Das Zentralmassiv mit dem Pico de Almanzor bildet eine bis in den Frühling hinein verschneite, fast zweihundert Gratkilometer lange Gipfelflur. Dorthin macht sich die Bankfrau aus einer nordwestlichen Flußhafenstadt auf den Weg. Sie will diese Bergkette durchqueren und dort in dem Manchadorf den Autor treffen, mit dem sie einen klassischen Lieferantenvertrag abgeschlossen hat: Sie, die mächtige Strippenzieherin mit den verschiedenen Namen, die nach einem tödlichen Verkehrsunfall der Eltern bei ihren Großeltern in einem wendischen Dorf aufwuchs, dann viel herumreiste und gar einmal als Starschauspielerin in einem berühmten Film mitspielte, bezahlt den Autor und kümmert sich um seine Geldgeschäfte; und er erzählt im Gegenzug ihre Geschichte nach vorgegebenen Regeln. Abschweifungen sind erlaubt, und als einziger Maßstab gilt: »mich erzählt werden spüren.«
Wir erfahren von den Begegnungen der wundersamen Abenteurerin mit den Menschen in der Sierra, vom Busfahrer und seinem Sohn, vom wandernden Steinmetz, dem Maultrommelspieler, vom Stadtrandidioten und nicht zuletzt vom Bruder, der lange im Gefängnis gesessen hat, und der Tochter, die verschwunden ist und doch immer wieder ganz anwesend in der Erinnerung und Sehnsucht. Vergangenheit und Zukunft, Jetztzeit und geträumte Zeit fließen ineinander in eine von den Bildern erhöhte Gegenwart. Peter Handke hat ein großes Sehnsuchtsbuch, ein Menschenbuch geschrieben.
Wir erfahren von den Begegnungen der wundersamen Abenteurerin mit den Menschen in der Sierra, vom Busfahrer und seinem Sohn, vom wandernden Steinmetz, dem Maultrommelspieler, vom Stadtrandidioten und nicht zuletzt vom Bruder, der lange im Gefängnis gesessen hat, und der Tochter, die verschwunden ist und doch immer wieder ganz anwesend in der Erinnerung und Sehnsucht. Vergangenheit und Zukunft, Jetztzeit und geträumte Zeit fließen ineinander in eine von den Bildern erhöhte Gegenwart. Peter Handke hat ein großes Sehnsuchtsbuch, ein Menschenbuch geschrieben.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.01.2002Auf Erweckungsfahrt
Peter Handkes schöne Pilgerin im Kampf gegen den Bildverlust
Peter Handke ist zum Albtraum der Reiseveranstalter geworden. Denn in seinen Romanen gerät jede Reise zur Pilgerfahrt, jede Pilgerfahrt zum Abenteuertrip und jeder Abenteuertrip zum Bildungsurlaub. Alle Handkeschen Entdeckungs- und Erweckungsreisen führen ans Ende unserer Welt und in das Herz einer anderen, einer besseren Welt, der Anders- oder Handke-Welt, in der man nicht reist, sondern ziellos-zielgerichtet unterwegs ist, dem Flug eines Birkenblatts und der inneren Stimme folgend. In dieser Welt kann man sich nicht verlaufen, gilt doch jeder Irrweg in ihr als Abkürzung. Je weniger einer sich hier zurechtfindet, desto näher seinem Ziel darf er sich wähnen. Wie jeder Vergnügungspark ist auch die Handke-Welt auf einer überschaubaren Grundfläche errichtet, aber derart raffiniert, daß der Eindruck einer unüberschaubaren, gigantischen Ausdehnung entsteht. Das geht nicht ohne gehörigen Aufwand ab. Und so umfaßt der neueste Anbau 759 Seiten, von denen knapp fünfhundert auf der Stelle treten. Sein Titel: "Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos".
Fast achthundert Seiten, die nicht durcheilt, sondern durchwandelt sein wollen, und in denen eine ganz eigene Zeitrechnung Gültigkeit beansprucht. Stunden, Tage und Sekunden sind in diesem Buch meistens "störende, unnötig entzaubernde Einheiten", störend in einer Welt, die nach Verzauberung verlangt, weil sie an ihrer Entzauberung leidet. Es ist erkennbar unsere Gegenwart, die Handke hier zeichnet und deren gegenwärtige Entwicklungen er zuspitzt und in die Zukunft verlängert: Die Globalisierung hat zum Ende der Nationalstaaten geführt, eine Art Weltregierung ist etabliert und an die Stelle des Nationalismus das Bekenntnis zur Region getreten. Dieser profanen Gesellschaft droht, von den meisten ihrer Mitglieder unbemerkt, die Katastrophe des "Bildverlusts". Darunter versteht Handke das Ausbleiben von "Bilderfunken und Funkenbildern", die unwillkürlich ins Bewußtsein treten, eher Eingebungen als Erinnerungen: "Wohl gehörte das jeweilige Bildobjekt zu eines jeden persönlichen Welt. Aber das Bild, als Bild, war universell. Es ging über ihn, sie, es hinaus. Kraft des offenen und öffnenden Bildes gehörten die Leute zusammen. Und die Bilder waren zwanglos, anders als jede Religion oder irdische Heilslehre."
Diese Bilder, die sich weder steuern noch gar festhalten lassen, sind die Grundlage des "Bilderglaubens" und der auf reiner Anschauung gegründeten Gemeinschaft der Bildmächtigen, wie man jene nennen könnte, denen die Gnade des Bildersehens zuteil wurde. Und wie jeder Glaube hat auch dieser eine Prophetin. Es ist eine alleinlebende Finanzexpertin, die "Bankenfrau", eine international bekannte "Finanzweltmeisterin", Mutter einer verschollenen Tochter, Geliebte eines abwesenden Liebhabers, Abenteurerin und Weltreisende, schließlich Auftraggeberin des Buches, das ein "Autor", der Erzähler, nach ihren Wünschen schreibt. Sie ist Handkes schöne Erwählte, eine sendungsbewußte weiße Magierin, wie die Kräfte des Guten stark und schwach zugleich. Die Bilder "erhöhen" ihren Tag und "bekräftigen" die Gegenwart, sie machen die bildgläubige Finanzfrau unangreifbar und wehrhaft, eine Herrscherin unter den Menschen, im Bunde mit den Tieren: "Vor allem die scheuesten Tiere erkannten (ja, ,erkannten'), wenn jemand ,im Bild', ganz im Bild, ganz bei sich im Bild war. Vor so einem verloren sie nicht bloß ihre Scheu. Sie bezogen ihn, wenn auch nur für den Augenblick, doch was für einen!, ein in ihr Dasein. Nicht nur, daß sie keine Angst mehr vor ihm hatten: sie wollten ihm, ein jedes auf seine Weise, gut."
