Der letzte Roman von David Foster Wallace, dem »Besten seiner Generation« In seinem letzten, posthum erschienenen Roman vollbringt David Foster Wallace das Kunststück, auf gar nicht langweilige Weise über den langweiligsten Arbeitsplatz der Welt zu schreiben: die amerikanische Steuerbehörde.Mit der ihm eigenen sprachlichen Brillanz nähert sich David Foster Wallace in diesem nachgelassenen Roman seinem Thema: Was macht strukturelle Langeweile aus einem Menschen? Als Claude Sylvanshine nach Peoria in Illinois an die IRS, die amerikanische Bundessteuerbehörde, versetzt wird, trifft er dort auf Kollegen, die mit der tagtäglichen, unüberwindbaren Monotonie ihrer Arbeit und somit ihres Lebens kämpfen. Welche Lebensgeschichten führten dazu, dass jemand mehr oder weniger freiwillig einen solchen Beruf ergreift?Der Roman erschien in den USA drei Jahre nach Wallace' Tod und wurde zum gefeierten Bestseller. In ihm zeigt David Foster Wallace noch einmal sein ganzes Können - die unübertroffene Originalität seiner Sujets, die sprachliche Präzision, der sezierende Blick auf die Unzulänglichkeiten menschlicher Gesellschaft und der immer präsente Humor. »Atemberaubend brillant, lustig, unerträglich und elegisch« The New York Times
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"Einer der schrägsten, traurigsten und eindringlichsten Romane, die ich je gelesen habe." -- The Guardian, 07.05.2013
"Atemberaubend brillant, lustig, unerträglich und elegisch." -- The New York Times, 07.05.2013
"Wallace bestechendster Roman." -- Time, 07.05.2013
"Atemberaubend brillant, lustig, unerträglich und elegisch." -- The New York Times, 07.05.2013
"Wallace bestechendster Roman." -- Time, 07.05.2013
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
David Foster Wallace hat in seinem letzten, Fragment gebliebenen Roman "Der bleiche König" die moderne Bürokratie zu seinem Gegenstand gemacht, genauer und konkreter: die amerikanische Finanzbehörde IRS (Internal Revenue Service), berichtet Thomas Steinfeld. Anhand von gleich ein paar Dutzend Personen, die auf die eine oder andere Weise mit dem IRS zu schaffen haben, stellt Wallace die alltägliche Bürokratie in ihrer ganzen Langeweile und Tragweite dar, es gibt niemanden, der nicht früher oder später integriert wird. Für manche läutet erst dieser Erstkontakt mit dem IRS das Ende der Adoleszenz und die Realität der Realität ein - wie eine religiöser Erweckung, deren Erkenntnis die Pflicht zur Selbstverwaltung ist, erklärt der Rezensent. Dieses Buch ist wahr, auf eine "erbarmungslose, grandiose, auch schmerzliche Weise", warnt Steinfeld, ob man sich dieser Wahrheit stellen möchte, muss jeder selbst entscheiden, meint der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.11.2013Dazu ist nie genug gesagt
Der letzte Roman von David Foster Wallace erscheint auf Deutsch. Schon vor der Publikation von "Der bleiche König" hat der Verlag ein Netzforum geschaffen, wo sich die Leser austauschen können.
Normalerweise mache ich so was nicht - Rezensionen schreiben, Interviews geben, lesen, Bücher signieren, in Talkshows auftreten, bei Cocktailpartys erscheinen, Preise annehmen, Interviews geben oder Cover küren -, aber bei David muss ich eine Ausnahme machen." Dass Thomas Pynchon für die postume Veröffentlichung von David Foster Wallaces Fragment gebliebenem Roman "Der bleiche König" (im Original: "The Pale King") aus seinem Bunker hervorkommt und sich zu Wort meldet, ist mehr als eine Geste der Anerkennung für Autor und Werk. Es bezeichnet vielmehr ein dem Wallace-Leser vertrautes Phänomen: Über Wallace will man sprechen. Man will den Menschen im eigenen Umfeld diese Bücher geben und sie fragen: Was war das? Gefällt es dir? Kannst du danach einfach so weitermachen?
Fünf Jahre nach seinem Tod ist Wallace ein Mythos. Sein tausendseitiges, stilistisch überkomplexes und bahnbrechendes Opus magnum "Unendlicher Spaß" hob ihn endgültig in den Status einer fast heiligen und unantastbaren Figur - in einem Atemzug genannt mit Marcel Proust, James Joyce und eben Pynchon. Es ist ein verstörend intelligentes Buch über pervertierte Strategien zur Befriedigung der Sucht nach Unterhaltung, ein Buch wie ein Sargnagel für eine Generation, die - wie Wallace selbst - vor dem Fernseher aufgewachsen ist, dadurch sozialisiert und bis ins Mark kommerzialisiert wurde.
