Der dänische König Christian VII. ist verrückt und muss nach außen dennoch seinen königlichen Pflichten nachkommen. In Wahrheit machen die Staatsgeschäfte andere und seine Ehe mit der englischen Prinzessin Caroline Mathilde ist eine Farce. Als er seinem Leibarzt Struensee empfiehlt, er solle sich der einsamen Königin annehmen, ahnt keiner, dass sich daraus eine tragische Leidenschaft entwickeln wird. Ein psychologisches Drama um Politik, Macht und Liebe.
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Reinhard Baumgart zeigt sich ohne Einschränkung begeistert von diesem "großen Buch", dass die übliche belletristische Produktion anderer Autoren seiner Ansicht nach weit überragt. Der Rezensent begründet dies gleich mit einem ganzen Sammelsurium von Argumenten, etwa wenn er von der großen Souveränität der Autors spricht, den vielen verschiedenen Facetten des Romans aus Historie, Märchen, Bibelzitaten, Enquists politischem Blick oder auch seiner "Erfahrung, die er als Grenzgänger zwischen Reportage, Essay, Autobiografie, Fiktion sich erarbeitet hat". Und obwohl schon gleich am Anfang des Buchs klar werde, dass der Leibarzt Struensee mit seiner Liebe scheitern und am Ende hingerichtet werden wird, so tue das der Spannung dieses historischen Roman keinen Abbruch. Vielmehr konzentriere sich der Autor auf das "Wie und Warum des Ablaufs", was nach Baumgart hervorragend gelungen ist. Bei den Eros-Thanatos-Konflikten fühlt sich der Rezensent gar an Schiller und an Wagners Musikdramen mit seinen variierenden Motiven erinnert, wobei ihm die glasklare psychologische Zeichnung der Figuren besonders imponiert. Nicht zuletzt macht Baumgart auf die "bewundernswerte" Übersetzung Wolfgang Butts aufmerksam. Nur eines mokiert der Rezensent in seiner Besprechung: Dass Enquist noch immer nicht den Literatur-Nobelpreis erhalten hat.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Dänemark hatte seine eigene, besondere Art der Aufklärung. Sie ging nicht vom Volk und auch nicht vom König aus, sondern von einer höchst umstrittenen Person: Johann Friedrich Struensee, Leibarzt und Freund des debilen Kindkönigs Christian VII. Vier Jahre lang nahm er erheblichen Einfluss auf König und Staatsgeschäfte. Unter seiner „Herrschaft“ wurden unter anderem die Folter abgeschafft, der Frondienst eingeschränkt, die Pressefreiheit verkündet, Krankenhäuser und Universitäten reformiert. Ganz nebenbei wurde Struensee auch der Geliebte der vernachlässigten Königin. Zu viel des Guten, meinten die Herren bei Hofe, und zettelten eine Intrige an, die Struensee schließlich den Kopf kostete. Enquist verbindet in seinem Roman historisch dokumentierte, interpretatorische und belletristische Elemente - eine Gratwanderung, die ihm nicht immer gelingt. Wer aber nicht den Anspruch einer Biografie erhebt, den erwartet ein fesselnder historischer Roman mit fein gezeichneten Charakteren, einer lebendigen Schilderung der höfischen Gepflogenheiten im Dänemark des 18. Jahrhunderts und einer leidenschaftlichen Liebesgeschichte. (www.parship.de)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.05.2001Anprobe vor dem Seelenspiegel
Staatstheater: Per Olov Enquist macht der Aufklärung schöne Augen
Es ist verführerisch, sich vorzustellen, wie etwa Friedrich Schiller mit diesem Stoff verfahren wäre, dessen Bearbeitung für die Bühne dann Kleinmeistern wie Michael Beer und Heinrich Laube vorbehalten blieb. Was sich zwischen 1768 und 1772 am dänischen Hof zutrug, war geeignet, dem Vergnügen an tragischen Gegenständen so viel Nahrung zu geben, daß ein Autor nach Schillers strengem Begriff seine ganze Kraft hätte aufbieten müssen, um die Wirkung der dramatischen Form gegen die Übermacht des Stoffs zu sichern.