In diesen Sätzen hat man den Handke-Ton: das Nebeneinander von gesucht-pathetischen Ausdrücken und Floskeln, von mündlichem Tonfall und Kanzleistil, von mit traumwandlerischer Sicherheit glückenden Formulierungen und tastenden, suchenden, ans Stammeln grenzende Sätzen. Neben die häufigen Wiederholungs- und Bekräftigungsformeln treten im Verlauf des Romans zunehmend Signale der Mehrdeutigkeit, des Unbestimmten. Immer wieder wird der Satzfluß unterbrochen von Bekräftigungen, Präzisierungen, Nachfragen. So entsteht ein Erzählgestus der allernervösesten Bedächtigkeit, exakt und vage, selbstgewiß und tastend, kunstvoll, respektheischend und unendlich nervtötend.
Er taucht das Buch in ein Zwielicht, das nur ab und an von Sätzen aufgerissen wird, in denen Naturphänomene beschrieben werden, wie nur Handke sie beschreiben kann: "Aus dem dichtverflochtenen, frostverkrümmten und verzahnten Efeulaub über der Mauer am Ende des Gartens schnellten und spritzten im Bogen die kleinen, braunschwarzen, blaubehauchten Fruchtkugeln, jetzt zum Winteranfang reif geworden, und sie hörte im Innern der Hecke ein Picken, Schnäbeln und Schmatzen."
Doch Sätze wie dieser, mit dem eines der "Bilder" der Heldin beschrieben wird, bleiben die Ausnahme. Weit häufiger sind Zuckerwatte-Sentenzen und klebrig-kitschige Passagen wie die vom aus dem Winterschlaf aufgewachten Igeljungen, das durch den Garten trippelt, die Heldin mit seinem "gummiharten, ziemlich kalten schwärzlichen Rüssel" anstupst und spricht: "Geh nicht fort. Der Garten ist so öde ohne dich. Ich möchte im Schlaf deine Schritte hören." Daß das Jungtier, eine "Waise, allein", seinen Winterschlaf nur für diese Mitteilung unterbricht, versteht sich von selbst, wird aber dennoch hingeschrieben.
Wer für Pretiosen und Naschwaren dieser Art nicht empfänglich ist, muß leiden. Es bleibt ihm wenig erspart, denn Handke, dieser reizbarste unter den Friedfertigen, zielt in seinem neuen Buch wiederum auf Großes. Die Ausdehnung des erfüllten, des glückhaften Augenblicks, das ist Handkes Projekt seit langem. Nun postuliert er mehr: "das größere Jetzt" möge herrschen und "bestimmend sein". Hinter der kryptischen Bezeichnung verbirgt sich die Gegenwart, "nur eben mit dem Zusatz anderer Zeiten; die Gegenwart, wie sie immer gewesen war". Der Heldin erscheint jenes überzeitliche "ganz-Jetzt" als Park und Garten und schließlich als Gehege: "das Gehege der größeren Zeit".
In diesem Luna-Park könnten Mensch und Tier in kreatürlicher Unschuld leben, und alle wären allen so gut wie der Igel der Bankenfrau - die Gegenwart als Goldenes Zeitalter. Aber Handkes rückwärtsgewandte Utopie handelt vom Verlust, und die Reise, die dieser Roman erzählt, wird unternommen nicht etwa, um den Verlust abzuwenden, sondern um ihn spürbar werden zu lassen.
In der "Hochgrube" Hondareda, der Senke eines weitgehend ausgetrockneten Gebirgssees in der spanischen Sierra de Gredos westlich von Madrid, ist diese Reise an ihr vorläufiges Ziel gelangt. Hier leben die "Umwandler", die letzten Menschen, die sich dem Bildverlust entgegenstemmen. Eine Fluchtburg im Gebirge, die dem Untergang geweiht ist, denn die profane Gegenwart läßt sich nicht ausgrenzen. Der Aufenthalt in Hondareda ist die letzte einer Reihe von Stationen einer Aventiure, die in einer deutschen "Hafenstadt" ihren Anfang nimmt. Hier wohnt die Bankfrau und Pilgerin, hier beauftragt sie den "Autor", ihre Geschichte niederzuschreiben und zu erzählen. Wie andere in die Geschichte eingehen, so will sie "eingehen in die ,Erzählung'". So wird ein "Lieferantenvertrag" geschlossen, ein Dienstleistungsverhältnis begründet. Die Auftraggeberin berichtet und erteilt Anweisungen, der Autor stellt Fragen, hakt nach. Jedes Detail ist Verhandlungssache: ",Der Autor: ,Soll und darf das in das Buch?' - Sie: ,Ja.'"
Dieser Erzählrahmen erinnert ebenso wie der Ort der Handlung, die karge Steppenlandschaft der spanischen Sierra, und manches andere Detail an Handkes letzten, 1997 erschienenen Roman "In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus." Wieder gibt es zwei Erzählinstanzen: Damals den Apotheker von Taxham und seinen "Aufschreiber", heute die "Bankenfrau" und "Finanzweltmeisterin" und ihren Autor, den "Lieferanten". Handke bedient sich dieser Zweiteilung, weil sie ihm erlaubt, das Nebeneinander von Mündlichkeit und Schriftlichkeit zu simulieren.