Nachdem zahlreiche Behandlungen seiner schweren Depression - unter anderem unterzog er sich jahrelang einer Elektroschockkrampftherapie - keine Wirkung mehr zeigten, nahm sich Wallace 2008 das Leben. Er hinterließ Tausende Seiten zu einem Projekt, das unter dem Titel "The Pale King" lief und an dem er die letzten Lebensjahre unermüdlich gearbeitet hatte. Sein Lektor Michael Pietsch stellte aus den Papierbergen jene unvollendete Ausgabe zusammen, die vor zwei Jahren in Amerika erschien (F.A.Z. vom 6. April 2011) und jetzt auch auf Deutsch vorliegt.
"Der bleiche König" handelt im Kern von einer Gruppe Angestellter der amerikanischen Steuerbehörde I.R.S. im Jahr 1985 und ihrem täglichen Umgang mit Langeweile und Monotonie, ihrer Kindheit und Jugend. Damit reiht sich Wallace ein in eine lange Tradition der Angestelltenliteratur. Hundert Jahre zuvor entwarf Robert Walser in "Der Commis" eine neue Art des Protagonisten: fleißig, konzentriert, schüchtern, gebildet, grau und mit einer Vorliebe für Gespräche über Kunst. Anders als Walser behandelt Wallace seine Angestellten jedoch nicht wie Tiere aus einer "Handelsmenagerie", sondern versteht sie als Taufkinder einer Arbeitskultur, in der sich Bürokratie bereits als quasinatürlicher Zustand etabliert hat. "Der Schlüssel, der der Bürokratie vorausgeht, ist die Fähigkeit, Langeweile auszuhalten. Effizient in einem Milieu zu funktionieren, das alles Vitale und Menschliche ausschließt", heißt es in Kapitel "§ 44". Wallace wollte mit "Der bleiche König" einen vormodernen Roman schreiben, in dem der "Tax Code" eine Art heilige Schrift ist und die Monotonie durch vollkommene Konzentration auf etwas so Banales wie Steuererklärungen einer spirituellen Epiphanie gleicht.
Nicht nur die thematische Kehrtwende von der Unterhaltungssucht in "Unendlicher Spaß" zur Konfrontation mit der aufzehrenden Eintönigkeit in "Der bleiche König" ist bemerkenswert. Besonders beeindruckend ist der Wandel des erzählerischen Gestus. Nie war Wallace seinem eigenen paradoxen Anspruch, Schriftsteller müssten metafiktionale Spielereien und Intellektualismen - von denen sowohl "Unendlicher Spaß" als auch sein auf Ludwig Wittgensteins analytischer Sprachphilosophie fußendes Debüt "Der Besen im System" zersetzt sind - zugunsten einer existentiellen und berührenden Verhandlung des Stoffes hinter sich lassen, näher als in diesem Roman. Mit dem Ergebnis, dass karikatureske Momente, wie das eines Jungen, der versucht, jede Stelle seines Körpers zu küssen, beklemmender und trauriger sind, als sie es in "Unendlicher Spaß" gewesen wären, da die inhärente Komik in den Hintergrund fällt, so als würde irgendwo im Saal ein Handy anfangen zu klingeln, während auf der Bühne gerade jemand an einem Herzinfarkt stirbt. Zweifelsfrei ist "Der bleiche König" Wallaces bester Roman.
Wie gesagt: Kaum ein anderer Schriftsteller seiner Generation hat eine Leserschaft mit so viel Gesprächsbedarf. Diesen Hunger nach Austausch besänftigte der Verlag Kiepenheuer und Witsch schon 2009, als "Unendlicher Spaß" in Deutschland erschien. Damals startete man das Social-Reading-Projekt "100 Unendlicher Spaß", für das zahlreiche deutsche Autoren eingeladen wurden, ihre Erfahrungen mit dem Buch zu teilen. Es wurden sowohl Tagebücher über die Lektüre geführt als auch Diskussionen angestoßen und Verschwörungstheorien ausgerollt.
Zum Erscheinen der deutschen Übersetzung von "Der bleiche König" will der Verlag an diesen Erfolg anknüpfen und lädt abermals zum social reading ein. Ausgewählte Autoren und Wallace-Kenner, unter anderen Clemens J. Setz, Hilmar Schmundt, Rabea Edel und Guido Graf, lesen und kommentieren öffentlich den Roman; jeder, der Lust hat, kann in diese Gespräche und Debatten einsteigen - eine Art kollektive Exegese.
Eine Schlüsselrolle kommt dabei dem kostenlosen E-Reader "Readmill" zu. Dieser erlaubt es, die Anmerkungen anderer Leser sichtbar zu machen und auf diese zu antworten - mit erstaunlichen Effekten. Denn durch das Bewusstsein für die Anwesenheit anderer Leser entwickelt sich ein völlig neues Lektüreverhalten. So kommentierte Clemens Setz am 21. Oktober 2013: "Lesen war für mich immer eine Tätigkeit, bei der ich mir weniger einsam vorkam. Beim Social Reading allerdings, wo meine Follower sehen können, welche Sätze ich mir anstreiche und kommentiere, verschwindet diese Wirkung - eben weil sie durch ein viel realeres, buchstäbliches Nicht-mehr-Alleinsein ersetzt wird. - Wodurch ich mir nun, etwas paradox, beim Lesen wieder sehr einsam vorkomme. Ich muss sehen, wie lange ich das aushalte."