Ein jugendlicher König, gemütskrank und vom Ideengut der Aufklärung infiziert, eine blutjunge, erotisch bedürftige Königin, ein bürgerlicher Parvenü, der ein feudales Staatswesen nach den Prinzipien aufklärerischer Vernunft umgestalten will und darüber zum Despoten wird, ein fanatischer, intriganter Widersacher und diverse machtgierige Nebenfiguren, eine standes- und sittenwidrige Leidenschaft, ein hinterhältiges Komplott und eine Beinahe-Revolution, die mit dem Henkerbeil gekappt wird - es scheint, als hätte die Wirklichkeit sich damals angestrengt, noch die produktivste Phantasie zu übertreffen. Daß die Jahre, die als "Struenseezeit" in die dänische Geschichte eingingen, für die Nachwelt widersprüchlich dokumentiert worden sind, macht sie als literarischen Spiel-Raum um so ergiebiger, doch wird ein Schriftsteller, der sich jener abenteuerlichen Episode zuwendet, nicht umhinkönnen, durch seine Art der Auswertung und Auslegung des Materials einiges über sich zu verraten.
Per Olov Enquist gibt sich in seinem Roman "Der Besuch des Leibarztes" einmal mehr als Theaterfachmann zu erkennen, dem alle Regeln der Inszenierungskunst geläufig sind, als Drehbuchschreiber auch, der Elemente der epischen und dramatischen Gattung souverän zu verbinden weiß, und als Essayist, dem jede Erzählung zum Denk-Experiment und zum Lehrstück gerät. Er tut überdies kund, daß ihn weder das Zeitkolorit der fernen Epoche interessierte noch die Ermittlung der historischen Wahrheit, sondern daß es ihm vielmehr darum ging, hinter dem dänischen Intermezzo menschliche Grundkonflikte sichtbar zu machen, im Unerhörten das Allgemeine zu zeigen. Und schließlich verhehlt er nicht, daß er ein erotischer Romantiker ist, verwegen genug, um Traumbilder einer exquisiten Liebeserfüllung in ungeheizte höfische Schlafgemächer des achtzehnten Jahrhunderts zu projizieren.
"Auf den Porträts, die es von ihnen gibt, haben sie alle sehr große Augen", schreibt Enquist im Eingangskapitel über seine Hauptfiguren, um sogleich hinzuzufügen: "Weil die Augen als Spiegel der Seele galten, wurden sie sehr groß gemalt." Das Deuten der Augen aber, heißt es weiter, sei "Sache des Betrachters". Hier wird lakonisch ein Programm verkündet: Der Autor wahrt Distanz zur Überlieferung, er bezieht sein modernes Wissen mit ein, er scheut nicht den erklärenden Zeigefinger, und er nimmt sich die Freiheit einer eigenen Lesart. Das betrifft die Bildnisse ebenso wie die zeitgenössischen Berichte und Kommentare, die in den Erzählfluß so eingearbeitet sind, daß eine eigenwillige Mischung aus Dokumentation, Fiktion und Interpretation entsteht, organisiert wiederum unter dem Aspekt der Bühnenwirksamkeit, eine Art episches Theater in Romanform. Daß dieses analytische Verfahren ein lebensvolles Stück Literatur hervorbringt, ist dem warmen Interesse Enquists an seinen Figuren zu verdanken, der hellsichtigen, aber auch wagemutigen Empathie, mit der er über die Zeitkluft hinweg ihren Antrieben und Gemütsbewegungen nachspürt.
So wie Schiller wußte, daß der Bösewicht im Drama für Autor und Zuschauer mindestens so anregend und anziehend ist wie die Lichtgestalt, so widmet Enquist dem Schurken im Spiel kaum weniger Aufmerksamkeit als dem Helden. Die Geschichte des Altonaer Mediziners Johann Friedrich Struensee, der vom Leibarzt des dänischen Königs Christian VII. zum Geheimen Kabinettsminister aufstieg, mit der Gemahlin des psychisch labilen Monarchen eine Liebesbeziehung unterhielt, unter beider Protektion zahlreiche Reformen durchsetzte und nach einem vier Jahre währenden, leisen und hartnäckigen Kampf um die Herrschaft von Vernunft und Humanität auf dem Schafott endete, beginnt mit dem Auftritt seines siegreichen Kontrahenten, des Höflings und späteren "Staatsministers" Ove Hoegh-Guldberg. Ihm, dem Sohn eines Leichenbestatters, fällt im epochalen Streit der Weltanschauungen der Part des Reaktionärs zu, und es hat dem Aufklärungs-Enthusiasten Enquist sichtliches Vergnügen bereitet, diesem finsteren Fortschrittsverhinderer alle Symptome der Lustfeindlichkeit und des religiösen Wahns auf den Leib zu schreiben, den kleinwüchsigen Ränkeschmied als Gegenbild zum sinnenfrohen Salonrevolutionär Struensee zu konturieren, der gleichwohl den Makel der niedrigen Herkunft und die Energie des Emporkömmlings mit ihm teilt.