Im tonlosen Selbstgespräch des Erzählers vermutete der Apotheker den Urgrund der Literatur, dem "Autor" im neuen Buch gilt die Mündlichkeit als "der Grund- oder eher Untergrundzug", zudem als "Gegenprobe". Ging es vor vier Jahren um die Mündlichkeit als Quelle des Erzählens, so geht der neue Roman gleichsam einen Schritt zurück: in vorschriftliche, ja beinahe vorsprachliche Gefilde. Der Bildverlust, von dem der Titel spricht, kündet von der für Handke größtmöglichen Bedrohung: "Der Verlust der Bilder ist der schmerzlichste der Verluste." - "Es bedeutet den Weltverlust." Seine Ursache liegt im "Raubbau an den Bildergründen und -schichten", den das bilderwütige zwanzigste Jahrhundert getrieben haben soll. Der "Naturschatz", so sind sich Autor und Abenteurerin am Ende einig, sei aufgebraucht, man zapple als Anhängsel an den "gemachten, serienmäßig fabrizierten, künstlichen Bildern, welche die mit dem Bildverlust verlorenen Wirklichkeiten ersetzen, sie vortäuschen".
So banal, auf dem Niveau der alltäglichen Medienkritik, endet der neue Roman von Peter Handke. Aber noch ist das Buch nicht ganz zu Ende. Noch steht die nächtliche Vereinigung zweier Liebender bevor ("man war füreinander bereit. Zucken der Lippen."), noch fehlt die Umarmung von Autor und Prophetin und das Heilsversprechen. Die Bilder sind verloren, aber man kann noch nach ihnen suchen: "Ein Suchen gab es, wobei das Gesuchte schon gefunden schien, weit wirklicher und wirksamer, als wäre es wirklich gefunden worden. Und so ein Suchen war das Suchen für jemand anderen und für andere." Ein Suchender erlöst also den anderen? Ja, das ist die Kettenreaktion des Kitsches.
Peter Handke: "Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos". Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 759 S., geb., 29,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Peter Handkes schöne Pilgerin im Kampf gegen den Bildverlust
Peter Handke ist zum Albtraum der Reiseveranstalter geworden. Denn in seinen Romanen gerät jede Reise zur Pilgerfahrt, jede Pilgerfahrt zum Abenteuertrip und jeder Abenteuertrip zum Bildungsurlaub. Alle Handkeschen Entdeckungs- und Erweckungsreisen führen ans Ende unserer Welt und in das Herz einer anderen, einer besseren Welt, der Anders- oder Handke-Welt, in der man nicht reist, sondern ziellos-zielgerichtet unterwegs ist, dem Flug eines Birkenblatts und der inneren Stimme folgend. In dieser Welt kann man sich nicht verlaufen, gilt doch jeder Irrweg in ihr als Abkürzung. Je weniger einer sich hier zurechtfindet, desto näher seinem Ziel darf er sich wähnen. Wie jeder Vergnügungspark ist auch die Handke-Welt auf einer überschaubaren Grundfläche errichtet, aber derart raffiniert, daß der Eindruck einer unüberschaubaren, gigantischen Ausdehnung entsteht. Das geht nicht ohne gehörigen Aufwand ab. Und so umfaßt der neueste Anbau 759 Seiten, von denen knapp fünfhundert auf der Stelle treten. Sein Titel: "Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos".
Fast achthundert Seiten, die nicht durcheilt, sondern durchwandelt sein wollen, und in denen eine ganz eigene Zeitrechnung Gültigkeit beansprucht. Stunden, Tage und Sekunden sind in diesem Buch meistens "störende, unnötig entzaubernde Einheiten", störend in einer Welt, die nach Verzauberung verlangt, weil sie an ihrer Entzauberung leidet. Es ist erkennbar unsere Gegenwart, die Handke hier zeichnet und deren gegenwärtige Entwicklungen er zuspitzt und in die Zukunft verlängert: Die Globalisierung hat zum Ende der Nationalstaaten geführt, eine Art Weltregierung ist etabliert und an die Stelle des Nationalismus das Bekenntnis zur Region getreten. Dieser profanen Gesellschaft droht, von den meisten ihrer Mitglieder unbemerkt, die Katastrophe des "Bildverlusts". Darunter versteht Handke das Ausbleiben von "Bilderfunken und Funkenbildern", die unwillkürlich ins Bewußtsein treten, eher Eingebungen als Erinnerungen: "Wohl gehörte das jeweilige Bildobjekt zu eines jeden persönlichen Welt. Aber das Bild, als Bild, war universell. Es ging über ihn, sie, es hinaus. Kraft des offenen und öffnenden Bildes gehörten die Leute zusammen. Und die Bilder waren zwanglos, anders als jede Religion oder irdische Heilslehre."
Diese Bilder, die sich weder steuern noch gar festhalten lassen, sind die Grundlage des "Bilderglaubens" und der auf reiner Anschauung gegründeten Gemeinschaft der Bildmächtigen, wie man jene nennen könnte, denen die Gnade des Bildersehens zuteil wurde. Und wie jeder Glaube hat auch dieser eine Prophetin. Es ist eine alleinlebende Finanzexpertin, die "Bankenfrau", eine international bekannte "Finanzweltmeisterin", Mutter einer verschollenen Tochter, Geliebte eines abwesenden Liebhabers, Abenteurerin und Weltreisende, schließlich Auftraggeberin des Buches, das ein "Autor", der Erzähler, nach ihren Wünschen schreibt. Sie ist Handkes schöne Erwählte, eine sendungsbewußte weiße Magierin, wie die Kräfte des Guten stark und schwach zugleich. Die Bilder "erhöhen" ihren Tag und "bekräftigen" die Gegenwart, sie machen die bildgläubige Finanzfrau unangreifbar und wehrhaft, eine Herrscherin unter den Menschen, im Bunde mit den Tieren: "Vor allem die scheuesten Tiere erkannten (ja, ,erkannten'), wenn jemand ,im Bild', ganz im Bild, ganz bei sich im Bild war. Vor so einem verloren sie nicht bloß ihre Scheu. Sie bezogen ihn, wenn auch nur für den Augenblick, doch was für einen!, ein in ihr Dasein. Nicht nur, daß sie keine Angst mehr vor ihm hatten: sie wollten ihm, ein jedes auf seine Weise, gut."
