gar nicht mehr wahrnimmt, sondern die Dinge schon fixiert, verzeichnet, wegschiebt, noch ehe er sie wirklich zur Kenntnis genommen hätte. Wie manche Touristen die Kamera zwischen sich und die fremde Umgebung halten, um sich auf diese erst gar nicht einlassen zu müssen, deckt Roth die in Serie beschriebenen Dinge rasant mit einem Sprach-Teppich zu, in dem jedes Motiv gleich bedeutend und gleich bedeutungslos erscheint.
Natürlich spielt Gerhard Roth in "Der Berg" auf Ereignisse an, die dem internationalen Fernsehpublikum aus dem bosnischen Krieg bekannt sind, auf das Massaker von Srebrenica, auf den Propagandisten der ethnischen Säuberung, den nationalen Mystiker, Lyriker und Psychiater Radovan Karadzic und auf den Exekutor der ethnischen Morde und Vertreibungen, den leutseligen General Mladic. Aber wie Roth Indizien aneinander reiht, nur um am Ende zu zeigen, dass sie sich doch zu keiner Kette fügen und sein Kriminalroman nur ein vorgetäuschter ist, so bleibt auch der politisch-geografische Bezug auf die Balkan-Kriege bloße Simulation. Obwohl Wissenswertes über orthodoxe Ikonenmalerei oder Märtyrerlegenden der serbischen Geschichte reichlich im Roman verstreut wird, könnte dieser auch in Dänemark oder im Baskenland spielen. Bosnien, der Berg Athos, Schlachtfelder und Klöster sind lediglich Kulissen, die Roth kunstfertig zusammenzimmert, damit die Orientierungslosigkeit seines Helden einen glaubhaften äußeren Rahmen findet. Um diese Orientierungslosigkeit ist es Roth wahrscheinlich gegangen, sie zu zeigen, in verschiedenen Situationen zu untersuchen und sprachlich stets aufs Neue zu fassen, lässt der Autor als Leiter einer Versuchsordnung seinen Protagonisten in lauter Fallen tappen, jedem falschen Hinweis nachgehen und von einer Welt umgeben sein, die voller aufdringlicher Zeichen ist. Ikonen, Ölbilder, Fotografien, die durch einen Fehler der Kamera (oder durch Sabotage?) grünlich oxydieren und auf denen sich Gesichter, Häuser, Landschaften unidentifizierbar überlagern - alle Abbildungen werden rätselhaft und bedeuten etwas, das Gartner nicht erkennen kann. Sogar die Schaben an der Wand fügen sich zu einer geheimnisvollen Konstellation, und selbst auf dem Klosterboden steht Gartner wie auf einem Rätsel, dessen Sinn sich ihm verschließt.
Bilder, die nicht zu entziffern sind, Spuren, die in die Irre führen, Notizbücher, deren Schrift sich im Wasser auflöst, Gewährsleute, die planvoll täuschen und betrügen, allenthaben Konspiration und Komplott. Am Ende fragt man sich, ob dieser Kriminalroman, der keiner sein will und von einem ungewissen Verbrechen auf einem virtuellen Balkan handelt, nicht vielleicht selbst eine Täuschung ist, mit der der Autor seinen Lesern oder sich selbst etwas vormachen wollte. Irgendwann kehrt Gartner nach Wien zurück und entledigt sich seines Auftrags, indem er in seiner Reisereportage Erinnerungen und Erfindungen, Fakten und Einfälle wüst vermischt und "mit höhnischem Gelächter alles strich, was die schöne Stimmung seiner Schilderungen beeinträchtigte".