Unter den geladenen Lesern findet sich auch Wallaces Übersetzer Ulrich Blumenbach, der für seine Arbeit an "Unendlicher Spaß" den Preis der Leipziger Buchmesse erhielt. Stellenweise wird deutlich, dass seine Übertragung kein Ersatz für die Lektüre des Originals sein kann. Wenn aus dem ungezähmten "literary/humanistic" ein träges "literarisch/humanistischer Natur", aus dem sarkastischen "I am not kidding" ein pubertäres "Echt jetzt" oder aus der Formulierung "nerdy, disaffected young people" "unzufriedene junge Spacken" wird, werden die Grenzen der Übersetzbarkeit von Wallaces Ton, Humor und Rhythmik sichtbar.
Auffällig ist, dass die Social-Reading-Website bis jetzt eher längere und elaborierte Texte versammelt, nicht die im Affekt an den Buchrand geschmierten Notizen (siehe Readmill), sondern deren Ausarbeitung. Die oftmals sehr weit vorangeschrittenen Gedankengänge lassen sich nur schwer anders als mit "Gefällt mir" kommentieren. So bleiben wunderbare Beiträge - wie Hilmar Schmundts Beobachtung, er sehe den Roman "als eine Ansammlung von novellenhaften Fußnoten zu einem großartigen Essay", oder sein Verweis auf Parallelen zu William Gaddis' "JR" - ohne Gegenreaktionen.
Doch das kann sich ändern. Die meisten Dinge sind noch unausgesprochen. Wie reiht sich Wallace neben den Autoren der Moderne ein? Inwieweit ist ein Essay von Hal Incandenza aus "Unendlicher Spaß" die Vorwegnahme des neuen Romans? Und gehen die Eingriffe des Lektors Michael Pietsch bei der Anordnung der Kapitel nicht in die falsche Richtung? "Bin gespannt, wie sich unser Gemurmel hier im Bleichen Lesesaal entwickelt", schreibt Schmundt. Denn wirklich interessant wird es erst von nun an, weil jetzt die regulären Leser einsteigen. Ihnen will man zurufen: Lest los, es gibt viel zu besprechen.
JUAN S. GUSE
David Foster Wallace: "Der bleiche König". Roman.
Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2013. 640 S., geb., 29,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der letzte Roman von David Foster Wallace erscheint auf Deutsch. Schon vor der Publikation von "Der bleiche König" hat der Verlag ein Netzforum geschaffen, wo sich die Leser austauschen können.
Normalerweise mache ich so was nicht - Rezensionen schreiben, Interviews geben, lesen, Bücher signieren, in Talkshows auftreten, bei Cocktailpartys erscheinen, Preise annehmen, Interviews geben oder Cover küren -, aber bei David muss ich eine Ausnahme machen." Dass Thomas Pynchon für die postume Veröffentlichung von David Foster Wallaces Fragment gebliebenem Roman "Der bleiche König" (im Original: "The Pale King") aus seinem Bunker hervorkommt und sich zu Wort meldet, ist mehr als eine Geste der Anerkennung für Autor und Werk. Es bezeichnet vielmehr ein dem Wallace-Leser vertrautes Phänomen: Über Wallace will man sprechen. Man will den Menschen im eigenen Umfeld diese Bücher geben und sie fragen: Was war das? Gefällt es dir? Kannst du danach einfach so weitermachen?
Fünf Jahre nach seinem Tod ist Wallace ein Mythos. Sein tausendseitiges, stilistisch überkomplexes und bahnbrechendes Opus magnum "Unendlicher Spaß" hob ihn endgültig in den Status einer fast heiligen und unantastbaren Figur - in einem Atemzug genannt mit Marcel Proust, James Joyce und eben Pynchon. Es ist ein verstörend intelligentes Buch über pervertierte Strategien zur Befriedigung der Sucht nach Unterhaltung, ein Buch wie ein Sargnagel für eine Generation, die - wie Wallace selbst - vor dem Fernseher aufgewachsen ist, dadurch sozialisiert und bis ins Mark kommerzialisiert wurde.
Nachdem zahlreiche Behandlungen seiner schweren Depression - unter anderem unterzog er sich jahrelang einer Elektroschockkrampftherapie - keine Wirkung mehr zeigten, nahm sich Wallace 2008 das Leben. Er hinterließ Tausende Seiten zu einem Projekt, das unter dem Titel "The Pale King" lief und an dem er die letzten Lebensjahre unermüdlich gearbeitet hatte. Sein Lektor Michael Pietsch stellte aus den Papierbergen jene unvollendete Ausgabe zusammen, die vor zwei Jahren in Amerika erschien (F.A.Z. vom 6. April 2011) und jetzt auch auf Deutsch vorliegt.