In diesen Sätzen hat man den Handke-Ton: das Nebeneinander von gesucht-pathetischen Ausdrücken und Floskeln, von mündlichem Tonfall und Kanzleistil, von mit traumwandlerischer Sicherheit glückenden Formulierungen und tastenden, suchenden, ans Stammeln grenzende Sätzen. Neben die häufigen Wiederholungs- und Bekräftigungsformeln treten im Verlauf des Romans zunehmend Signale der Mehrdeutigkeit, des Unbestimmten. Immer wieder wird der Satzfluß unterbrochen von Bekräftigungen, Präzisierungen, Nachfragen. So entsteht ein Erzählgestus der allernervösesten Bedächtigkeit, exakt und vage, selbstgewiß und tastend, kunstvoll, respektheischend und unendlich nervtötend.
Er taucht das Buch in ein Zwielicht, das nur ab und an von Sätzen aufgerissen wird, in denen Naturphänomene beschrieben werden, wie nur Handke sie beschreiben kann: "Aus dem dichtverflochtenen, frostverkrümmten und verzahnten Efeulaub über der Mauer am Ende des Gartens schnellten und spritzten im Bogen die kleinen, braunschwarzen, blaubehauchten Fruchtkugeln, jetzt zum Winteranfang reif geworden, und sie hörte im Innern der Hecke ein Picken, Schnäbeln und Schmatzen."
Doch Sätze wie dieser, mit dem eines der "Bilder" der Heldin beschrieben wird, bleiben die Ausnahme. Weit häufiger sind Zuckerwatte-Sentenzen und klebrig-kitschige Passagen wie die vom aus dem Winterschlaf aufgewachten Igeljungen, das durch den Garten trippelt, die Heldin mit seinem "gummiharten, ziemlich kalten schwärzlichen Rüssel" anstupst und spricht: "Geh nicht fort. Der Garten ist so öde ohne dich. Ich möchte im Schlaf deine Schritte hören." Daß das Jungtier, eine "Waise, allein", seinen Winterschlaf nur für diese Mitteilung unterbricht, versteht sich von selbst, wird aber dennoch hingeschrieben.
Wer für Pretiosen und Naschwaren dieser Art nicht empfänglich ist, muß leiden. Es bleibt ihm wenig erspart, denn Handke, dieser reizbarste unter den Friedfertigen, zielt in seinem neuen Buch wiederum auf Großes. Die Ausdehnung des erfüllten, des glückhaften Augenblicks, das ist Handkes Projekt seit langem. Nun postuliert er mehr: "das größere Jetzt" möge herrschen und "bestimmend sein". Hinter der kryptischen Bezeichnung verbirgt sich die Gegenwart, "nur eben mit dem Zusatz anderer Zeiten; die Gegenwart, wie sie immer gewesen war". Der Heldin erscheint jenes überzeitliche "ganz-Jetzt" als Park und Garten und schließlich als Gehege: "das Gehege der größeren Zeit".
In diesem Luna-Park könnten Mensch und Tier in kreatürlicher Unschuld leben, und alle wären allen so gut wie der Igel der Bankenfrau - die Gegenwart als Goldenes Zeitalter. Aber Handkes rückwärtsgewandte Utopie handelt vom Verlust, und die Reise, die dieser Roman erzählt, wird unternommen nicht etwa, um den Verlust abzuwenden, sondern um ihn spürbar werden zu lassen.
In der "Hochgrube" Hondareda, der Senke eines weitgehend ausgetrockneten Gebirgssees in der spanischen Sierra de Gredos westlich von Madrid, ist diese Reise an ihr vorläufiges Ziel gelangt. Hier leben die "Umwandler", die letzten Menschen, die sich dem Bildverlust entgegenstemmen. Eine Fluchtburg im Gebirge, die dem Untergang geweiht ist, denn die profane Gegenwart läßt sich nicht ausgrenzen. Der Aufenthalt in Hondareda ist die letzte einer Reihe von Stationen einer Aventiure, die in einer deutschen "Hafenstadt" ihren Anfang nimmt. Hier wohnt die Bankfrau und Pilgerin, hier beauftragt sie den "Autor", ihre Geschichte niederzuschreiben und zu erzählen. Wie andere in die Geschichte eingehen, so will sie "eingehen in die ,Erzählung'". So wird ein "Lieferantenvertrag" geschlossen, ein Dienstleistungsverhältnis begründet. Die Auftraggeberin berichtet und erteilt Anweisungen, der Autor stellt Fragen, hakt nach. Jedes Detail ist Verhandlungssache: ",Der Autor: ,Soll und darf das in das Buch?' - Sie: ,Ja.'"
Dieser Erzählrahmen erinnert ebenso wie der Ort der Handlung, die karge Steppenlandschaft der spanischen Sierra, und manches andere Detail an Handkes letzten, 1997 erschienenen Roman "In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus." Wieder gibt es zwei Erzählinstanzen: Damals den Apotheker von Taxham und seinen "Aufschreiber", heute die "Bankenfrau" und "Finanzweltmeisterin" und ihren Autor, den "Lieferanten". Handke bedient sich dieser Zweiteilung, weil sie ihm erlaubt, das Nebeneinander von Mündlichkeit und Schriftlichkeit zu simulieren.
Im tonlosen Selbstgespräch des Erzählers vermutete der Apotheker den Urgrund der Literatur, dem "Autor" im neuen Buch gilt die Mündlichkeit als "der Grund- oder eher Untergrundzug", zudem als "Gegenprobe". Ging es vor vier Jahren um die Mündlichkeit als Quelle des Erzählens, so geht der neue Roman gleichsam einen Schritt zurück: in vorschriftliche, ja beinahe vorsprachliche Gefilde. Der Bildverlust, von dem der Titel spricht, kündet von der für Handke größtmöglichen Bedrohung: "Der Verlust der Bilder ist der schmerzlichste der Verluste." - "Es bedeutet den Weltverlust." Seine Ursache liegt im "Raubbau an den Bildergründen und -schichten", den das bilderwütige zwanzigste Jahrhundert getrieben haben soll. Der "Naturschatz", so sind sich Autor und Abenteurerin am Ende einig, sei aufgebraucht, man zapple als Anhängsel an den "gemachten, serienmäßig fabrizierten, künstlichen Bildern, welche die mit dem Bildverlust verlorenen Wirklichkeiten ersetzen, sie vortäuschen".
