Drei Jahrzehnte lang, von 1953 bis 1983, korrespondierten der Staatsrechtler Carl Schmitt (1888-1985) und der Historiker Reinhart Koselleck (1923-2006) miteinander. Der Austausch zwischen dem ehemaligen »Kronjuristen des Dritten Reiches« und dem späterhin »bedeutendsten deutschen Historiker des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit) behandelt nicht nur die zentralen Schriften der beiden Protagonisten, sondern auch Kosellecks Werdegang im westdeutschen Hochschulbetrieb und Schmitts Lage am Rand des akademischen Feldes. Maßgebliche Zeitgenossen wie Blumenberg, Habermas und Heidegger finden darin ebenso ihren Platz wie historische Fragen und Begriffe sowie aktuelle politische Entwicklungen. Eine Gelehrtenkorrespondenz im Zeichen von »Kritik und Krise« – und zugleich ein wichtiges Kapitel der bundesrepublikanischen Ideengeschichte.
Die Edition gilt einerseits Reinhart Kosellecks bedeutendstem Briefwechsel, dem an Umfang, Dauer und Intensität kein anderer gleichkommt – eine zentrale Quelle für die intellektuelle Biografie des Historikers. Auf der anderen Seite gewährt sie neue Einblicke in Leben und Werk Carl Schmitts, eines Juristen und politischen Theoretikers, an dem das öffentliche kritische Interesse ungebrochen ist.
Die Edition gilt einerseits Reinhart Kosellecks bedeutendstem Briefwechsel, dem an Umfang, Dauer und Intensität kein anderer gleichkommt – eine zentrale Quelle für die intellektuelle Biografie des Historikers. Auf der anderen Seite gewährt sie neue Einblicke in Leben und Werk Carl Schmitts, eines Juristen und politischen Theoretikers, an dem das öffentliche kritische Interesse ungebrochen ist.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Gustav Seibt hat lange etwas von dem Briefwechsel zwischen Reinhart Koselleck und Carl Schmitt. Der von Jan Eike Dunkhase laut Seibt vorbildlich edierte Band zeigt ihm unter anderem das frühe Selbstbewusstsein Kosellecks im fruchtbaren geistigen Austausch mit seinem Lehrmeister. Durch alle Formalitäten der Anrede hindurch erkennt Seibt stets die Spannung der Themen und die Konzentration aufs Wesentliche. Zauberhaft geradezu wirken auf ihn die Einblicke in Kosellecks "Lebensprogramm" als Wissenschaftler und die dauernde "Erprobung der Gedanken" in den Briefen. Auch das Schweigen über Schmitts Rolle im Nationalsozialismus tönt laut aus dieser Korrespondenz, findet der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.12.2019Feindschaft ist keine Abwertung
Der Briefwechsel des Historikers Reinhart Koselleck mit dem Staatsrechtler Carl Schmitt ist ein ideengeschichtliches Dokument ersten Ranges.
Die Geheimdiplomatie öffentlicher Machthaber ist ein harmloses Spiel im Vergleich zu der öffentlichen Diplomatie geheimer Machthaber. Ein Satz aus der 1928 erschienen "Verfassungslehre" des Staatsrechtlers Carl Schmitt über die Dialektik des Absolutismus half dem Heidelberger Doktoranden und späteren Bielefelder Historiker Reinhart Koselleck Anfang der fünfziger Jahre, den geschichtlichen Ursprung des Weltbürgerkrieges zu entschlüsseln, dem er nach Ostfront, Verwundung und sowjetischer Kriegsgefangenschaft noch einmal entkommen war: Der Keim des ideologischen Terrors ist die Trennung des moralischen Räsonnements von der staatlichen Politik durch die bürgerliche Gesellschaft des achtzehnten Jahrhunderts.
Dass Kosellecks legendäre Dissertation "Kritik und Krise" von 1954 ihre zentrale These der Hobbes-Interpretation Schmitts verdankt, war bekannt. Wie sehr die originelle Anverwandlung schmittianischer Kategorien seine Historik insgesamt geformt hat, zeigt sein Briefwechsel mit Schmitt, der jetzt in einer vorzüglichen Edition vorliegt, die heute erscheint. Dieser Austausch zweier herausragender Gestalten des historisch-politischen Denkens im zwanzigsten Jahrhundert ist ein ideengeschichtliches Dokument ersten Ranges.
Begegnet waren sie sich in jenem Heidelberg der Nachkriegszeit, das Kosellecks Studienfreund Nicolaus Sombart in narzisstischen, aber nicht zuletzt wegen eines kunstvollen Koselleck-Porträts lesenswerten Erinnerungen ("Rendezvous mit dem Weltgeist") beschrieben hat. Wo mit Alfred Weber oder Karl Jaspers noch die Zwischenkriegszeit den Ton angab, suchte die Generation der Überlebenden und Kriegsheimkehrer nach Antworten auf das Erlebte.
Im ersten und zugleich bedeutendsten Brief des Bandes erinnert Koselleck sich an Schmitts Ermahnung, "die Begriffe im Zuge ihrer Klärung stets auf die ihnen entsprechende Situation zurückzuführen". Er antwortet darauf, indem er nicht weniger als ein Arbeitsprogramm seines Lebens entwirft.
Jahre bevor Schmitt selbst über die "Tyrannei der Werte" schreiben würde, zerlegt Koselleck das historistische Programm einer "Relativierung" der Werte: Zu tief sei der Historismus in die bürgerlichen Geschichtsphilosophien der Neuzeit verstrickt. Man sollte, setzt Koselleck dem entgegen, "endlich durchstoßen zu einer Geschichtsontologie, die nicht mehr methodisch letzte Auskunft ist, sondern der Anfang einer Begriffsbildung, die es ermöglicht, den Geschichtsphilosophien das Wasser abzugraben, und somit eine Antwort auf unsere konkrete Situation darstellen kann".