"Der bleiche König" handelt im Kern von einer Gruppe Angestellter der amerikanischen Steuerbehörde I.R.S. im Jahr 1985 und ihrem täglichen Umgang mit Langeweile und Monotonie, ihrer Kindheit und Jugend. Damit reiht sich Wallace ein in eine lange Tradition der Angestelltenliteratur. Hundert Jahre zuvor entwarf Robert Walser in "Der Commis" eine neue Art des Protagonisten: fleißig, konzentriert, schüchtern, gebildet, grau und mit einer Vorliebe für Gespräche über Kunst. Anders als Walser behandelt Wallace seine Angestellten jedoch nicht wie Tiere aus einer "Handelsmenagerie", sondern versteht sie als Taufkinder einer Arbeitskultur, in der sich Bürokratie bereits als quasinatürlicher Zustand etabliert hat. "Der Schlüssel, der der Bürokratie vorausgeht, ist die Fähigkeit, Langeweile auszuhalten. Effizient in einem Milieu zu funktionieren, das alles Vitale und Menschliche ausschließt", heißt es in Kapitel "§ 44". Wallace wollte mit "Der bleiche König" einen vormodernen Roman schreiben, in dem der "Tax Code" eine Art heilige Schrift ist und die Monotonie durch vollkommene Konzentration auf etwas so Banales wie Steuererklärungen einer spirituellen Epiphanie gleicht.
Nicht nur die thematische Kehrtwende von der Unterhaltungssucht in "Unendlicher Spaß" zur Konfrontation mit der aufzehrenden Eintönigkeit in "Der bleiche König" ist bemerkenswert. Besonders beeindruckend ist der Wandel des erzählerischen Gestus. Nie war Wallace seinem eigenen paradoxen Anspruch, Schriftsteller müssten metafiktionale Spielereien und Intellektualismen - von denen sowohl "Unendlicher Spaß" als auch sein auf Ludwig Wittgensteins analytischer Sprachphilosophie fußendes Debüt "Der Besen im System" zersetzt sind - zugunsten einer existentiellen und berührenden Verhandlung des Stoffes hinter sich lassen, näher als in diesem Roman. Mit dem Ergebnis, dass karikatureske Momente, wie das eines Jungen, der versucht, jede Stelle seines Körpers zu küssen, beklemmender und trauriger sind, als sie es in "Unendlicher Spaß" gewesen wären, da die inhärente Komik in den Hintergrund fällt, so als würde irgendwo im Saal ein Handy anfangen zu klingeln, während auf der Bühne gerade jemand an einem Herzinfarkt stirbt. Zweifelsfrei ist "Der bleiche König" Wallaces bester Roman.
Wie gesagt: Kaum ein anderer Schriftsteller seiner Generation hat eine Leserschaft mit so viel Gesprächsbedarf. Diesen Hunger nach Austausch besänftigte der Verlag Kiepenheuer und Witsch schon 2009, als "Unendlicher Spaß" in Deutschland erschien. Damals startete man das Social-Reading-Projekt "100 Unendlicher Spaß", für das zahlreiche deutsche Autoren eingeladen wurden, ihre Erfahrungen mit dem Buch zu teilen. Es wurden sowohl Tagebücher über die Lektüre geführt als auch Diskussionen angestoßen und Verschwörungstheorien ausgerollt.
Zum Erscheinen der deutschen Übersetzung von "Der bleiche König" will der Verlag an diesen Erfolg anknüpfen und lädt abermals zum social reading ein. Ausgewählte Autoren und Wallace-Kenner, unter anderen Clemens J. Setz, Hilmar Schmundt, Rabea Edel und Guido Graf, lesen und kommentieren öffentlich den Roman; jeder, der Lust hat, kann in diese Gespräche und Debatten einsteigen - eine Art kollektive Exegese.
Eine Schlüsselrolle kommt dabei dem kostenlosen E-Reader "Readmill" zu. Dieser erlaubt es, die Anmerkungen anderer Leser sichtbar zu machen und auf diese zu antworten - mit erstaunlichen Effekten. Denn durch das Bewusstsein für die Anwesenheit anderer Leser entwickelt sich ein völlig neues Lektüreverhalten. So kommentierte Clemens Setz am 21. Oktober 2013: "Lesen war für mich immer eine Tätigkeit, bei der ich mir weniger einsam vorkam. Beim Social Reading allerdings, wo meine Follower sehen können, welche Sätze ich mir anstreiche und kommentiere, verschwindet diese Wirkung - eben weil sie durch ein viel realeres, buchstäbliches Nicht-mehr-Alleinsein ersetzt wird. - Wodurch ich mir nun, etwas paradox, beim Lesen wieder sehr einsam vorkomme. Ich muss sehen, wie lange ich das aushalte."
Unter den geladenen Lesern findet sich auch Wallaces Übersetzer Ulrich Blumenbach, der für seine Arbeit an "Unendlicher Spaß" den Preis der Leipziger Buchmesse erhielt. Stellenweise wird deutlich, dass seine Übertragung kein Ersatz für die Lektüre des Originals sein kann. Wenn aus dem ungezähmten "literary/humanistic" ein träges "literarisch/humanistischer Natur", aus dem sarkastischen "I am not kidding" ein pubertäres "Echt jetzt" oder aus der Formulierung "nerdy, disaffected young people" "unzufriedene junge Spacken" wird, werden die Grenzen der Übersetzbarkeit von Wallaces Ton, Humor und Rhythmik sichtbar.