So banal, auf dem Niveau der alltäglichen Medienkritik, endet der neue Roman von Peter Handke. Aber noch ist das Buch nicht ganz zu Ende. Noch steht die nächtliche Vereinigung zweier Liebender bevor ("man war füreinander bereit. Zucken der Lippen."), noch fehlt die Umarmung von Autor und Prophetin und das Heilsversprechen. Die Bilder sind verloren, aber man kann noch nach ihnen suchen: "Ein Suchen gab es, wobei das Gesuchte schon gefunden schien, weit wirklicher und wirksamer, als wäre es wirklich gefunden worden. Und so ein Suchen war das Suchen für jemand anderen und für andere." Ein Suchender erlöst also den anderen? Ja, das ist die Kettenreaktion des Kitsches.
Peter Handke: "Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos". Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 759 S., geb., 29,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.01.2002Der Marquis von Prosa
Plädoyer für die Erfindung der Gegenwart: Peter Handkes neuer Roman „Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos” ist da
Die Stadt Granada war erst gut hundert Jahre wieder in spanischem Besitz, die „Reconquista”, die Rückeroberung der iberischen Halbinsel von den Mauren erst seit drei Generationen abgeschlossen, da veröffentlichte Miguel de Cervantes das Buch von „Don Quijote” – ein komisches Buch über Ritter und Knappen, aber vor allem ein Roman über andere Romane, eine Abrechnung nicht nur mit den Windmühlen der Ritterromane, sondern auch mit den Wetterfähnchen der Schelmendichtung und der Schäferpoesie. Miguel de Cervantes war ein Meister im Abreißen von Traumgebilden. Doch wenn sein Buch heute noch lebt – und wie es noch lebt, in allen Teilen der Welt! –, dann hat er es nicht seiner prosaischen Absicht, sondern dem bunten, wirren, betörenden Glanz von Traumschlössern zu verdanken.
Vierhundert Jahre nach Miguel de Cervantes schreibt Peter Handke ein Buch, das Miguel de Cervantes und Don Quijote in sich aufnimmt wie Weggefährten. „Der Bildverlust” (Suhrkamp Verlag, 760 Seiten, 29, 90 Euro) heißt dieses Werk, der große Roman aus dem Spanien des frühen siebzehnten Jahrhunderts wird darin rückwärts gelesen. Dieses Buch ist ein Pamphlet, ein Mittelding zwischen Roman und Manifest. Auch sein Ziel ist eine „Reconquista” – mit Miguel de Cervantes im Rücken ist Peter Handke zur Wiedereroberung der Windmühlenflügel ausgezogen.
Die Reise zum Hochplateau
Die neueste Literatur, vor allem die deutsche, scheint ihr Einverständnis mit der Welt durch immer größere Nähe dokumentieren zu wollen. Wie durch die Linse einer Kamera betrachtet sie, was sie für Wirklichkeit hält. Sie will Journalist sein, Berichterstatter, eine Chronik der laufenden Ereignisse schreiben. Nichts von alledem hat Peter Handke im Sinn. Er ist ein Feind, und wahrlich kein sanfter, von allem, was man gern für Realismus hält. Und wenn er mit „Bildverlust” nicht den Krieg gewonnen hat, so ist es ihm doch gelungen, eine große Zahl von Windmühlen auf den Hochebenen der Poesie wiederzuerrichten.
Lange hat Peter Handke Anlauf genommen, um das Hochplateau seiner Sierra de Gredos zu erklimmen. Aber von dort oben aus betrachtet, erscheinen die Romane „Mein Jahr in der Niemandsbucht” von 1994 und „In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem Haus” von 1997 – beide, wie auch die „Langsame Heimkehr” oder der „Versuch über die Jukebox” in Thema und Anlage mit dem jüngsten Roman verwandt – wie Vorstufen. „Der Bildverlust” ist eine Summe dieser Bücher. Sie ist, obwohl dick und nicht immer leicht zu lesen, ihnen an erzählerischer Ökonomie und dramaturgischer Strenge, an Prägnanz und Witz überlegen. „Der Bildverlust” ist Handkes „Ästhetik des Widerstands”, um ihretwillen zieht sich eine Unterscheidung durch das ganze Werk: dass Aktualität und Wirklichkeit nicht dasselbe sind, ja, dass jene die wahre Illusion sei, wahnhafter noch als windflügeligsten Hirngespinste poetisierender Traumritter.
Oft ist in diesem Buch von der „langen Dauer” die Rede. Auf den französischen Historiker Marc Bloch wird verwiesen, der dieses Wort für die langen Rhythmen der Geschichte, für die Welt unterhalb der Ereignisgeschichte geprägt hat. So möchte auch Peter Handke die Welt betrachten, nicht nur um ein wenig Ruhe und Gelassenheit zu finden. Sondern vor allem, weil an der langen Dauer alle Eitelkeit, die ganze Banalität des stilisierten, inszenierten Ereignishaften zuschanden gehen soll. Denn Peter Handke mag die Absicht von Miguel de Cervantes, seine Mitbürger um ihre poetischen Illusionen zu bringen, nicht teilen. Und doch ist er ein später Verbündeter des Spaniers: Was ist die seine hingegebene Schilderung des mit einer Barbierschüssel behelmten Wahns, wenn nicht die Geschichte einer Läuterung?