Der Ursprung der Geschichte
Die Geschichte ist bei Koselleck kein Prozess, der Ursprung und Ziel seiner selbst verbindet. Der Ursprung der Geschichte geht weiter, solange es Geschichte gibt. "Die Endlichkeit des geschichtlichen Menschens" selbst ist nämlich dieser "dauernde Ursprung der Geschichte". Der vorzügliche, ungemein nuancierte, aber nie geschwätzige Kommentar des Herausgebers Jan Eike Dunkhase verrät, was Carl Schmitt an den Rand dieser Briefstelle schrieb: "das ist es".
Warum teilt der junge Koselleck, der dieses Programm einer anderen Historik mit seinen Untersuchungen zur Gesellschafts- und Begriffsgeschichte oder zum Erfahrungswandel bald einlösen sollte, all dies ausgerechnet Carl Schmitt mit? Er glaubte Schmitt viel mehr als nur eine Deutung des Absolutismus zu verdanken: Ihm, nicht Jaspers oder Heidegger, schrieb er den gelungenen Sprung der Historiographie aus dem Historismus zu. In seinem Essay "Land und Meer" (1942) und dann vor allem in seinem 1950 erschienenen "Nomos der Erde" hatte Schmitt das liberale Völkerrecht der Neuzeit als planetarische Raumordnung der europäischen Kolonialmächte gedeutet und kurz darauf die historische Analyse ökonomischer Ordnungsmodelle jenseits marxistischer Geschichtsdialektik skizziert ("Nehmen - Teilen - Weiden").
Während die akademische Rechtswissenschaft diese Texte ein halbes Jahrhundert lang ignorierte, sah Koselleck ihre Bedeutung sofort. Als Anbiederung beim berüchtigten NS-Staatsrat wird diese Briefe darum nur lesen, wem die fundamentale Abhängigkeit der Fragestellung Kosellecks von Schmitt und Heidegger moralisch verdächtig ist.
Damit sind die Themen des Briefwechsels für ein Jahrzehnt gesetzt: Geschichtsphilosophie und Moral, Industrialisierung, Fortschritt und Utopie, die europäische Nachkriegsordnung und der Weltgegensatz von Ost und West, die Seemächte England und Amerika, die Landmächte Russland und China.
Immer wieder gelingen Koselleck stupende Beobachtungen und Deutungen, so in einem Brief im Januar 1957 über die weltpolitische Logik des Wirtschaftswunders: "In dem gegenwärtigen Nahme qua Gabe-Kampf liegen für Deutschland ungeheure Möglichkeiten. Es ist sicher sehr diffizil, sich als Politiker in dem Gestrüpp der Heterogonie von Geben und Nehmen zurechtzufinden. Wer gibt, nimmt, wer annimmt, gibt sich auf. Wer gibt, dem wird gegeben; Wer gibt, dem wird genommen. Wer nimmt, dem wird gegeben. Wer nimmt, gibt. Wer nimmt, gibt dem andern auf. . . . Jedenfalls hat Deutschland, dessen Ruf mehr nolens als volens in Afrika und Asien noch unlädiert ist, große Chancen, durch rechte Dosierungen in dem Gabe-Nahmespiel an Einfluß zu gewinnen. Und wenn man die Klugheit besäße, die Asiaten durch unsere Hochschulen zu schleusen, dann könnte man geradezu mit homöopathischen Dosen hundertfachen Effekt erzielen. Aber wer ist für diesen Punkt im föderalen Deutschland zuständig?"
Antisemitismus in Andeutungen
An Schmitt erprobt Koselleck Theorien, testet Hypothesen, berichtet von Lektüren und entwickelt Themen. Mit einer gedrängten Spekulation zur europäischen Großraumordnung des Wiener Kongresses legt Koselleck offen, wie groß die Lücke ist, die im "Nomos der Erde" im neunzehnten Jahrhundert klafft: "Mit den wechselnden Gegebenheiten wechselt die Legitimität, die Revolution wird in den Begriff mit eingebaut, und man könnte fast sagen: der Begriff steht schon an der Grenzscheide zwischen Geschichtsphilosophie und Historismus. - Der Wiener Kongress ist als ,Modell' viel aktueller als die französische Revolution. Die Katastrophe ist vorbei, und die Aufgabe besteht darin, die absehbaren Folgen in den Griff zu bekommen."
Etliche ungeschriebene Koselleck-Bücher lernt man auf diese Weise kennen. Während seiner Zeit als Lecturer in Bristol entwirft er ein Projekt über die Demokratisierung Englands und das Empire. Ein anderes zur Rolle der amerikanischen Revolution für das Selbstverständnis Englands im neunzehnten Jahrhundert. Ein drittes über Karl Marx und Benjamin Disraeli. Eher untergründig und allenfalls in Andeutungen über solche Namen wird auch Schmitts nach 1945 völlig unverminderter Antisemitismus zum Thema, den Koselleck vor der Veröffentlichung von Schmitts Tagebüchern kaum richtig einschätzen konnte.
Warum gab es in Deutschland keinen Disraeli?, fragt er sich. Schmitt antwortet mit einer Denksportaufgabe: Deutschland besitze nur zwei halbe Disraelis. Koselleck weiß die Antwort natürlich, auf die Schmitt hinauswill, und nennt den preußischen Konservativen Friedrich Julius Stahl und den Industriellen und Politiker Walther Rathenau. Das Rätsel scheint richtig gelöst, Schmitt geht nicht mehr darauf ein.
Nach einer Zeit der wachsenden Distanz gewinnt der Briefwechsel in den siebziger Jahren - Koselleck arbeitet inzwischen an den Texten, die 1979 in dem Band "Vergangene Zukunft" erschienen - wieder an Intensität. Ihn beschäftigt neben Schmitts ästhetischen Frühschriften jetzt vor allem der "Begriff des Politischen". In einem eindrucksvollen Brief von 1975 schildert er seine Beobachtungen zur Ikonologie der Kriegerdenkmäler und verknüpft sie mit einer explizit antitotalitären Interpretation der Freund-Feind-Unterscheidung: Feindschaft ist keine Abwertung, Freund und Feind sind die einzigen symmetrischen Gegenbegriffe der Geschichte. "Die rationale Anerkennung des Feindes ist wohl die einzige Einstellung in der Politik, die nicht utopisch werden kann."
