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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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Rückblick in zwei Etappen: Eine vor fast sechzig Jahren erschienene Quellensammlung zum Antisemitismusstreit im Kaiserreich in einer gelungenen neuen Edition
Hitler las Treitschke. Von dieser und weiterer Lektüre während seiner Landsberger Festungshaft, die ihm 1924 eine "Hochschule auf Staatskosten" gewesen sei, berichtete er seinem frühen Mitstreiter Hans Frank. Dabei wollte er sich durch die Werke fremder Autoren nicht irritieren lassen, sie vielmehr zur Stärkung seiner Grundüberzeugungen und Vorurteile nutzen, in ihnen Belege für die "Richtigkeit" der eigenen "Anschauungen" finden. Hitler las also Heinrich von Treitschke in einer Zeit, als er seine "Weltanschauung" festzurrte und zu untermauern suchte.
Beschwörungen nationaler Größe und Einheit konnte er bei Treitschke ebenso finden wie Bestätigungen für antisozialistische, antiliberale und antisemitische Feindbilder. Die fünfbändige "Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert" des Berliner Historikers hatte einigen Einfluss auf Geschichtsbild und Gegenwartsdeutungen breiter Bildungsschichten im deutschen Kaiserreich ausgeübt. In dem Jahr, als der erste Band seines Hauptwerks erschien, stieß Treitschke 1879 zudem mit seinem Aufsatz "Unsere Aussichten" in den konservativen "Preußischen Jahrbüchern" eine öffentliche Auseinandersetzung an. Sein Text war der erste Impuls für das, was zuerst "Treitschkestreit" oder "Treitschkiade" genannt werden sollte und mittlerweile als "Berliner Antisemitismusstreit" bekannt ist.
Diese Bezeichnung hat sich nach 1965 eingebürgert, als Walter Boehlich unter diesem Titel wesentliche Beiträge einer 1879/80 geführten Intellektuellendebatte über das Verhältnis von "Judenthum" und "Deutschthum", wie es zeitgenössisch hieß, in einer Quellenedition versammelte. Der Spannungsbogen der Texte reicht von Treitschkes Polemik mit dem fatalen Satz "Die Juden sind unser Unglück" bis zur berühmten Replik des Althistorikers Theodor Mommsen, der von einem "Evangelium der Intoleranz" sprach und Treitschke später einmal als "Vater des Antisemitismus" titulierte.
Diese Sammlung, die daneben unter anderem jüdische Interventionen von Heinrich Graetz, Harry Breßlau, Hermann Cohen und Ludwig Bamberger, aber auch hetzerische Pamphlete früher Vertreter eines völkischen Antisemitismus enthält, erlebte 1965 zwei Auflagen und erschien 1988 als Taschenbuch. Nun liegt sie in einer neuen, von Nicolas Berg verantworteten Ausgabe vor. Der am Leipziger Simon-Dubnow-Institut forschende Historiker macht nicht nur einen Quellenklassiker wieder zugänglich, sondern präsentiert weit mehr als einen bloß aktualisierten Nachdruck.
Nicht die Aufnahme dreier zusätzlicher Quellentexte (von Moritz Lazarus, Berthold Auerbach und Levin Goldschmidt) sorgt für den zentralen Mehrwert der neuen Anthologie. Vielmehr liegt er im produktiv gesteigerten Niveau der Historisierung und Kontextualisierung - und dies gleich in zweifacher Weise: Zum einen wird jedes Dokument durch einen Kommentar sachkundig in die zeit- und intellektuellengeschichtlichen Umstände eingeordnet, gefolgt von genauen Angaben zur Überlieferung und speziellen Forschungsliteratur. Zum anderen - darauf deutet der Untertitel "Eine Textsammlung von Walter Boehlich" bereits hin - würdigt Berg in seiner eingehenden Einführung die Geschichte von Boehlichs Edition.