„Der Bildverlust” ist ein utopischer Roman, verlegt in eine etwas wunderliche, nicht allzuferne Zukunft, in der es im Winter keine Erdbeeren mehr gibt und der Krieg zu einer latent allgegenwärtigen Angelegenheit geworden ist. Das Buch hat eine Geschichte, eine Heldin und ein paar Nebenfiguren. Eine schöne Frau ohne Alter, Herrin über ein gigantisches Finanz imperium, verlässt ihren Beruf und ihr Haus in einer „nordwestlichen Flußhafenstadt” und fliegt nach Valladolid, um von dort aus die Sierra de Gredos zu überqueren, geographisch ein Gebirge in Kastilien, poetisch ein Ort der Wahrheit, eine Risikozone für Seele und Verstand. Erwartet wird sie jenseits der Gebirges, in der Mancha, von einem Autor, der mit ihr und über sie – und über den Rest der Welt – ein Buch schreiben soll. Denn nicht anders als bei Miguel de Cervantes sind das Erzählen und das Erzählenkönnen das eigentliche Ziel des Buches: ein Frieden, der darin liegt, dass der eine etwas zu berichten weiß, was der andere nicht kennt.
Ein Nomade, eine Nomadin geht zum Dienst, wie so oft bei Peter Handke. Wieder werden Wanderschuhe geschnürt, wieder wird eine Feder auf den Hut gesetzt, wieder wird ein alter Rucksack (in dem sich lauter Wunderdinge befinden) geschultert. Aber es ist ein Irrtum, diese Nomaden für Nachfahren der wandernden Klosterbrüder der deutschen Romantik zu halten. Sie sind vielmehr ein Gegenentwurf zur allgegenwärtigen Gestalt des Reporters: „Womit verdienst du dein Geld nach dem Ende deiner Peoplebeschreibungen?” Wo der Reporter nur das Neueste wahrnehmen möchte, in einer stets flüchtigen, aus Prinzip von aller Verantwortung befreiten Begegnung, muss und will jener im ewig Alltäglichen zurechtkommen.
Abenteuer der Finsterlichtung
Im Unterschied zu allen Wanderern im Nebelgebirge ist Peter Handkes Nomadin eine polemische Figur, und dieser streitbaren Absicht verdankt sich die Fülle des Konkreten, das Übermaß an ausführlich geschilderten Gegenständen, das aus aus diesem Roman auch einen kommentierten, nein: bebilderten Katalog zur Einrichtung der modernen Welt, vom Mobiltelefon über das Freilichtkino bis zur Silberdistel – zahlreiche fantastische Gegenstände, alte und neue Barbierschüsseln, Gespenster, Idioten und Wiedergänger eingeschlossen.
Wenig scheint Peter Handke in diesem Bildkatalog entgangen zu sein, weder die Gewinnwarnungen der Neuen Ökonomie noch die Wandlungen alter Nationalstaaten zu Einwanderungsländern. Und wenn vom Krieg die Rede ist, dann ahnt der Leser, dass Serbien immer wieder Modell gestanden hat – ohne dass daraus mehr abzulesen wäre als der poetische Ursprung von Peter Handkes politischem Engagement für diese Seite. Denn auch dieses Land im Krieg ist, wie alle anderen Orte dieses Buches, in eine lange, fast unendliche Reihe intensiver Bilder aufgelöst.
Warum heißt dieses Buch aber dann „Der Bildverlust”? Über fünf Stationen geht die Reise der Heldin durch die Sierra de Gredos. Auf der vorletzten gerät sie in die „Finsterlichtung” Hondareda, eine Art Exil für „todhäßliche”, zu gebückten Sammlern regredierten Menschen, denen die Bilder – und das heißt vor allem: die inneren Bilder – abhanden gekommen sind: „Wen solch ein Verlust trifft, der kann nur noch einen einzigen Gedanken denken: Ausgespielt! Es ist zu Ende mit mir und der Welt. Bloß haben diese Betroffenen, statt sich zu ertränken, zu erhängen und Amok zu laufen gegen die Reste der Welt, sich hierher auf den Weg gemacht.” Und nun werden die Finsterlinge flächendeckend mit Bildern beschossen, „zehn bis vierzehnmal häufiger als in Frankfurt, Paris, New York oder Hongkong die Verkehrsampeln.” Auch die Heldin wird am Ende ihren Bildersturz erleben.
Den ersten Teil dieser Allegorie aufzulösen, ist eine einfache Sache: Sie ist Medienkritik. So wie Cervantes’ Roman dem Zerfall der mittelalterlichen Welt den Zerfall ihrer Nachbilder, ihres Scheinlebens im Buch folgen lässt, so spiegelt Peter Handke den Niedergang der modernen Gesellschaften in ihren Scheinbildern. Und auch bei der Auflösung des anderen Teils hilft Don Quijote: Denn als dieser im Kreis seiner Angehörigen stirbt, befreit von seinem literarischen Wahn, ergreift der „große Historiker Cide Hamete Benengeli” das Wort, um den Lesern mitzuteilen, er habe die ganze Geschichte nur erfunden, um „Abscheu gegen all die ersonnenen und wirren Ritterbücher zu erwecken” – tatsächlich aber hat sich der Leser längst und mit Begeisterung durch das wirrste aller Ritterbücher gearbeitet.
Schon in „Don Quijote” geht es nicht um den angeblichen Widerspruch von Kunst und Leben. Sondern um Lebensformen, von denen einige eben sehr fantastisch sind. In höherem Maße gilt das für den „Bildverlust” von Peter Handke: „Ein Gefährt hielt an seinem Ziel”, heißt es auf der letzten Seite, „am Ende nach einer langen Fahrt, und schwankte im Stehen noch nach. Und dieses Schwanken hörte so bald nicht auf; wird nicht so bald aufgehört haben.” Das ist ein Bild, und nach ihm werden noch unendlich viele andere kommen, nur dass seine keine Bilder der Vergangenheit mehr sein werden. Alles, was ihnen darüber hinaus womöglich noch fehlen wird, ist das eine oder andere „und”: „das liebe, dauererzeugende”. Was aber geschieht, wenn die Bindeglieder fehlen? Dann lösen sich Geschichten in Reihen von poetischen Stillleben auf, und deren Meister ist dieser Dichter stets gewesen.