Zwischen ausgeprägt männlicher Phantasie und fast schon femininem Einfühlungsvermögen changiert Enquists Porträt der englischen Prinzessin Caroline Mathilde, die als fünfzehnjährige Unschuld dem drei Jahre älteren Dänenkönig als Gattin zugeführt wird, an der Kälte der Zwangsehe verzweifelt und in der leidenschaftlichen Begegnung mit dem Leibarzt an Körper und Seele zum Vollweib reift. Der kultivierte Voyeurismus des schwedischen Erzählers imaginiert lauter ideale Situationen für die Liebe in den Zeiten der Aufklärung: Ausritte und Waldspaziergänge, freier Gedankenaustausch am Busen der Natur, gemeinsame Holberg-Lektüre in der Hütte, die ein holsteinischer Graf in Erwartung des Besuches von Rousseau erbauen ließ, endlich physisch-geistige Verschmelzung in dem Bett, "in dem der französische Philosoph hätte liegen sollen, aber nie gelegen hatte". Mag auch das Kapitel, in dem die verhängnisvolle Affäre sich anbahnt, mit der Überschrift "Der Reitlehrer" an die skandalösen Amouren einer populären englischen Prinzessin des zwanzigsten Jahrhunderts erinnern: Hier wird auf ungleich höherem Niveau gesündigt.
Die anrührendste und zugleich rätselhafteste Gestalt auf Enquists Romanbühne ist König Christian, dieser reinkarnierte und inthronisierte Prinz Hamlet, der die Liaison zwischen Struensee und Caroline Mathilde duldet, ja begünstigt, weil sie eine Bürde von seinen fragilen Schultern nimmt. Er, der Narr seines eigenen Hofes, seit früher Kindheit dazu abgerichtet, die Rolle des absolutistischen Herrschers als Marionette von Beratern und Drahtziehern zu verkörpern, "erlebt seine Wirklichkeit als Theaterstück", wie der Leibarzt im schön erdachten Gespräch mit dem englischen Schauspieler Garrick bemerkt. Ob der begabte junge Monarch, der mit Voltaire korrespondierte und der "Machtübernahme" des Reformers aus Altona halb blind, halb sehend den Weg ebnete, tatsächlich geisteskrank war oder nur ein hypersensibler Grenzgänger, hat Per Olov Enquist nicht entschieden: Seine Darstellung gleicht einem Vexierbild, das beide Möglichkeiten offenläßt.
Was den Titelhelden angeht, so ist die Entscheidung des Autors eindeutig ausgefallen. Aus den verfügbaren Mitteilungen und Mutmaßungen über die Persönlichkeit des glücklosen Politikers Johann Friedrich Struensee hat er eine Porträtstudie gefiltert, die ein hohes Maß an Identifikation verrät. Der deutsche Leibarzt, dessen vierjähriger "Besuch" die Faulstellen im Staate Dänemark zwar nicht dauerhaft beseitigte, doch den Virus der Aufklärung in den maroden Korpus des kleinen Königreichs setzte, trägt trotz der absichtsvoll ins Spiel gebrachten Schwächen und Ambivalenzen seines Charakters alle Züge eines Moralisten und Philanthropen, Genießers und Ästheten, mit dem Enquist sich seelenverwandt fühlen muß. Und so ist auch die Schwermut, die den Scheiternden heimsucht, noch bevor die Guldberg-Fraktion ihm das Handwerk legt, die Melancholie des Schriftstellers, für den die Frage nach den Chancen der menschlichen Vernunft unbeantwortet und die intellektuelle Kontroverse des vorrevolutionären Europa ungelöst geblieben ist.
Die kunstvoll-zwanglos hergestellte Gegenwartsnähe macht Enquists Werk zum Glücksfall eines historischen Romans. Dennoch sei bei dieser Gelegenheit an einen vergessenen Vorläufer erinnert, der unbedingt einen zweiten Blick verdient: Robert Neumanns "Struensee"-Roman, 1935 im holländischen Exil geschrieben und 1953 unter dem Titel "Der Favorit der Königin" in Deutschland erschienen, kann auf das von Enquist entfaltete Geschichtspanorama überraschende Reflexe werfen und wird umgekehrt von ihm neu beleuchtet - auch eine Variante des Satzes "Habent sua fata libelli".