Die Ereignisse, die zwischen den Quellen liegen, sind, wie immer, nicht überliefert. Vieles verweist vor oder zurück auf lange Gespräche in Plettenberg, über deren Intensität Koselleck in einem dem Band beigegebenen Interview berichtet. Auf die Erkenntnis, dass sich das Gespräch zwischen den beiden herausragenden Theoretikern der indirekten Gewalt des Geheimnisses auch durch die beste Edition nicht ganz veröffentlichen lässt, ist man nach der Lektüre aber gut vorbereitet.
FLORIAN MEINEL
Reinhart Koselleck
und Carl Schmitt:
"Der Briefwechsel 1953-1983".
Hrsg. von Jan Eike
Dunkhase.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 459 S., geb., 42,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Briefwechsel des Historikers Reinhart Koselleck mit dem Staatsrechtler Carl Schmitt ist ein ideengeschichtliches Dokument ersten Ranges.
Die Geheimdiplomatie öffentlicher Machthaber ist ein harmloses Spiel im Vergleich zu der öffentlichen Diplomatie geheimer Machthaber. Ein Satz aus der 1928 erschienen "Verfassungslehre" des Staatsrechtlers Carl Schmitt über die Dialektik des Absolutismus half dem Heidelberger Doktoranden und späteren Bielefelder Historiker Reinhart Koselleck Anfang der fünfziger Jahre, den geschichtlichen Ursprung des Weltbürgerkrieges zu entschlüsseln, dem er nach Ostfront, Verwundung und sowjetischer Kriegsgefangenschaft noch einmal entkommen war: Der Keim des ideologischen Terrors ist die Trennung des moralischen Räsonnements von der staatlichen Politik durch die bürgerliche Gesellschaft des achtzehnten Jahrhunderts.
Dass Kosellecks legendäre Dissertation "Kritik und Krise" von 1954 ihre zentrale These der Hobbes-Interpretation Schmitts verdankt, war bekannt. Wie sehr die originelle Anverwandlung schmittianischer Kategorien seine Historik insgesamt geformt hat, zeigt sein Briefwechsel mit Schmitt, der jetzt in einer vorzüglichen Edition vorliegt, die heute erscheint. Dieser Austausch zweier herausragender Gestalten des historisch-politischen Denkens im zwanzigsten Jahrhundert ist ein ideengeschichtliches Dokument ersten Ranges.
Begegnet waren sie sich in jenem Heidelberg der Nachkriegszeit, das Kosellecks Studienfreund Nicolaus Sombart in narzisstischen, aber nicht zuletzt wegen eines kunstvollen Koselleck-Porträts lesenswerten Erinnerungen ("Rendezvous mit dem Weltgeist") beschrieben hat. Wo mit Alfred Weber oder Karl Jaspers noch die Zwischenkriegszeit den Ton angab, suchte die Generation der Überlebenden und Kriegsheimkehrer nach Antworten auf das Erlebte.
Im ersten und zugleich bedeutendsten Brief des Bandes erinnert Koselleck sich an Schmitts Ermahnung, "die Begriffe im Zuge ihrer Klärung stets auf die ihnen entsprechende Situation zurückzuführen". Er antwortet darauf, indem er nicht weniger als ein Arbeitsprogramm seines Lebens entwirft.
Jahre bevor Schmitt selbst über die "Tyrannei der Werte" schreiben würde, zerlegt Koselleck das historistische Programm einer "Relativierung" der Werte: Zu tief sei der Historismus in die bürgerlichen Geschichtsphilosophien der Neuzeit verstrickt. Man sollte, setzt Koselleck dem entgegen, "endlich durchstoßen zu einer Geschichtsontologie, die nicht mehr methodisch letzte Auskunft ist, sondern der Anfang einer Begriffsbildung, die es ermöglicht, den Geschichtsphilosophien das Wasser abzugraben, und somit eine Antwort auf unsere konkrete Situation darstellen kann".
Der Ursprung der Geschichte
Die Geschichte ist bei Koselleck kein Prozess, der Ursprung und Ziel seiner selbst verbindet. Der Ursprung der Geschichte geht weiter, solange es Geschichte gibt. "Die Endlichkeit des geschichtlichen Menschens" selbst ist nämlich dieser "dauernde Ursprung der Geschichte". Der vorzügliche, ungemein nuancierte, aber nie geschwätzige Kommentar des Herausgebers Jan Eike Dunkhase verrät, was Carl Schmitt an den Rand dieser Briefstelle schrieb: "das ist es".
Warum teilt der junge Koselleck, der dieses Programm einer anderen Historik mit seinen Untersuchungen zur Gesellschafts- und Begriffsgeschichte oder zum Erfahrungswandel bald einlösen sollte, all dies ausgerechnet Carl Schmitt mit? Er glaubte Schmitt viel mehr als nur eine Deutung des Absolutismus zu verdanken: Ihm, nicht Jaspers oder Heidegger, schrieb er den gelungenen Sprung der Historiographie aus dem Historismus zu. In seinem Essay "Land und Meer" (1942) und dann vor allem in seinem 1950 erschienenen "Nomos der Erde" hatte Schmitt das liberale Völkerrecht der Neuzeit als planetarische Raumordnung der europäischen Kolonialmächte gedeutet und kurz darauf die historische Analyse ökonomischer Ordnungsmodelle jenseits marxistischer Geschichtsdialektik skizziert ("Nehmen - Teilen - Weiden").
Während die akademische Rechtswissenschaft diese Texte ein halbes Jahrhundert lang ignorierte, sah Koselleck ihre Bedeutung sofort. Als Anbiederung beim berüchtigten NS-Staatsrat wird diese Briefe darum nur lesen, wem die fundamentale Abhängigkeit der Fragestellung Kosellecks von Schmitt und Heidegger moralisch verdächtig ist.