Wir leben in einer Wendezeit, meint Peter Handke, und für den erwarteten Umbruch hat er einen Roman geschrieben, das in eine neue Epoche führen will. Es mag sein, dass er damit scheitert, aber er hat das Seine getan: „Der Bildverlust” ist das große Gegenbuch unserer aktuellen Literatur. THOMAS STEINFELD
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Plädoyer für die Erfindung der Gegenwart: Peter Handkes neuer Roman „Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos” ist da
Die Stadt Granada war erst gut hundert Jahre wieder in spanischem Besitz, die „Reconquista”, die Rückeroberung der iberischen Halbinsel von den Mauren erst seit drei Generationen abgeschlossen, da veröffentlichte Miguel de Cervantes das Buch von „Don Quijote” – ein komisches Buch über Ritter und Knappen, aber vor allem ein Roman über andere Romane, eine Abrechnung nicht nur mit den Windmühlen der Ritterromane, sondern auch mit den Wetterfähnchen der Schelmendichtung und der Schäferpoesie. Miguel de Cervantes war ein Meister im Abreißen von Traumgebilden. Doch wenn sein Buch heute noch lebt – und wie es noch lebt, in allen Teilen der Welt! –, dann hat er es nicht seiner prosaischen Absicht, sondern dem bunten, wirren, betörenden Glanz von Traumschlössern zu verdanken.
Vierhundert Jahre nach Miguel de Cervantes schreibt Peter Handke ein Buch, das Miguel de Cervantes und Don Quijote in sich aufnimmt wie Weggefährten. „Der Bildverlust” (Suhrkamp Verlag, 760 Seiten, 29, 90 Euro) heißt dieses Werk, der große Roman aus dem Spanien des frühen siebzehnten Jahrhunderts wird darin rückwärts gelesen. Dieses Buch ist ein Pamphlet, ein Mittelding zwischen Roman und Manifest. Auch sein Ziel ist eine „Reconquista” – mit Miguel de Cervantes im Rücken ist Peter Handke zur Wiedereroberung der Windmühlenflügel ausgezogen.
Die Reise zum Hochplateau
Die neueste Literatur, vor allem die deutsche, scheint ihr Einverständnis mit der Welt durch immer größere Nähe dokumentieren zu wollen. Wie durch die Linse einer Kamera betrachtet sie, was sie für Wirklichkeit hält. Sie will Journalist sein, Berichterstatter, eine Chronik der laufenden Ereignisse schreiben. Nichts von alledem hat Peter Handke im Sinn. Er ist ein Feind, und wahrlich kein sanfter, von allem, was man gern für Realismus hält. Und wenn er mit „Bildverlust” nicht den Krieg gewonnen hat, so ist es ihm doch gelungen, eine große Zahl von Windmühlen auf den Hochebenen der Poesie wiederzuerrichten.
Lange hat Peter Handke Anlauf genommen, um das Hochplateau seiner Sierra de Gredos zu erklimmen. Aber von dort oben aus betrachtet, erscheinen die Romane „Mein Jahr in der Niemandsbucht” von 1994 und „In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem Haus” von 1997 – beide, wie auch die „Langsame Heimkehr” oder der „Versuch über die Jukebox” in Thema und Anlage mit dem jüngsten Roman verwandt – wie Vorstufen. „Der Bildverlust” ist eine Summe dieser Bücher. Sie ist, obwohl dick und nicht immer leicht zu lesen, ihnen an erzählerischer Ökonomie und dramaturgischer Strenge, an Prägnanz und Witz überlegen. „Der Bildverlust” ist Handkes „Ästhetik des Widerstands”, um ihretwillen zieht sich eine Unterscheidung durch das ganze Werk: dass Aktualität und Wirklichkeit nicht dasselbe sind, ja, dass jene die wahre Illusion sei, wahnhafter noch als windflügeligsten Hirngespinste poetisierender Traumritter.
Oft ist in diesem Buch von der „langen Dauer” die Rede. Auf den französischen Historiker Marc Bloch wird verwiesen, der dieses Wort für die langen Rhythmen der Geschichte, für die Welt unterhalb der Ereignisgeschichte geprägt hat. So möchte auch Peter Handke die Welt betrachten, nicht nur um ein wenig Ruhe und Gelassenheit zu finden. Sondern vor allem, weil an der langen Dauer alle Eitelkeit, die ganze Banalität des stilisierten, inszenierten Ereignishaften zuschanden gehen soll. Denn Peter Handke mag die Absicht von Miguel de Cervantes, seine Mitbürger um ihre poetischen Illusionen zu bringen, nicht teilen. Und doch ist er ein später Verbündeter des Spaniers: Was ist die seine hingegebene Schilderung des mit einer Barbierschüssel behelmten Wahns, wenn nicht die Geschichte einer Läuterung?
„Der Bildverlust” ist ein utopischer Roman, verlegt in eine etwas wunderliche, nicht allzuferne Zukunft, in der es im Winter keine Erdbeeren mehr gibt und der Krieg zu einer latent allgegenwärtigen Angelegenheit geworden ist. Das Buch hat eine Geschichte, eine Heldin und ein paar Nebenfiguren. Eine schöne Frau ohne Alter, Herrin über ein gigantisches Finanz imperium, verlässt ihren Beruf und ihr Haus in einer „nordwestlichen Flußhafenstadt” und fliegt nach Valladolid, um von dort aus die Sierra de Gredos zu überqueren, geographisch ein Gebirge in Kastilien, poetisch ein Ort der Wahrheit, eine Risikozone für Seele und Verstand. Erwartet wird sie jenseits der Gebirges, in der Mancha, von einem Autor, der mit ihr und über sie – und über den Rest der Welt – ein Buch schreiben soll. Denn nicht anders als bei Miguel de Cervantes sind das Erzählen und das Erzählenkönnen das eigentliche Ziel des Buches: ein Frieden, der darin liegt, dass der eine etwas zu berichten weiß, was der andere nicht kennt.
Ein Nomade, eine Nomadin geht zum Dienst, wie so oft bei Peter Handke. Wieder werden Wanderschuhe geschnürt, wieder wird eine Feder auf den Hut gesetzt, wieder wird ein alter Rucksack (in dem sich lauter Wunderdinge befinden) geschultert. Aber es ist ein Irrtum, diese Nomaden für Nachfahren der wandernden Klosterbrüder der deutschen Romantik zu halten. Sie sind vielmehr ein Gegenentwurf zur allgegenwärtigen Gestalt des Reporters: „Womit verdienst du dein Geld nach dem Ende deiner Peoplebeschreibungen?” Wo der Reporter nur das Neueste wahrnehmen möchte, in einer stets flüchtigen, aus Prinzip von aller Verantwortung befreiten Begegnung, muss und will jener im ewig Alltäglichen zurechtkommen.