Auffällig ist, dass die Social-Reading-Website bis jetzt eher längere und elaborierte Texte versammelt, nicht die im Affekt an den Buchrand geschmierten Notizen (siehe Readmill), sondern deren Ausarbeitung. Die oftmals sehr weit vorangeschrittenen Gedankengänge lassen sich nur schwer anders als mit "Gefällt mir" kommentieren. So bleiben wunderbare Beiträge - wie Hilmar Schmundts Beobachtung, er sehe den Roman "als eine Ansammlung von novellenhaften Fußnoten zu einem großartigen Essay", oder sein Verweis auf Parallelen zu William Gaddis' "JR" - ohne Gegenreaktionen.
Doch das kann sich ändern. Die meisten Dinge sind noch unausgesprochen. Wie reiht sich Wallace neben den Autoren der Moderne ein? Inwieweit ist ein Essay von Hal Incandenza aus "Unendlicher Spaß" die Vorwegnahme des neuen Romans? Und gehen die Eingriffe des Lektors Michael Pietsch bei der Anordnung der Kapitel nicht in die falsche Richtung? "Bin gespannt, wie sich unser Gemurmel hier im Bleichen Lesesaal entwickelt", schreibt Schmundt. Denn wirklich interessant wird es erst von nun an, weil jetzt die regulären Leser einsteigen. Ihnen will man zurufen: Lest los, es gibt viel zu besprechen.
JUAN S. GUSE
David Foster Wallace: "Der bleiche König". Roman.
Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2013. 640 S., geb., 29,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.12.2013Die harte Droge
In seinem nachgelassenen Roman „Der bleiche König“
nimmt es David Foster Wallace mit einer Großmacht des modernen Lebens auf –
und erobert die Welt der Bürokratie für die Literatur
VON THOMAS STEINFELD
Eine Gestalt des modernen Lebens gibt es, die größer ist, viel größer als alle Figuren, die in jüngste Zeit als literarische Helden auftraten, als die traurigen, auseinanderfallenden Familien bei Jonathan Franzen oder als die sich unsicher durchs Leben tastenden Frauen bei Alice Munro oder als die junge Afrikanerin bei Jonas Jonasson, von der sich die Weltpolitik durcheinanderbringen läßt: Es ist die Bürokratie. Gewiss, sie neigt nicht dazu, anschaulich zu werden, und deswegen scheint sie sich dem Erzählen zu entziehen. Aber sie ist da, sie zieht sich durch das Leben aller Menschen, sie begründet Lebensläufe und verfügt über deren Chancen.
Sie ist weitaus vernünftiger als der Herr von Mordor und unendlich beredter als Hal, der Computer in Stanley Kubricks Film „2001“. Und vor allem: diese Macht ist wirklich, sie ist die zentrale Instanz des modernen Lebens, realer als die Legislative, die man nur alle vier Jahre wählt, oder als die Jurisdiktion, der man am liebsten nie begegnet – und sie lebt, zumindest insofern, als sie nicht nur ein heftiges Interesse an ihrer Selbsterhaltung hat, sondern sich fortlaufend ausweitet und vergrößert und weitere Bürokratien in die Welt setzt. Es spricht von Mut, aber auch von Einsicht in die Bedingungen einer zeitgenössischen Existenz, wenn sich ein Schriftsteller des Gegenstands „Bürokratie“ annimmt, und das gilt um so mehr, als er offenbar auch weiß, wie wenig Erregungspotential einem Formular oder einem Regelwerk abzugewinnen ist.
Der amerikanische Schriftsteller David Foster Wallace tut es trotzdem, in einem Buch, das Fragment geblieben ist, weil er vor dessen Vollendung freiwillig aus dem Leben schied, dem aber das Fragmentarische nicht schadet, weil die Bürokratie, von der dieser Roman handelt, in ihrer Größe und Beständigkeit ohnehin alles mit ihr verbundene Leben übersteigt: „Der bleiche König“ heißt dieses Buch, und dieser papierne Fürst ist das Finanzamt der Vereinigten Staaten, genauer: der „Internal Revenue Service“ (IRS), eine Bundesbehörde mit hunderttausend Mitarbeitern, deren Aufgabe es ist, Steuern zu erheben und das Zahlen von Steuern durchzusetzen. Nun ist dieses Finanzamt zwar eine amerikanische Institution, und amerikanische Leser werden Erfahrungen mit Formularen und Routinen haben, die dem deutschen Publikum für immer fremd bleiben werden. Aber wie ein solcher bleicher König lebt und herrscht, ist dann doch so allgemein verständlich und nachvollziehbar, dass es sich auch in der Übersetzung erhält.