Damit sind die Themen des Briefwechsels für ein Jahrzehnt gesetzt: Geschichtsphilosophie und Moral, Industrialisierung, Fortschritt und Utopie, die europäische Nachkriegsordnung und der Weltgegensatz von Ost und West, die Seemächte England und Amerika, die Landmächte Russland und China.
Immer wieder gelingen Koselleck stupende Beobachtungen und Deutungen, so in einem Brief im Januar 1957 über die weltpolitische Logik des Wirtschaftswunders: "In dem gegenwärtigen Nahme qua Gabe-Kampf liegen für Deutschland ungeheure Möglichkeiten. Es ist sicher sehr diffizil, sich als Politiker in dem Gestrüpp der Heterogonie von Geben und Nehmen zurechtzufinden. Wer gibt, nimmt, wer annimmt, gibt sich auf. Wer gibt, dem wird gegeben; Wer gibt, dem wird genommen. Wer nimmt, dem wird gegeben. Wer nimmt, gibt. Wer nimmt, gibt dem andern auf. . . . Jedenfalls hat Deutschland, dessen Ruf mehr nolens als volens in Afrika und Asien noch unlädiert ist, große Chancen, durch rechte Dosierungen in dem Gabe-Nahmespiel an Einfluß zu gewinnen. Und wenn man die Klugheit besäße, die Asiaten durch unsere Hochschulen zu schleusen, dann könnte man geradezu mit homöopathischen Dosen hundertfachen Effekt erzielen. Aber wer ist für diesen Punkt im föderalen Deutschland zuständig?"
Antisemitismus in Andeutungen
An Schmitt erprobt Koselleck Theorien, testet Hypothesen, berichtet von Lektüren und entwickelt Themen. Mit einer gedrängten Spekulation zur europäischen Großraumordnung des Wiener Kongresses legt Koselleck offen, wie groß die Lücke ist, die im "Nomos der Erde" im neunzehnten Jahrhundert klafft: "Mit den wechselnden Gegebenheiten wechselt die Legitimität, die Revolution wird in den Begriff mit eingebaut, und man könnte fast sagen: der Begriff steht schon an der Grenzscheide zwischen Geschichtsphilosophie und Historismus. - Der Wiener Kongress ist als ,Modell' viel aktueller als die französische Revolution. Die Katastrophe ist vorbei, und die Aufgabe besteht darin, die absehbaren Folgen in den Griff zu bekommen."
Etliche ungeschriebene Koselleck-Bücher lernt man auf diese Weise kennen. Während seiner Zeit als Lecturer in Bristol entwirft er ein Projekt über die Demokratisierung Englands und das Empire. Ein anderes zur Rolle der amerikanischen Revolution für das Selbstverständnis Englands im neunzehnten Jahrhundert. Ein drittes über Karl Marx und Benjamin Disraeli. Eher untergründig und allenfalls in Andeutungen über solche Namen wird auch Schmitts nach 1945 völlig unverminderter Antisemitismus zum Thema, den Koselleck vor der Veröffentlichung von Schmitts Tagebüchern kaum richtig einschätzen konnte.
Warum gab es in Deutschland keinen Disraeli?, fragt er sich. Schmitt antwortet mit einer Denksportaufgabe: Deutschland besitze nur zwei halbe Disraelis. Koselleck weiß die Antwort natürlich, auf die Schmitt hinauswill, und nennt den preußischen Konservativen Friedrich Julius Stahl und den Industriellen und Politiker Walther Rathenau. Das Rätsel scheint richtig gelöst, Schmitt geht nicht mehr darauf ein.
Nach einer Zeit der wachsenden Distanz gewinnt der Briefwechsel in den siebziger Jahren - Koselleck arbeitet inzwischen an den Texten, die 1979 in dem Band "Vergangene Zukunft" erschienen - wieder an Intensität. Ihn beschäftigt neben Schmitts ästhetischen Frühschriften jetzt vor allem der "Begriff des Politischen". In einem eindrucksvollen Brief von 1975 schildert er seine Beobachtungen zur Ikonologie der Kriegerdenkmäler und verknüpft sie mit einer explizit antitotalitären Interpretation der Freund-Feind-Unterscheidung: Feindschaft ist keine Abwertung, Freund und Feind sind die einzigen symmetrischen Gegenbegriffe der Geschichte. "Die rationale Anerkennung des Feindes ist wohl die einzige Einstellung in der Politik, die nicht utopisch werden kann."
Die Ereignisse, die zwischen den Quellen liegen, sind, wie immer, nicht überliefert. Vieles verweist vor oder zurück auf lange Gespräche in Plettenberg, über deren Intensität Koselleck in einem dem Band beigegebenen Interview berichtet. Auf die Erkenntnis, dass sich das Gespräch zwischen den beiden herausragenden Theoretikern der indirekten Gewalt des Geheimnisses auch durch die beste Edition nicht ganz veröffentlichen lässt, ist man nach der Lektüre aber gut vorbereitet.
FLORIAN MEINEL
Reinhart Koselleck
und Carl Schmitt:
"Der Briefwechsel 1953-1983".
Hrsg. von Jan Eike
Dunkhase.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 459 S., geb., 42,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.12.2019Erkenntnisse unter Besiegten
Was lernte der große Historiker Reinhart Koselleck von Carl Schmitt, dem einstigen „Kronjuristen des Dritten Reiches“?