KRISTINA MAIDT-ZINKE
Per Olov Enquist: "Der Besuch des Leibarztes". Roman. Aus dem Schwedischen übersetzt von Wolfgang Butt. Carl Hanser Verlag, München 2001. 376 S., geb., 42,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Staatstheater: Per Olov Enquist macht der Aufklärung schöne Augen
Es ist verführerisch, sich vorzustellen, wie etwa Friedrich Schiller mit diesem Stoff verfahren wäre, dessen Bearbeitung für die Bühne dann Kleinmeistern wie Michael Beer und Heinrich Laube vorbehalten blieb. Was sich zwischen 1768 und 1772 am dänischen Hof zutrug, war geeignet, dem Vergnügen an tragischen Gegenständen so viel Nahrung zu geben, daß ein Autor nach Schillers strengem Begriff seine ganze Kraft hätte aufbieten müssen, um die Wirkung der dramatischen Form gegen die Übermacht des Stoffs zu sichern.
Ein jugendlicher König, gemütskrank und vom Ideengut der Aufklärung infiziert, eine blutjunge, erotisch bedürftige Königin, ein bürgerlicher Parvenü, der ein feudales Staatswesen nach den Prinzipien aufklärerischer Vernunft umgestalten will und darüber zum Despoten wird, ein fanatischer, intriganter Widersacher und diverse machtgierige Nebenfiguren, eine standes- und sittenwidrige Leidenschaft, ein hinterhältiges Komplott und eine Beinahe-Revolution, die mit dem Henkerbeil gekappt wird - es scheint, als hätte die Wirklichkeit sich damals angestrengt, noch die produktivste Phantasie zu übertreffen. Daß die Jahre, die als "Struenseezeit" in die dänische Geschichte eingingen, für die Nachwelt widersprüchlich dokumentiert worden sind, macht sie als literarischen Spiel-Raum um so ergiebiger, doch wird ein Schriftsteller, der sich jener abenteuerlichen Episode zuwendet, nicht umhinkönnen, durch seine Art der Auswertung und Auslegung des Materials einiges über sich zu verraten.
Per Olov Enquist gibt sich in seinem Roman "Der Besuch des Leibarztes" einmal mehr als Theaterfachmann zu erkennen, dem alle Regeln der Inszenierungskunst geläufig sind, als Drehbuchschreiber auch, der Elemente der epischen und dramatischen Gattung souverän zu verbinden weiß, und als Essayist, dem jede Erzählung zum Denk-Experiment und zum Lehrstück gerät. Er tut überdies kund, daß ihn weder das Zeitkolorit der fernen Epoche interessierte noch die Ermittlung der historischen Wahrheit, sondern daß es ihm vielmehr darum ging, hinter dem dänischen Intermezzo menschliche Grundkonflikte sichtbar zu machen, im Unerhörten das Allgemeine zu zeigen. Und schließlich verhehlt er nicht, daß er ein erotischer Romantiker ist, verwegen genug, um Traumbilder einer exquisiten Liebeserfüllung in ungeheizte höfische Schlafgemächer des achtzehnten Jahrhunderts zu projizieren.
"Auf den Porträts, die es von ihnen gibt, haben sie alle sehr große Augen", schreibt Enquist im Eingangskapitel über seine Hauptfiguren, um sogleich hinzuzufügen: "Weil die Augen als Spiegel der Seele galten, wurden sie sehr groß gemalt." Das Deuten der Augen aber, heißt es weiter, sei "Sache des Betrachters". Hier wird lakonisch ein Programm verkündet: Der Autor wahrt Distanz zur Überlieferung, er bezieht sein modernes Wissen mit ein, er scheut nicht den erklärenden Zeigefinger, und er nimmt sich die Freiheit einer eigenen Lesart. Das betrifft die Bildnisse ebenso wie die zeitgenössischen Berichte und Kommentare, die in den Erzählfluß so eingearbeitet sind, daß eine eigenwillige Mischung aus Dokumentation, Fiktion und Interpretation entsteht, organisiert wiederum unter dem Aspekt der Bühnenwirksamkeit, eine Art episches Theater in Romanform. Daß dieses analytische Verfahren ein lebensvolles Stück Literatur hervorbringt, ist dem warmen Interesse Enquists an seinen Figuren zu verdanken, der hellsichtigen, aber auch wagemutigen Empathie, mit der er über die Zeitkluft hinweg ihren Antrieben und Gemütsbewegungen nachspürt.