Dieses gigantische Wesen ist nicht gut und nicht böse, es ist nur da, als streng formal gefasste, sich ausschließlich in Verwaltungsakten realisierende Macht, und David Foster Wallace legt offenbar Wert darauf, dass sie ausschließlich in dieser Abstraktheit gefasst ist. Denn die Macht hat ja ihre lebendigen, ihre bedrohlichen und detektivischen Seiten, aber die Steuerfahndung darf nur höchst gelegentlich auftreten, und wenn sie das tut, dann nur als eine Abteilung, mit der die Figuren, die der Schriftsteller um den IRS in Gestalt seiner Zweigstelle in Peoria, Illinois, nichts zu schaffen haben. Ein paar Dutzend von diesen Figuren gibt es, und während diejenigen von ihnen, denen das Buch über ein paar Momente, manchmal aber auch über Jahre folgt, alle irgendwann einmal Angestellte des IRS sind oder waren, so gilt doch für jede Gestalt, dass ihre Möglichkeiten, überhaupt ein Leben zu führen, auf irgend eine Weise über dieses Finanzamt definiert sind. Das gilt auch für „David Wallace“ selber, eine Figur, die innerhalb dieses Buches der Autor zu sein beansprucht, ein unter Akne leidender junger Mann, der als eines von zwei „Ichs“ in dieser Geschichte auftritt – und doch jemand ganz anderes ist als der Schriftsteller selber.
Die Geschichte spielt im wesentlichen Mitte der achtziger Jahre. Das ist wichtig, aus zwei Gründen. Denn zum einen wird der gewaltige Apparat des amerikanischen Finanzamts in diesen Jahren, also während der Amtszeit Ronald Reagans, von einer reinen, sich als autonom verstehenden Behörde in eine Agentur umgewandelt, die den Bürgern als Dienstleister gegenübertritt und gewinnorientiert arbeitet. Als „Spackmann-Initiative“ geistert dieses Projekt durch das Buch, und allein an ihrem Namen lässt sich erkennen, dass es innerhalb einer entfalteten Bürokratie auch Techniken gibt, um mit dem Einbruch der freien Marktwirtschaft fertigzuwerden.
Der andere Grund aber, warum diese Geschichte hauptsächlich vor dreißig Jahren spielt, ist das Ende aller alternativen Lebensentwürfe, die noch die Siebziger geprägt hatten. Noch laufen in diesem Roman Figuren herum, die Latzhosen mit ausgefransten Säumen und ungeschnürte gelbe Stiefel von Timberlands tragen. Aber das geht bald vorbei. Überhaupt zeichnet alle Gestalten, die sich, über kürzere oder längere Sequenzen, in verschiedenen Konstellationen durch dieses Buch bewegen, aus, dass sie gleichsam unfertig sind, verschiedenen Formen der Adoleszenz verhaftet bleiben, bis der IRS sie berührt – worauf sie sich dann anpassen, sich also in Projekte einer Selbstoptimierung verwandeln, die zumindest in einem Fall den Charakter einer religiösen Erweckung trägt.
In diesem Erweckten mag die innerste Wahrheit dieses Buchs verborgen sein. Denn bevor er sich, mitten im schlimmsten Schneesturm, der seine Heimatstadt Chicago je heimsuchte, in einem schäbigen Büro für den IRS anwerben lässt, macht er Erfahrungen mit einer Droge namens Obetrol. Sie verdoppele die Realität, erklärt er: Wenn „die Wirkung einsetzte, war ich nicht mehr nur in dem Zimmer, sondern ich war mir auch bewusst, dass ich in diesem Zimmer war“. Die Droge enthält also das Geheimnis der Verwaltung.
Denn was tut diese, wenn nicht jeden Gegenstand, getrennt von seiner realen Existenz, und also, streng formal, unter Absehung von allen Interessen, gemäß etablierter Standards und Routinen, in einen Akteneintrag zu verwandeln. Nichts anderes geschieht, wenn jemand sich selbst zu optimieren trachtet, wenn er also die Anpassung, die eine bürgerliche Existenz im Allgemeinen oder das Erwerbsleben im Besonderen von ihm fordert, in sein eigenstes Anliegen verwandelt und beginnt, sich nach den Maßstäben eines eingebildeten Erfolgs selbst zu traktieren.
Ein lustiges Buch sei „Der Bleiche König“, hatten schon amerikanische Kritiker behauptet, als der Roman, vom Lektor des Schriftstellers aus seinem Nachlass kompiliert, im Original erschien. Es mag sein, dass dieses Werk seine lustigen Seiten hat, wenngleich diese Heiterkeit etwas von der Komik auf den Rücken geworfener Käfer besitzt, die hilflos mit ihren Beinchen in der Luft strampeln. Nein, die Wahrheit kann schmerzlich sein.