Ihre Korrespondenz wirft ein neues Licht auf die Ideengeschichte der Bundesrepublik
VON GUSTAV SEIBT
Im Sommer 1959, da kannten sich die Korrespondierenden schon seit neun Jahren, hatte Carl Schmitt „noch schnell“ eine Frage an Reinhart Koselleck. Sie betraf eine Formulierung am Schluss von dessen Dissertation „Kritik und Krise“, die endlich publiziert worden war. Schmitt durfte dieses ebenso schmale wie wuchtige Buch als Kind seines eigenen Geistes sehen, und so bereitete er eine kurze, wohlwollende Rezension vor. Doch eine kleine Stichelei konnte er nicht lassen: „Sie sprechen am Schluss Ihres Buches davon, dass sich die Utopie in den Händen des neuzeitlichen Menschen zu (sic) einem politisch ungedeckten Kapital (!) verwandelte und dass der Wechsel erstmals in der Französischen Revolution eingelöst wurde. Ich muss nun als Jurist genauer fragen: Wer hat wem einen Wechsel ausgestellt? Wer hat ihn akzeptiert? Wer hat ihn wem präsentiert? Wer hat ihn bezahlt (eingelöst)?“
Die Fragereihe geht noch etwas weiter, und am Ende bleibt von dem kühnen Bild nichts mehr übrig. Koselleck kann darauf nur summarisch antworten: „Das Bild vom Wechsel ist stehengeblieben, weil es sich sozusagen eingewachsen hatte, ohne dass ich es streng analysiert hätte“. Dann erläutert er es doch sehr gründlich: „Rigoros gefragt“, schließt er, „lässt sich das Bild wohl nicht aufrechterhalten. Aber das trifft schließlich auch auf Symbole zu“.
Die kleine Briefszene lässt etwas von dem Zauber ahnen, die Gespräche mit Schmitt auf eine ganze Schar von jungen Wissenschaftlern seit den Fünfzigerjahren ausübten. Schmitt, wegen seiner Verwicklung in den Nationalsozialismus vom akademischen Unterricht abgeschnitten, wurde durch die berühmten „Gespräche in der Sicherheit des Schweigens“, die Dirk van Laak 1993 erforscht hat, zu einem der einflussreichsten Lehrer der frühen Bundesrepublik. Er war ein Menschenfischer, der einen untrüglichen Instinkt für Hochbegabungen gehabt haben muss, denn er fing sich seine Schüler vielfach noch im studentischen Alter ein. Eine Art von klandestiner Nebenuniversität entstand in Schmitts Haus in Plettenberg, verschwörerisch umraunt und verdächtigt. Ein Dutzend Mal hat Koselleck diesen Ort im Lauf der Jahrzehnte zu oft mehrtägigen Einzelgesprächen aufgesucht.
Der nun vorzüglich edierte Briefwechsel zeigt eine produktive geistige Nähe, die auch Leser überraschen wird, die Schmitts Einfluss auf Koselleck schon bisher nicht unterschätzten. Koselleck hat im Vorwort zu seiner Dissertation Schmitt gedankt. Er hat sich dessen Freund-Feind-Schema zu eigen gemacht, in dem großen Aufsatz zu asymmetrischen Gegenbegriffen, und zwar als Gegenbeispiel: Anders als Hellene und Barbar, Christ oder Heide und ähnliche Begriffspaare, lasse sich die Freund-Feind-Unterscheidung rein formal begreifen, denn sie liefere „das Raster möglicher Antithesen, ohne diese selbst zu benennen“. Sie entwertet also das Gegenüber nicht von vornherein, und so öffnet sie den Raum möglicher Politik.
Das ist eine liberale, fast pluralistische Lesart von Schmitts berüchtigter Definition des Politischen. Und Schmitt hat ihr nicht widersprochen, jedenfalls nicht in diesem dichten und aufmerksamen Austausch, in dem kaum ein Faden liegen blieb. Schließlich hat Koselleck noch kurz vor Schmitts Tod dessen „Buribunken“-Satire als Hohlform neuzeitlicher Utopien gewürdigt, nun auch öffentlich unverstellt verehrungsvoll.
Verehrungsvoll könnte nach erstem Eindruck auch der Briefwechsel wirken. Die Anrede bleibt auf Kosellecks Seite über dreißig Jahre unverändert: „Sehr verehrter Herr Professor“ oder „Sehr verehrter Herr Professor Schmitt“, und auch die Grußformel verzichtet nie auf das immer altmodischer werdende „Ihr ergebener“. Kaum ein Brief ohne Dank, entweder für Sonderdruckgaben oder für Argumente. Häusliche Grüße in steifer bürgerlicher Manier. Der aufs Nebengleis geschobene alte Herr wurde von einem diensteifrigen Schüler, der wie ein Assistent schrieb, auch als er längst schon Professor war, wie ein Großordinarius angeredet: So scheint es, aber natürlich ist bei sprachlich so bewussten Briefschreibern das Moment von Rollenspiel, von eleganter Maske nicht zu verkennen. Die bürgerliche Form entlastete den Umgang für das Wesentliche, den konzentrierten, an Spannung nie nachlassenden geistigen Austausch.
Und die strenge Fassade darf nicht über das Selbstbewusstsein des Jüngeren hinwegtäuschen, der von Anfang an die führende Rolle in dem Gespräch an sich zieht. Bereits der allererste, fünf Seiten lange Brief des Dreißigjährigen zeigt einen fertigen Wissenschaftler, der dem Älteren ein Lebensprogramm unterbreitet. Für den heutigen Leser – anderthalb Jahrzehnte nach Kosellecks Tod – ist es geradezu atemberaubend zu erkennen, wie genau dieser sich an die damals entworfenen Grundlinien gehalten hat.
Begriffsgeschichte als Antwort auf den Historismus, weil sie eben nicht alles verstehend alles gelten lässt, sondern nach den wandelbaren politischen und sozialen Funktionen von Begriffen fragt – das ist ein genuines Erbe von Carl Schmitt, das Koselleck in diesem ersten Brief dankbar annimmt.