So wie Schiller wußte, daß der Bösewicht im Drama für Autor und Zuschauer mindestens so anregend und anziehend ist wie die Lichtgestalt, so widmet Enquist dem Schurken im Spiel kaum weniger Aufmerksamkeit als dem Helden. Die Geschichte des Altonaer Mediziners Johann Friedrich Struensee, der vom Leibarzt des dänischen Königs Christian VII. zum Geheimen Kabinettsminister aufstieg, mit der Gemahlin des psychisch labilen Monarchen eine Liebesbeziehung unterhielt, unter beider Protektion zahlreiche Reformen durchsetzte und nach einem vier Jahre währenden, leisen und hartnäckigen Kampf um die Herrschaft von Vernunft und Humanität auf dem Schafott endete, beginnt mit dem Auftritt seines siegreichen Kontrahenten, des Höflings und späteren "Staatsministers" Ove Hoegh-Guldberg. Ihm, dem Sohn eines Leichenbestatters, fällt im epochalen Streit der Weltanschauungen der Part des Reaktionärs zu, und es hat dem Aufklärungs-Enthusiasten Enquist sichtliches Vergnügen bereitet, diesem finsteren Fortschrittsverhinderer alle Symptome der Lustfeindlichkeit und des religiösen Wahns auf den Leib zu schreiben, den kleinwüchsigen Ränkeschmied als Gegenbild zum sinnenfrohen Salonrevolutionär Struensee zu konturieren, der gleichwohl den Makel der niedrigen Herkunft und die Energie des Emporkömmlings mit ihm teilt.
Zwischen ausgeprägt männlicher Phantasie und fast schon femininem Einfühlungsvermögen changiert Enquists Porträt der englischen Prinzessin Caroline Mathilde, die als fünfzehnjährige Unschuld dem drei Jahre älteren Dänenkönig als Gattin zugeführt wird, an der Kälte der Zwangsehe verzweifelt und in der leidenschaftlichen Begegnung mit dem Leibarzt an Körper und Seele zum Vollweib reift. Der kultivierte Voyeurismus des schwedischen Erzählers imaginiert lauter ideale Situationen für die Liebe in den Zeiten der Aufklärung: Ausritte und Waldspaziergänge, freier Gedankenaustausch am Busen der Natur, gemeinsame Holberg-Lektüre in der Hütte, die ein holsteinischer Graf in Erwartung des Besuches von Rousseau erbauen ließ, endlich physisch-geistige Verschmelzung in dem Bett, "in dem der französische Philosoph hätte liegen sollen, aber nie gelegen hatte". Mag auch das Kapitel, in dem die verhängnisvolle Affäre sich anbahnt, mit der Überschrift "Der Reitlehrer" an die skandalösen Amouren einer populären englischen Prinzessin des zwanzigsten Jahrhunderts erinnern: Hier wird auf ungleich höherem Niveau gesündigt.
Die anrührendste und zugleich rätselhafteste Gestalt auf Enquists Romanbühne ist König Christian, dieser reinkarnierte und inthronisierte Prinz Hamlet, der die Liaison zwischen Struensee und Caroline Mathilde duldet, ja begünstigt, weil sie eine Bürde von seinen fragilen Schultern nimmt. Er, der Narr seines eigenen Hofes, seit früher Kindheit dazu abgerichtet, die Rolle des absolutistischen Herrschers als Marionette von Beratern und Drahtziehern zu verkörpern, "erlebt seine Wirklichkeit als Theaterstück", wie der Leibarzt im schön erdachten Gespräch mit dem englischen Schauspieler Garrick bemerkt. Ob der begabte junge Monarch, der mit Voltaire korrespondierte und der "Machtübernahme" des Reformers aus Altona halb blind, halb sehend den Weg ebnete, tatsächlich geisteskrank war oder nur ein hypersensibler Grenzgänger, hat Per Olov Enquist nicht entschieden: Seine Darstellung gleicht einem Vexierbild, das beide Möglichkeiten offenläßt.