Abenteuer der Finsterlichtung
Im Unterschied zu allen Wanderern im Nebelgebirge ist Peter Handkes Nomadin eine polemische Figur, und dieser streitbaren Absicht verdankt sich die Fülle des Konkreten, das Übermaß an ausführlich geschilderten Gegenständen, das aus aus diesem Roman auch einen kommentierten, nein: bebilderten Katalog zur Einrichtung der modernen Welt, vom Mobiltelefon über das Freilichtkino bis zur Silberdistel – zahlreiche fantastische Gegenstände, alte und neue Barbierschüsseln, Gespenster, Idioten und Wiedergänger eingeschlossen.
Wenig scheint Peter Handke in diesem Bildkatalog entgangen zu sein, weder die Gewinnwarnungen der Neuen Ökonomie noch die Wandlungen alter Nationalstaaten zu Einwanderungsländern. Und wenn vom Krieg die Rede ist, dann ahnt der Leser, dass Serbien immer wieder Modell gestanden hat – ohne dass daraus mehr abzulesen wäre als der poetische Ursprung von Peter Handkes politischem Engagement für diese Seite. Denn auch dieses Land im Krieg ist, wie alle anderen Orte dieses Buches, in eine lange, fast unendliche Reihe intensiver Bilder aufgelöst.
Warum heißt dieses Buch aber dann „Der Bildverlust”? Über fünf Stationen geht die Reise der Heldin durch die Sierra de Gredos. Auf der vorletzten gerät sie in die „Finsterlichtung” Hondareda, eine Art Exil für „todhäßliche”, zu gebückten Sammlern regredierten Menschen, denen die Bilder – und das heißt vor allem: die inneren Bilder – abhanden gekommen sind: „Wen solch ein Verlust trifft, der kann nur noch einen einzigen Gedanken denken: Ausgespielt! Es ist zu Ende mit mir und der Welt. Bloß haben diese Betroffenen, statt sich zu ertränken, zu erhängen und Amok zu laufen gegen die Reste der Welt, sich hierher auf den Weg gemacht.” Und nun werden die Finsterlinge flächendeckend mit Bildern beschossen, „zehn bis vierzehnmal häufiger als in Frankfurt, Paris, New York oder Hongkong die Verkehrsampeln.” Auch die Heldin wird am Ende ihren Bildersturz erleben.
Den ersten Teil dieser Allegorie aufzulösen, ist eine einfache Sache: Sie ist Medienkritik. So wie Cervantes’ Roman dem Zerfall der mittelalterlichen Welt den Zerfall ihrer Nachbilder, ihres Scheinlebens im Buch folgen lässt, so spiegelt Peter Handke den Niedergang der modernen Gesellschaften in ihren Scheinbildern. Und auch bei der Auflösung des anderen Teils hilft Don Quijote: Denn als dieser im Kreis seiner Angehörigen stirbt, befreit von seinem literarischen Wahn, ergreift der „große Historiker Cide Hamete Benengeli” das Wort, um den Lesern mitzuteilen, er habe die ganze Geschichte nur erfunden, um „Abscheu gegen all die ersonnenen und wirren Ritterbücher zu erwecken” – tatsächlich aber hat sich der Leser längst und mit Begeisterung durch das wirrste aller Ritterbücher gearbeitet.
Schon in „Don Quijote” geht es nicht um den angeblichen Widerspruch von Kunst und Leben. Sondern um Lebensformen, von denen einige eben sehr fantastisch sind. In höherem Maße gilt das für den „Bildverlust” von Peter Handke: „Ein Gefährt hielt an seinem Ziel”, heißt es auf der letzten Seite, „am Ende nach einer langen Fahrt, und schwankte im Stehen noch nach. Und dieses Schwanken hörte so bald nicht auf; wird nicht so bald aufgehört haben.” Das ist ein Bild, und nach ihm werden noch unendlich viele andere kommen, nur dass seine keine Bilder der Vergangenheit mehr sein werden. Alles, was ihnen darüber hinaus womöglich noch fehlen wird, ist das eine oder andere „und”: „das liebe, dauererzeugende”. Was aber geschieht, wenn die Bindeglieder fehlen? Dann lösen sich Geschichten in Reihen von poetischen Stillleben auf, und deren Meister ist dieser Dichter stets gewesen.
Wir leben in einer Wendezeit, meint Peter Handke, und für den erwarteten Umbruch hat er einen Roman geschrieben, das in eine neue Epoche führen will. Es mag sein, dass er damit scheitert, aber er hat das Seine getan: „Der Bildverlust” ist das große Gegenbuch unserer aktuellen Literatur. THOMAS STEINFELD
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Sichtlich hin- und hergerissen zwischen Lob und Tadel ist Hubert Spiegel im ersten Teil seiner Rezension. So verlegt er sich erst einmal aufs Referieren und berichtet von einem Roman über den "Bildverlust", der (in der Fiktion) als Zusammenspiel angelegt ist, zwischen einer "Prophetin", die die "Bankenfrau" genannt wird, und einem "Autor", der auf ihren Wunsch dies Buch schreibt. Eines hat der Roman auf jeden Fall: den "Handke-Ton", der hier, so Spiegel, im "Erzählgestus der allernervösesten Bedächtigkeit", was der Rezensent vor allem "unendlich nervtötend" findet. Schöne Sätze gibt es durchaus, räumt er ein, doch viel stärker stört er sich an kitschigen Passagen. Groß gedacht ist dieser 800-seitige Entwurf, daran hat Hubert Spiegel gar keinen Zweifel. Herausgekommen ist für ihn aber nur eine "Kettenreaktion des Kitsches", die in langweiliger Medienkritik münde.
© Perlentaucher Medien GmbH
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