Zugleich erklärt er schon hier, wie er jene „historistische Sackgasse“, die ihm Hans-Ulrich Wehler viel später vorhielt, zu vermeiden gedachte. Nämlich durch eine „Geschichtsontologie“, die den Geschichtsphilosophen wie den Relativisten das Wasser abgraben sollte. Später nannte das Koselleck nüchterner eine „Theorie möglicher Geschichten“, die er anthropologisch fundieren wollte. Schon im ersten Brief an Schmitt erwähnt er die Kategorien von „Herr und Knecht“, „Freund und Feind“, Geschlechtlichkeit, Generation und „geopolitische“ Fragen, man kann es auch „Raum“ nennen. Sein späteres Hauptthema, die Zeitlichkeit, erscheint hier noch nicht separat, denn es ist vorausgesetzt.
Wie geläufig ihm solche Frageraster schon in seiner ersten Zeit als Wissenschaftler waren, zeigen Beobachtungen aus dem akademischen Unterricht. „Soziologisch kann man die Studierenden vielleicht in zwei Gruppen teilen“, so Koselleck an Schmitt im November 1955. „In diejenigen, die durch die Erziehung von 1945 ff. geprägt sind, und in die, an denen diese Erziehung bzw. Umerziehung vorübergegangen ist. Sei es durch Elternhaus oder weil sie Flüchtlinge sind oder weil sie dauernd in alten geordneten Verhältnissen aufgewachsen sind. Jedenfalls fehlt fast allen die Erfahrung des Krieges selber. Und darin besteht der entscheidende Abstand zwischen den Studenten und mir.“
Von solchen konkreten Einblicken sind diese Briefe voll, die damit einen fortlaufenden Kommentar zu Kosellecks wachsendem wissenschaftlichen Werk bieten, nicht nur in den Äußerlichkeiten von Karriere und Organisation, sondern im Erfahrungsgehalt, bei Erprobung der Gedanken. Dabei entwickelt sich trotz aller Förmlichkeit eine zuweilen verschwörerisch anmutende Vertraulichkeit mit dem weisen Angeredeten: „Die Entnazifizierungs + Demokratisierungswelle nach 1945 hat offenbar die Erkenntnisträchtigkeit der Besiegten-Situation zerstört, und man erkennt in der Masse der jungen Studenten so recht den ,guten demokratischen’ bzw. den ,alten nationalen’ Geschichtslehrer wieder.“ So im Juli 1956, mitten im langen Weg nach Westen, auf den sich die Bundesrepublik nun endlich begeben hatte.
Erkenntnisträchtigkeit des Besiegten: Näher als bis zu solchen Andeutungen kam Koselleck Schmitts Wunde, seiner nationalsozialistischen Kompromittierung, an keiner Stelle. Das von Hermann Lübbe später diagnostizierte „kommunikative Beschweigen“ zu Fragen des Nationalsozialismus, hier lässt es sich in Aktion und bei vollem Bewusstsein beobachten. Wenn Lord Byrons Napoleon-Kritik als „gehässige moralisierende Kläfferei“ abgetan wird, dann wussten beide, wovon auch die Rede war.
Schmitt wiederum ermutigte den zeitweise in England lehrenden Koselleck, seinen Gastgebern in Rezensionen heimzuleuchten, „weil die Engländer die spezifisch kontinentale Leistung des gehegten Landkrieges endlich begreifen sollten und der Missbrauch der Christlichkeit als evasive Ausflucht nicht länger geduldet werden darf. Dieses C, das an alles angehängt und vorgehängt wird, ist das große Vehikel der Verschmierung.“
Koselleck hat sich noch auf der Fünfzig-Jahr-Feier zu seiner Promotion 2004 gegen den von Jürgen Habermas 1960 erhobenen Vorwurf, ein Sprachrohr von Schmitt gewesen zu sein, gewehrt. Zu Recht, denn der Briefwechsel zeigt einen selbstbewussten Gesprächspartner, der Schmitts Gedanken selbständig anwendet und weiterdenkt. Dabei ist die Nähe der beiden doch unübersehbar. Koselleck liefert immer wieder länger Exkurse aus seiner eigenen Lehre und Forschung, die zeigen, wie eine deutsche Geschichte mit Schmitt’schen Kategorien ausgesehen hätte.
So wagt er im Juni 1976 das Gedankenexperiment eines frühzeitig liberalisierten zweiten deutschen Kaiserreichs: „Wäre freilich eine liberale Reichsverfassung gestiftet worden, so wäre wohl der erste Weltkrieg viel früher ausgebrochen, denn das liberale und nationale Bürgertum hätte nicht so lange gezögert, wie es die konservativen Preussen taten“. Der Schluss sei erlaubt, „dass ein rein bürgerlicher Imperialismus sehr viel eher seine Konflikte mit der SPD nach außen geleitet hätte“.
Carl Schmitt wird bei höherem Alter immer grämlicher und verbitterter, zumal eine neue Generation von Lesern nun mit moralisierender Entschiedenheit seine Texte aus dem Dritten Reich ausgräbt. Die Anwürfe häufen sich, und Schmitt sammelt sie mit Sorgfalt. Koselleck schreibt lange Briefe zu den runden Geburtstagen, die das Maß an Emotionalität, das diesem absichtsvoll unexpressiven Menschen überhaupt möglich war, ausschöpfen.
Koselleck blieb ein Denker ohne jegliches Ressentiment, das unterschied ihn zeitlebens von Schmitt. Darum interessierte ihn auch das Moralismus-Antimoralismus-Spiel nicht, das Schmitt umwaberte. In einem Interview im Anhang dieses noch lange zu studierenden Bandes analysiert er Schmitts nationalsozialistischen Sündenfall als typisch für das deutsche Bildungsbürgertum, jener Formation, der er sich selbst zugehörig wusste.
Reinhart Koselleck/Carl Schmitt: Der Briefwechsel. Herausgegeben von Jan Eike Dunkhase. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 459 Seiten, 42 Euro.
Die bürgerliche Form entlastete
den Umgang für das Wesentliche:
den Gedankenaustausch
Koselleck blieb ein Denker ohne
Ressentiment, das unterschied
ihn vom Lehrer Schmitt
Seit 1947 lebte Carl Schmitt (1888-1985) in Plettenberg, isoliert und gut vernetzt zugleich.