Sie kann auch langweilig sein (und die Langeweile, auch der Heroismus, sich der Langweile zu stellen, ist ein eigenes, großes Thema in diesem Werk). Aber die Wahrheit ist selten lustig. Und wahr ist dieser Roman, auf eine erbarmungslose, grandiose, auch schmerzliche Weise, so wahr, dass man so leicht keinen zweiten Roman der vergangenen Jahrzehnte fände, der sich, als Auskunft zur Lage der zivilisierten Welt betrachtet, diesem Buch an die Seite stellen ließe. Man muss diese Wahrheit allerdings aushalten wollen.
Wie lässt sich vom Regelwerk,
von den Routinen und Formularen
einer Finanzbehörde erzählen?
Im Reich des bleichen Königs: „Büro-Fetisch“, ein Objekt
des Künstlers Armand
Fernandez aus dem Jahr 1984.
FOTO: BRIDGEMANART.COM
David Foster Wallace:
Der bleiche König.
Ein unvollendeter Roman. Aus dem Englischen
von Ulrich Blumenbach. Verlag Kiepenheuer
und Witsch. 640 Seiten, 29,99 Euro, E-Book
23,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In seinem nachgelassenen Roman „Der bleiche König“
nimmt es David Foster Wallace mit einer Großmacht des modernen Lebens auf –
und erobert die Welt der Bürokratie für die Literatur
VON THOMAS STEINFELD
Eine Gestalt des modernen Lebens gibt es, die größer ist, viel größer als alle Figuren, die in jüngste Zeit als literarische Helden auftraten, als die traurigen, auseinanderfallenden Familien bei Jonathan Franzen oder als die sich unsicher durchs Leben tastenden Frauen bei Alice Munro oder als die junge Afrikanerin bei Jonas Jonasson, von der sich die Weltpolitik durcheinanderbringen läßt: Es ist die Bürokratie. Gewiss, sie neigt nicht dazu, anschaulich zu werden, und deswegen scheint sie sich dem Erzählen zu entziehen. Aber sie ist da, sie zieht sich durch das Leben aller Menschen, sie begründet Lebensläufe und verfügt über deren Chancen.
Sie ist weitaus vernünftiger als der Herr von Mordor und unendlich beredter als Hal, der Computer in Stanley Kubricks Film „2001“. Und vor allem: diese Macht ist wirklich, sie ist die zentrale Instanz des modernen Lebens, realer als die Legislative, die man nur alle vier Jahre wählt, oder als die Jurisdiktion, der man am liebsten nie begegnet – und sie lebt, zumindest insofern, als sie nicht nur ein heftiges Interesse an ihrer Selbsterhaltung hat, sondern sich fortlaufend ausweitet und vergrößert und weitere Bürokratien in die Welt setzt. Es spricht von Mut, aber auch von Einsicht in die Bedingungen einer zeitgenössischen Existenz, wenn sich ein Schriftsteller des Gegenstands „Bürokratie“ annimmt, und das gilt um so mehr, als er offenbar auch weiß, wie wenig Erregungspotential einem Formular oder einem Regelwerk abzugewinnen ist.
Der amerikanische Schriftsteller David Foster Wallace tut es trotzdem, in einem Buch, das Fragment geblieben ist, weil er vor dessen Vollendung freiwillig aus dem Leben schied, dem aber das Fragmentarische nicht schadet, weil die Bürokratie, von der dieser Roman handelt, in ihrer Größe und Beständigkeit ohnehin alles mit ihr verbundene Leben übersteigt: „Der bleiche König“ heißt dieses Buch, und dieser papierne Fürst ist das Finanzamt der Vereinigten Staaten, genauer: der „Internal Revenue Service“ (IRS), eine Bundesbehörde mit hunderttausend Mitarbeitern, deren Aufgabe es ist, Steuern zu erheben und das Zahlen von Steuern durchzusetzen. Nun ist dieses Finanzamt zwar eine amerikanische Institution, und amerikanische Leser werden Erfahrungen mit Formularen und Routinen haben, die dem deutschen Publikum für immer fremd bleiben werden. Aber wie ein solcher bleicher König lebt und herrscht, ist dann doch so allgemein verständlich und nachvollziehbar, dass es sich auch in der Übersetzung erhält.
Dieses gigantische Wesen ist nicht gut und nicht böse, es ist nur da, als streng formal gefasste, sich ausschließlich in Verwaltungsakten realisierende Macht, und David Foster Wallace legt offenbar Wert darauf, dass sie ausschließlich in dieser Abstraktheit gefasst ist. Denn die Macht hat ja ihre lebendigen, ihre bedrohlichen und detektivischen Seiten, aber die Steuerfahndung darf nur höchst gelegentlich auftreten, und wenn sie das tut, dann nur als eine Abteilung, mit der die Figuren, die der Schriftsteller um den IRS in Gestalt seiner Zweigstelle in Peoria, Illinois, nichts zu schaffen haben. Ein paar Dutzend von diesen Figuren gibt es, und während diejenigen von ihnen, denen das Buch über ein paar Momente, manchmal aber auch über Jahre folgt, alle irgendwann einmal Angestellte des IRS sind oder waren, so gilt doch für jede Gestalt, dass ihre Möglichkeiten, überhaupt ein Leben zu führen, auf irgend eine Weise über dieses Finanzamt definiert sind. Das gilt auch für „David Wallace“ selber, eine Figur, die innerhalb dieses Buches der Autor zu sein beansprucht, ein unter Akne leidender junger Mann, der als eines von zwei „Ichs“ in dieser Geschichte auftritt – und doch jemand ganz anderes ist als der Schriftsteller selber.