Was den Titelhelden angeht, so ist die Entscheidung des Autors eindeutig ausgefallen. Aus den verfügbaren Mitteilungen und Mutmaßungen über die Persönlichkeit des glücklosen Politikers Johann Friedrich Struensee hat er eine Porträtstudie gefiltert, die ein hohes Maß an Identifikation verrät. Der deutsche Leibarzt, dessen vierjähriger "Besuch" die Faulstellen im Staate Dänemark zwar nicht dauerhaft beseitigte, doch den Virus der Aufklärung in den maroden Korpus des kleinen Königreichs setzte, trägt trotz der absichtsvoll ins Spiel gebrachten Schwächen und Ambivalenzen seines Charakters alle Züge eines Moralisten und Philanthropen, Genießers und Ästheten, mit dem Enquist sich seelenverwandt fühlen muß. Und so ist auch die Schwermut, die den Scheiternden heimsucht, noch bevor die Guldberg-Fraktion ihm das Handwerk legt, die Melancholie des Schriftstellers, für den die Frage nach den Chancen der menschlichen Vernunft unbeantwortet und die intellektuelle Kontroverse des vorrevolutionären Europa ungelöst geblieben ist.
Die kunstvoll-zwanglos hergestellte Gegenwartsnähe macht Enquists Werk zum Glücksfall eines historischen Romans. Dennoch sei bei dieser Gelegenheit an einen vergessenen Vorläufer erinnert, der unbedingt einen zweiten Blick verdient: Robert Neumanns "Struensee"-Roman, 1935 im holländischen Exil geschrieben und 1953 unter dem Titel "Der Favorit der Königin" in Deutschland erschienen, kann auf das von Enquist entfaltete Geschichtspanorama überraschende Reflexe werfen und wird umgekehrt von ihm neu beleuchtet - auch eine Variante des Satzes "Habent sua fata libelli".
KRISTINA MAIDT-ZINKE
Per Olov Enquist: "Der Besuch des Leibarztes". Roman. Aus dem Schwedischen übersetzt von Wolfgang Butt. Carl Hanser Verlag, München 2001. 376 S., geb., 42,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Mit großer Genauigkeit, einfühlender Intensität und bitterer Leichtigkeit vergegenwärtigt Per Olov Enquist das historische Geschehen in all seinen Widersprüchen, bei offensichtlicher detaillierter Kenntnis aller überlieferten Dokumente und Stellungnahmen ... ein einzigartiges Werk ..." Heinrich Vormweg, Süddeutsche Zeitung, 10./11.2.01
"Aufs Essenzielle reduziert erscheint das epische Moment, die Figuren sind konsequent modern gehalten, die Szenen setzen in Dialog und Handlungsführung ein Glanzlicht nach dem andern. Jede einzelne Nebenfigur ist ein Wurf." Andreas Breitenstein, Neue Zürcher Zeitung, 01.03.01
"Bewundernswert, mit welcher Ruhe Enquist die Fantasieräume seines konfusen Personals durchschreitet, wie leicht er seine geschichtsphilosophischen Überlegungen auszubreiten versteht und beides in feinster Balance hält." Klaus Siblewski, Die Welt, 17.2.01
"Ein einzigartiges Buch, das die Gattungsgrenzen des historischen Romans kühn überfliegt. ... atemberaubend spannend ... ein ungemein frivoler erotischer Roman. Mit so viel Fingerspitzengefühl hat kaum ein Autor zuvor von verbotener Liebe erzählt. ... Der Besuch des Leibarztes liest sich wie großes Kino, im Ohr der Klang einer großen Oper. Hajo Steinert, focus, 15/2001
"Ein Ereignis." Lothar Müller, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.2.01
"Der Stoff hat die Literatur seit Hebbel immer wieder beschäftigt, aber Enquist erzählt besser als alle Vorgänger." Stephan Opitz, Literaturen, 03.04.01
"Enquist erzählt mit der Distanz eines Berichterstatters. Dabei passiert etwas Wunderbares: Aus der Sachlichkeit entsteht ein leidenschaftlicher Roman über Macht und Politik ... Ein Buch, das man nicht aus der Hand legen möchte." Max Eipp, Stern, 01.03.01"Der "Besuch des Leibarztes" gehört sicher zu den aufregendsten und kühnsten Neuerscheinungen dieser Saison. (...) Man staunt, wie sicher Reflexion und Dichtung ineinandergreifen, wie sich Essayistisches mit einer subversiven Poesie verbündet. Der Roman öffnet Türen und entläßt die Leser in weitläufige, geheimnisvolle Räume." Susanne Schaber, Die Presse, 10.2.01