Foto: Carl-Schmitt-Gesellschaft
Reinhart Koselleck (1923-2006) wurde mit seiner Dissertation „Kritik und Krise“ berühmt.
Foto: Erbengemeinschaft Koselleck
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Was lernte der große Historiker Reinhart Koselleck von Carl Schmitt, dem einstigen „Kronjuristen des Dritten Reiches“?
Ihre Korrespondenz wirft ein neues Licht auf die Ideengeschichte der Bundesrepublik
VON GUSTAV SEIBT
Im Sommer 1959, da kannten sich die Korrespondierenden schon seit neun Jahren, hatte Carl Schmitt „noch schnell“ eine Frage an Reinhart Koselleck. Sie betraf eine Formulierung am Schluss von dessen Dissertation „Kritik und Krise“, die endlich publiziert worden war. Schmitt durfte dieses ebenso schmale wie wuchtige Buch als Kind seines eigenen Geistes sehen, und so bereitete er eine kurze, wohlwollende Rezension vor. Doch eine kleine Stichelei konnte er nicht lassen: „Sie sprechen am Schluss Ihres Buches davon, dass sich die Utopie in den Händen des neuzeitlichen Menschen zu (sic) einem politisch ungedeckten Kapital (!) verwandelte und dass der Wechsel erstmals in der Französischen Revolution eingelöst wurde. Ich muss nun als Jurist genauer fragen: Wer hat wem einen Wechsel ausgestellt? Wer hat ihn akzeptiert? Wer hat ihn wem präsentiert? Wer hat ihn bezahlt (eingelöst)?“
Die Fragereihe geht noch etwas weiter, und am Ende bleibt von dem kühnen Bild nichts mehr übrig. Koselleck kann darauf nur summarisch antworten: „Das Bild vom Wechsel ist stehengeblieben, weil es sich sozusagen eingewachsen hatte, ohne dass ich es streng analysiert hätte“. Dann erläutert er es doch sehr gründlich: „Rigoros gefragt“, schließt er, „lässt sich das Bild wohl nicht aufrechterhalten. Aber das trifft schließlich auch auf Symbole zu“.
Die kleine Briefszene lässt etwas von dem Zauber ahnen, die Gespräche mit Schmitt auf eine ganze Schar von jungen Wissenschaftlern seit den Fünfzigerjahren ausübten. Schmitt, wegen seiner Verwicklung in den Nationalsozialismus vom akademischen Unterricht abgeschnitten, wurde durch die berühmten „Gespräche in der Sicherheit des Schweigens“, die Dirk van Laak 1993 erforscht hat, zu einem der einflussreichsten Lehrer der frühen Bundesrepublik. Er war ein Menschenfischer, der einen untrüglichen Instinkt für Hochbegabungen gehabt haben muss, denn er fing sich seine Schüler vielfach noch im studentischen Alter ein. Eine Art von klandestiner Nebenuniversität entstand in Schmitts Haus in Plettenberg, verschwörerisch umraunt und verdächtigt. Ein Dutzend Mal hat Koselleck diesen Ort im Lauf der Jahrzehnte zu oft mehrtägigen Einzelgesprächen aufgesucht.
Der nun vorzüglich edierte Briefwechsel zeigt eine produktive geistige Nähe, die auch Leser überraschen wird, die Schmitts Einfluss auf Koselleck schon bisher nicht unterschätzten. Koselleck hat im Vorwort zu seiner Dissertation Schmitt gedankt. Er hat sich dessen Freund-Feind-Schema zu eigen gemacht, in dem großen Aufsatz zu asymmetrischen Gegenbegriffen, und zwar als Gegenbeispiel: Anders als Hellene und Barbar, Christ oder Heide und ähnliche Begriffspaare, lasse sich die Freund-Feind-Unterscheidung rein formal begreifen, denn sie liefere „das Raster möglicher Antithesen, ohne diese selbst zu benennen“. Sie entwertet also das Gegenüber nicht von vornherein, und so öffnet sie den Raum möglicher Politik.
Das ist eine liberale, fast pluralistische Lesart von Schmitts berüchtigter Definition des Politischen. Und Schmitt hat ihr nicht widersprochen, jedenfalls nicht in diesem dichten und aufmerksamen Austausch, in dem kaum ein Faden liegen blieb. Schließlich hat Koselleck noch kurz vor Schmitts Tod dessen „Buribunken“-Satire als Hohlform neuzeitlicher Utopien gewürdigt, nun auch öffentlich unverstellt verehrungsvoll.
Verehrungsvoll könnte nach erstem Eindruck auch der Briefwechsel wirken. Die Anrede bleibt auf Kosellecks Seite über dreißig Jahre unverändert: „Sehr verehrter Herr Professor“ oder „Sehr verehrter Herr Professor Schmitt“, und auch die Grußformel verzichtet nie auf das immer altmodischer werdende „Ihr ergebener“. Kaum ein Brief ohne Dank, entweder für Sonderdruckgaben oder für Argumente. Häusliche Grüße in steifer bürgerlicher Manier. Der aufs Nebengleis geschobene alte Herr wurde von einem diensteifrigen Schüler, der wie ein Assistent schrieb, auch als er längst schon Professor war, wie ein Großordinarius angeredet: So scheint es, aber natürlich ist bei sprachlich so bewussten Briefschreibern das Moment von Rollenspiel, von eleganter Maske nicht zu verkennen. Die bürgerliche Form entlastete den Umgang für das Wesentliche, den konzentrierten, an Spannung nie nachlassenden geistigen Austausch.
Und die strenge Fassade darf nicht über das Selbstbewusstsein des Jüngeren hinwegtäuschen, der von Anfang an die führende Rolle in dem Gespräch an sich zieht. Bereits der allererste, fünf Seiten lange Brief des Dreißigjährigen zeigt einen fertigen Wissenschaftler, der dem Älteren ein Lebensprogramm unterbreitet. Für den heutigen Leser – anderthalb Jahrzehnte nach Kosellecks Tod – ist es geradezu atemberaubend zu erkennen, wie genau dieser sich an die damals entworfenen Grundlinien gehalten hat.