Die Geschichte spielt im wesentlichen Mitte der achtziger Jahre. Das ist wichtig, aus zwei Gründen. Denn zum einen wird der gewaltige Apparat des amerikanischen Finanzamts in diesen Jahren, also während der Amtszeit Ronald Reagans, von einer reinen, sich als autonom verstehenden Behörde in eine Agentur umgewandelt, die den Bürgern als Dienstleister gegenübertritt und gewinnorientiert arbeitet. Als „Spackmann-Initiative“ geistert dieses Projekt durch das Buch, und allein an ihrem Namen lässt sich erkennen, dass es innerhalb einer entfalteten Bürokratie auch Techniken gibt, um mit dem Einbruch der freien Marktwirtschaft fertigzuwerden.
Der andere Grund aber, warum diese Geschichte hauptsächlich vor dreißig Jahren spielt, ist das Ende aller alternativen Lebensentwürfe, die noch die Siebziger geprägt hatten. Noch laufen in diesem Roman Figuren herum, die Latzhosen mit ausgefransten Säumen und ungeschnürte gelbe Stiefel von Timberlands tragen. Aber das geht bald vorbei. Überhaupt zeichnet alle Gestalten, die sich, über kürzere oder längere Sequenzen, in verschiedenen Konstellationen durch dieses Buch bewegen, aus, dass sie gleichsam unfertig sind, verschiedenen Formen der Adoleszenz verhaftet bleiben, bis der IRS sie berührt – worauf sie sich dann anpassen, sich also in Projekte einer Selbstoptimierung verwandeln, die zumindest in einem Fall den Charakter einer religiösen Erweckung trägt.
In diesem Erweckten mag die innerste Wahrheit dieses Buchs verborgen sein. Denn bevor er sich, mitten im schlimmsten Schneesturm, der seine Heimatstadt Chicago je heimsuchte, in einem schäbigen Büro für den IRS anwerben lässt, macht er Erfahrungen mit einer Droge namens Obetrol. Sie verdoppele die Realität, erklärt er: Wenn „die Wirkung einsetzte, war ich nicht mehr nur in dem Zimmer, sondern ich war mir auch bewusst, dass ich in diesem Zimmer war“. Die Droge enthält also das Geheimnis der Verwaltung.
Denn was tut diese, wenn nicht jeden Gegenstand, getrennt von seiner realen Existenz, und also, streng formal, unter Absehung von allen Interessen, gemäß etablierter Standards und Routinen, in einen Akteneintrag zu verwandeln. Nichts anderes geschieht, wenn jemand sich selbst zu optimieren trachtet, wenn er also die Anpassung, die eine bürgerliche Existenz im Allgemeinen oder das Erwerbsleben im Besonderen von ihm fordert, in sein eigenstes Anliegen verwandelt und beginnt, sich nach den Maßstäben eines eingebildeten Erfolgs selbst zu traktieren.
Ein lustiges Buch sei „Der Bleiche König“, hatten schon amerikanische Kritiker behauptet, als der Roman, vom Lektor des Schriftstellers aus seinem Nachlass kompiliert, im Original erschien. Es mag sein, dass dieses Werk seine lustigen Seiten hat, wenngleich diese Heiterkeit etwas von der Komik auf den Rücken geworfener Käfer besitzt, die hilflos mit ihren Beinchen in der Luft strampeln. Nein, die Wahrheit kann schmerzlich sein.
Sie kann auch langweilig sein (und die Langeweile, auch der Heroismus, sich der Langweile zu stellen, ist ein eigenes, großes Thema in diesem Werk). Aber die Wahrheit ist selten lustig. Und wahr ist dieser Roman, auf eine erbarmungslose, grandiose, auch schmerzliche Weise, so wahr, dass man so leicht keinen zweiten Roman der vergangenen Jahrzehnte fände, der sich, als Auskunft zur Lage der zivilisierten Welt betrachtet, diesem Buch an die Seite stellen ließe. Man muss diese Wahrheit allerdings aushalten wollen.
Wie lässt sich vom Regelwerk,
von den Routinen und Formularen
einer Finanzbehörde erzählen?
Im Reich des bleichen Königs: „Büro-Fetisch“, ein Objekt
des Künstlers Armand
Fernandez aus dem Jahr 1984.
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David Foster Wallace:
Der bleiche König.
Ein unvollendeter Roman. Aus dem Englischen
von Ulrich Blumenbach. Verlag Kiepenheuer
und Witsch. 640 Seiten, 29,99 Euro, E-Book
23,99 Euro.
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»[...] wahr ist dieser Roman, auf eine erbarmungslose, grandiose, auch schmerzliche Weise [...].« Thomas Steinfeld Süddeutsche Zeitung 20131203