Einiges ist über den gezielten Versuch zu erfahren, mit der "Sammlung Insel", in welcher der Band ursprünglich erschien, der vergleichsweise betulich daherkommenden "Insel Bücherei" eine dezidiert zeitkritische Reihe entgegenzusetzen. Boehlich, der ab Ende der Fünfzigerjahre daran mitwirkte, die später so genannte "Suhrkamp-Kultur" (nach George Steiners 1973 aufgebrachtem Topos) zu formen, wollte mit seiner Verlagsarbeit eine gesellschaftliche Aufgabe erfüllen, sich politisch engagieren und vor allem Kritik üben. Ob er deswegen gleich zu einem wichtigen Nebenakteur der Kritischen Theorie gemacht werden muss und es zutrifft, dass "Boehlichs Bedeutung für die Verlags- und Kulturgeschichte der Bundesrepublik kaum zu überschätzen" sei, mag man bezweifeln.
Boehlichs Arbeit als Zeitkritiker, Lektor und Herausgeber war aber in jedem Fall markant und verdient erinnert zu werden. Berg würdigt wichtige biographische Hintergründe ebenso wie Boehlichs Doppelrolle als "textgenauer Philologe" und "politischer Kopf". Er beabsichtigte mit der Textsammlung von 1965, wie Berg schreibt, keine rein historische Dokumentation. Wie viele andere Linksintellektuelle empfand Boehlich die Ära Adenauer als restaurativ und unaufrichtig im Umgang mit der - fehlgeleiteten - Nationalgeschichte seit Kaisers Zeiten. Mit seiner Quellenedition, die zumindest zeitlich im Zusammenhang mit der "Fischer-Kontroverse" stand (worüber leider nichts Näheres zu erfahren ist), positionierte er sich gegen Auffassungen, bei Hitler habe es sich lediglich um so etwas wie einen Betriebsunfall der deutschen Geschichte gehandelt.
Das Aufwerfen der Kontinuitätsfrage war Boehlich ein zentrales Anliegen. Indem er "akademische Vorboten der Barbarei" - so die Überschrift von Karl Dietrich Brachers Besprechung vom 23. Oktober 1965 in dieser Zeitung - ins Licht rückte, schlug er den zeitlichen Bogen vom Kaiserreich zum Nationalsozialismus. Zugleich beklagte Boehlich die mangelnde Aufklärung nach 1945, zumal an der Universität und unter Bildungseliten, die einst mitgeholfen hatten, in Treitschkes Geist den Antisemitismus salonfähig zu machen. Anders als im Frankreich der Jahrhundertwende blieb in Deutschland ein Läuterungsprozess wie die Dreyfus-Affäre aus. Ein solcher "deutscher Aufstand der Vernunft" fehlte, wie auch Bracher in seiner Rezension des Bandes notierte. Insofern dürfte Boehlich, das schlussfolgert Berg, seine Antisemitismus-Edition in symbolischer Weise als ein verspätetes, nachgeholtes "J'accuse!" verstanden haben.
Nicolas Bergs Neuausgabe kommt nüchtern daher. Sie überzeugt durch Informationsreichtum und kluge Einordnungen in die Zeitläufte, gleich ob es um Fragen der intellektuellen Verfasstheit des Kaiserreichs oder der frühen Bundesrepublik geht. Ein unmittelbar auf die Gegenwart zielendes Statement ist ihr nicht zu entnehmen. Und doch mag die aufgefrischte Erinnerung an eine Phase der Entstehung und Verdichtung antisemitischer Denkfiguren und Stereotype in Deutschland indirekt als Mahnung zu lesen sein, das Kaiserreich - anders, als dies heute mitunter geschieht - nicht allzu fröhlich als ein modernes und demokratieaffines Gebilde anzusehen. ALEXANDER GALLUS
Nicolas Berg (Hrsg.): "Der Berliner Antisemitismusstreit". Eine Textsammlung von Walter Boehlich.
Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 544 S., br., 28,- Euro.
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