"In großartigen intimen Arrangements, in ungemein dichten lakonischen Dialogen, in vor Spannung vibrierenden kammerspielartigen Szenen und inneren Monologen thematisiert Enquist die Illusion der Aufklärung als einer 'stillen und sehr schönen Morgendämmerung'" Walter Schübler, Falter Nr. 12/01
"Enquist brilliert mit gemeißelten Dialogen und scharf konturierten Charakteren." Barbara Basting, Tages-Anzeiger, 10.3.01
"Ein meisterhaftes Geschichtspanorama. Ein großes Buch, ein mächtiges Buch, souverän und selbstbewusst überragt es die landläufige Produktion der Belletristen... einen Meilenstein zu setzen in die Literaturgeschichte." Reinhard Baumgart, Die Zeit, 01.03.01
"Nicht zum ersten Mal reibt man sich nach einer Enquist-Lektüre die Augen und wundert sich über das Stockholmer Nobelpreiskomitee." Reinhard Baumgart, Die Zeit, 01.03.01
"Aufs Essenzielle reduziert erscheint das epische Moment, die Figuren sind konsequent modern gehalten, die Szenen setzen in Dialog und Handlungsführung ein Glanzlicht nach dem andern. Jede einzelne Nebenfigur ist ein Wurf." Andreas Breitenstein, Neue Zürcher Zeitung, 01.03.01
"Bewundernswert, mit welcher Ruhe Enquist die Fantasieräume seines konfusen Personals durchschreitet, wie leicht er seine geschichtsphilosophischen Überlegungen auszubreiten versteht und beides in feinster Balance hält." Klaus Siblewski, Die Welt, 17.2.01
"Ein einzigartiges Buch, das die Gattungsgrenzen des historischen Romans kühn überfliegt. ... atemberaubend spannend ... ein ungemein frivoler erotischer Roman. Mit so viel Fingerspitzengefühl hat kaum ein Autor zuvor von verbotener Liebe erzählt. ... Der Besuch des Leibarztes liest sich wie großes Kino, im Ohr der Klang einer großen Oper. Hajo Steinert, focus, 15/2001
"Ein Ereignis." Lothar Müller, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.2.01
"Der Stoff hat die Literatur seit Hebbel immer wieder beschäftigt, aber Enquist erzählt besser als alle Vorgänger." Stephan Opitz, Literaturen, 03.04.01
"Enquist erzählt mit der Distanz eines Berichterstatters. Dabei passiert etwas Wunderbares: Aus der Sachlichkeit entsteht ein leidenschaftlicher Roman über Macht und Politik ... Ein Buch, das man nicht aus der Hand legen möchte." Max Eipp, Stern, 01.03.01"Der "Besuch des Leibarztes" gehört sicher zu den aufregendsten und kühnsten Neuerscheinungen dieser Saison. (...) Man staunt, wie sicher Reflexion und Dichtung ineinandergreifen, wie sich Essayistisches mit einer subversiven Poesie verbündet. Der Roman öffnet Türen und entläßt die Leser in weitläufige, geheimnisvolle Räume." Susanne Schaber, Die Presse, 10.2.01
"In großartigen intimen Arrangements, in ungemein dichten lakonischen Dialogen, in vor Spannung vibrierenden kammerspielartigen Szenen und inneren Monologen thematisiert Enquist die Illusion der Aufklärung als einer 'stillen und sehr schönen Morgendämmerung'" Walter Schübler, Falter Nr. 12/01
"Enquist brilliert mit gemeißelten Dialogen und scharf konturierten Charakteren." Barbara Basting, Tages-Anzeiger, 10.3.01
"Ein meisterhaftes Geschichtspanorama. Ein großes Buch, ein mächtiges Buch, souverän und selbstbewusst überragt es die landläufige Produktion der Belletristen... einen Meilenstein zu setzen in die Literaturgeschichte." Reinhard Baumgart, Die Zeit, 01.03.01
"Nicht zum ersten Mal reibt man sich nach einer Enquist-Lektüre die Augen und wundert sich über das Stockholmer Nobelpreiskomitee." Reinhard Baumgart, Die Zeit, 01.03.01