Gerhard Roth: "Der Berg". Roman. S. Fischer-Verlag, Frankfurt/Main 2000. 312 S., geb., 39,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gerhard Roths Roman "Der Berg" · Von Karl-Markus Gauss
Viktor Gartner, ein Wiener Journalist in seinen desillusionierten vierziger Jahren, ist von seiner Frau geschieden, seinen Töchtern getrennt und von seinem Chefredakteur mit einem als Strafe gedachten Auftrag nach Griechenland geschickt worden. Anstatt für die Reportage über die Mönche des Berges Athos zu recherchieren, verfolgt er dort seine eigenen Absichten und verabredet sich in Thessaloniki mit einem serbischen Emigranten, der am Paläontologischen Institut arbeitet. Von diesem Dr. Bosic erwartet Gartner Hinweise auf den serbischen Lyriker Goran R., den er einmal flüchtig kennen gelernt hatte und der untergetaucht ist. Ein Mystiker, Trinker und Dichter, hatte Goran R. in einem surrealen Poem die Massaker von S. vorweggenommen, war dann aber im Tross des berüchtigten Generals M. Augenzeuge dieses Verbrechens geworden, dem angeblich 6000 bosnische Muslime zum Opfer fielen. Von verschiedenen Geheimdiensten und Organisationen gejagt, soll er jetzt vor dem Kriegsverbrechertribunal in den Den Haag aussagen und verbirgt sich vielleicht im Kloster Chilander auf Athos. Sicher ist das aber nicht, sicher ist nur, dass Dr. Bosic keine Aussage mehr machen wird, denn als Gartner ihn in seinem Institut besucht, ist dem Paläontologen die Kehle nach alter Sitte fachkundig durchgeschnitten.
Auf Seite 14 ist Dr. Bosic tot, und auf Seite 261 reicht es auch dem fortwährend in Sackgassen gelockten, von der Polizei, seinen eigenen Informanten und dubiosen Leuten malträtierten Gartner; da er sich auf seinen Irrgängen durch Thessaloniki, die griechischen Klöster, Istanbul und zahlreiche düstere Balkannächte auch keinen größeren Durchblick als der Leser verschaffen konnte, fragt er einen der zwielichtigen Mitspieler des Geschehens, die offenbar nur die Aufgabe haben, ihn auf falsche Fährten zu hetzen: "Wer hat den Mord in Thessaloniki auf dem Gewissen? Was hatte der Mönch Elias auf Ierssis mit der Sache zu tun? Woher hatte er ein Polaroidfoto von mir? Wer hatte die Hände im Spiel, als ich in Chilander verhaftet wurde? Wo sind meine fotografischen und schriftlichen Aufzeichnungen? Weshalb sind Sie aus Thessaloniki geflüchtet?" Ziemlich viele Fragen, und auf den dreißig Seiten, die folgen, wird Gartner keine Antworten finden. Die detektivische Struktur des Romans hat nur dafür zu sorgen, dass Gartner auf der Suche bleibt und der Autor seine Suche dokumentieren kann, aber sie führt nicht zur Klärung des Rätsels, das Gartner aufgegeben ist.
Da sich Roth konsequent auf die personale Perspektive der Hauptfigur beschränkt, sind deren Irritationen auch die der Leser. Das hat Folgen, zumal Gartner in seiner Gefühlsarmut wie eine Wahrnehmungsmaschine funktioniert, die unablässig prägnante und beliebige Details registriert und in Form eines fortlaufenden Protokolls auswirft: "Seit seiner Kindheit war ihm klar, dass ihn ein Universum der Gleichgültigkeit umgab, in dem alles nur vorläufig existierte. Ihm fielen die nebensächlichsten Details besonders dann auf, wenn eine Nachricht ihn niederschmetterte, er in Gefahr war oder wenn er vor einer schweren Entscheidung stand."
Diesem Wahrnehmungszwang Gartners verdankt Roths Roman einprägsame Passagen - ein Unfall an einer belebten Straße, ein Fischer bei der Arbeit an der Hafenmole, das Kommen und Gehen in einem Kaffeehaus, das alles vermag Roth atmosphärisch überzeugend zu schildern. Auch die Selbstbeobachtung, mit der sich Gartner gewohnheitsmäßig die Zeit vertreibt, führt mitunter zu feinen Zustandsbildern und schönen Sätzen: "Sie warf ihm einen Blick zu, den er trotz seines Ärgers als helles Rieseln auf seinem Rücken spürte." Die meisten der von Roth mit gleichmütiger Energie dargebotenen Details sind jedoch nicht nur "blind" im Sinne des Kriminalromans, der gattungsgemäß falsche Spuren legen und täuschende Zeichen setzen muss. Nein, diese Details sind blind in jeder Hinsicht, weil sie gar nichts zu bedeuten haben, außer dass da ein penibel aufnotierender Autor mit ihnen Seite um Seite zu füllen weiß. Man gewinnt den Eindruck, Roth arbeite ähnlich wie sein Protagonist, der mit Fotoapparat und Notizblock so nah beim Geschehen ist, dass er es gar nicht mehr wahrnimmt, sondern die Dinge schon fixiert, verzeichnet, wegschiebt, noch ehe er sie wirklich zur Kenntnis genommen hätte. Wie manche Touristen die Kamera zwischen sich und die fremde Umgebung halten, um sich auf diese erst gar nicht einlassen zu müssen, deckt Roth die in Serie beschriebenen Dinge rasant mit einem Sprach-Teppich zu, in dem jedes Motiv gleich bedeutend und gleich bedeutungslos erscheint.
Natürlich spielt Gerhard Roth in "Der Berg" auf Ereignisse an, die dem internationalen Fernsehpublikum aus dem bosnischen Krieg bekannt sind, auf das Massaker von Srebrenica, auf den Propagandisten der ethnischen Säuberung, den nationalen Mystiker, Lyriker und Psychiater Radovan Karadzic und auf den Exekutor der ethnischen Morde und Vertreibungen, den leutseligen General Mladic. Aber wie Roth Indizien aneinander reiht, nur um am Ende zu zeigen, dass sie sich doch zu keiner Kette fügen und sein Kriminalroman nur ein vorgetäuschter ist, so bleibt auch der politisch-geografische Bezug auf die Balkan-Kriege bloße Simulation. Obwohl Wissenswertes über orthodoxe Ikonenmalerei oder Märtyrerlegenden der serbischen Geschichte reichlich im Roman verstreut wird, könnte dieser auch in Dänemark oder im Baskenland spielen. Bosnien, der Berg Athos, Schlachtfelder und Klöster sind lediglich Kulissen, die Roth kunstfertig zusammenzimmert, damit die Orientierungslosigkeit seines Helden einen glaubhaften äußeren Rahmen findet. Um diese Orientierungslosigkeit ist es Roth wahrscheinlich gegangen, sie zu zeigen, in verschiedenen Situationen zu untersuchen und sprachlich stets aufs Neue zu fassen, lässt der Autor als Leiter einer Versuchsordnung seinen Protagonisten in lauter Fallen tappen, jedem falschen Hinweis nachgehen und von einer Welt umgeben sein, die voller aufdringlicher Zeichen ist. Ikonen, Ölbilder, Fotografien, die durch einen Fehler der Kamera (oder durch Sabotage?) grünlich oxydieren und auf denen sich Gesichter, Häuser, Landschaften unidentifizierbar überlagern - alle Abbildungen werden rätselhaft und bedeuten etwas, das Gartner nicht erkennen kann. Sogar die Schaben an der Wand fügen sich zu einer geheimnisvollen Konstellation, und selbst auf dem Klosterboden steht Gartner wie auf einem Rätsel, dessen Sinn sich ihm verschließt.
Bilder, die nicht zu entziffern sind, Spuren, die in die Irre führen, Notizbücher, deren Schrift sich im Wasser auflöst, Gewährsleute, die planvoll täuschen und betrügen, allenthaben Konspiration und Komplott. Am Ende fragt man sich, ob dieser Kriminalroman, der keiner sein will und von einem ungewissen Verbrechen auf einem virtuellen Balkan handelt, nicht vielleicht selbst eine Täuschung ist, mit der der Autor seinen Lesern oder sich selbst etwas vormachen wollte. Irgendwann kehrt Gartner nach Wien zurück und entledigt sich seines Auftrags, indem er in seiner Reisereportage Erinnerungen und Erfindungen, Fakten und Einfälle wüst vermischt und "mit höhnischem Gelächter alles strich, was die schöne Stimmung seiner Schilderungen beeinträchtigte".
Gerhard Roth: "Der Berg". Roman. S. Fischer-Verlag, Frankfurt/Main 2000. 312 S., geb., 39,80 DM.
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