Begriffsgeschichte als Antwort auf den Historismus, weil sie eben nicht alles verstehend alles gelten lässt, sondern nach den wandelbaren politischen und sozialen Funktionen von Begriffen fragt – das ist ein genuines Erbe von Carl Schmitt, das Koselleck in diesem ersten Brief dankbar annimmt.
Zugleich erklärt er schon hier, wie er jene „historistische Sackgasse“, die ihm Hans-Ulrich Wehler viel später vorhielt, zu vermeiden gedachte. Nämlich durch eine „Geschichtsontologie“, die den Geschichtsphilosophen wie den Relativisten das Wasser abgraben sollte. Später nannte das Koselleck nüchterner eine „Theorie möglicher Geschichten“, die er anthropologisch fundieren wollte. Schon im ersten Brief an Schmitt erwähnt er die Kategorien von „Herr und Knecht“, „Freund und Feind“, Geschlechtlichkeit, Generation und „geopolitische“ Fragen, man kann es auch „Raum“ nennen. Sein späteres Hauptthema, die Zeitlichkeit, erscheint hier noch nicht separat, denn es ist vorausgesetzt.
Wie geläufig ihm solche Frageraster schon in seiner ersten Zeit als Wissenschaftler waren, zeigen Beobachtungen aus dem akademischen Unterricht. „Soziologisch kann man die Studierenden vielleicht in zwei Gruppen teilen“, so Koselleck an Schmitt im November 1955. „In diejenigen, die durch die Erziehung von 1945 ff. geprägt sind, und in die, an denen diese Erziehung bzw. Umerziehung vorübergegangen ist. Sei es durch Elternhaus oder weil sie Flüchtlinge sind oder weil sie dauernd in alten geordneten Verhältnissen aufgewachsen sind. Jedenfalls fehlt fast allen die Erfahrung des Krieges selber. Und darin besteht der entscheidende Abstand zwischen den Studenten und mir.“
Von solchen konkreten Einblicken sind diese Briefe voll, die damit einen fortlaufenden Kommentar zu Kosellecks wachsendem wissenschaftlichen Werk bieten, nicht nur in den Äußerlichkeiten von Karriere und Organisation, sondern im Erfahrungsgehalt, bei Erprobung der Gedanken. Dabei entwickelt sich trotz aller Förmlichkeit eine zuweilen verschwörerisch anmutende Vertraulichkeit mit dem weisen Angeredeten: „Die Entnazifizierungs + Demokratisierungswelle nach 1945 hat offenbar die Erkenntnisträchtigkeit der Besiegten-Situation zerstört, und man erkennt in der Masse der jungen Studenten so recht den ,guten demokratischen’ bzw. den ,alten nationalen’ Geschichtslehrer wieder.“ So im Juli 1956, mitten im langen Weg nach Westen, auf den sich die Bundesrepublik nun endlich begeben hatte.
Erkenntnisträchtigkeit des Besiegten: Näher als bis zu solchen Andeutungen kam Koselleck Schmitts Wunde, seiner nationalsozialistischen Kompromittierung, an keiner Stelle. Das von Hermann Lübbe später diagnostizierte „kommunikative Beschweigen“ zu Fragen des Nationalsozialismus, hier lässt es sich in Aktion und bei vollem Bewusstsein beobachten. Wenn Lord Byrons Napoleon-Kritik als „gehässige moralisierende Kläfferei“ abgetan wird, dann wussten beide, wovon auch die Rede war.
Schmitt wiederum ermutigte den zeitweise in England lehrenden Koselleck, seinen Gastgebern in Rezensionen heimzuleuchten, „weil die Engländer die spezifisch kontinentale Leistung des gehegten Landkrieges endlich begreifen sollten und der Missbrauch der Christlichkeit als evasive Ausflucht nicht länger geduldet werden darf. Dieses C, das an alles angehängt und vorgehängt wird, ist das große Vehikel der Verschmierung.“
Koselleck hat sich noch auf der Fünfzig-Jahr-Feier zu seiner Promotion 2004 gegen den von Jürgen Habermas 1960 erhobenen Vorwurf, ein Sprachrohr von Schmitt gewesen zu sein, gewehrt. Zu Recht, denn der Briefwechsel zeigt einen selbstbewussten Gesprächspartner, der Schmitts Gedanken selbständig anwendet und weiterdenkt. Dabei ist die Nähe der beiden doch unübersehbar. Koselleck liefert immer wieder länger Exkurse aus seiner eigenen Lehre und Forschung, die zeigen, wie eine deutsche Geschichte mit Schmitt’schen Kategorien ausgesehen hätte.
So wagt er im Juni 1976 das Gedankenexperiment eines frühzeitig liberalisierten zweiten deutschen Kaiserreichs: „Wäre freilich eine liberale Reichsverfassung gestiftet worden, so wäre wohl der erste Weltkrieg viel früher ausgebrochen, denn das liberale und nationale Bürgertum hätte nicht so lange gezögert, wie es die konservativen Preussen taten“. Der Schluss sei erlaubt, „dass ein rein bürgerlicher Imperialismus sehr viel eher seine Konflikte mit der SPD nach außen geleitet hätte“.
Carl Schmitt wird bei höherem Alter immer grämlicher und verbitterter, zumal eine neue Generation von Lesern nun mit moralisierender Entschiedenheit seine Texte aus dem Dritten Reich ausgräbt. Die Anwürfe häufen sich, und Schmitt sammelt sie mit Sorgfalt. Koselleck schreibt lange Briefe zu den runden Geburtstagen, die das Maß an Emotionalität, das diesem absichtsvoll unexpressiven Menschen überhaupt möglich war, ausschöpfen.
Koselleck blieb ein Denker ohne jegliches Ressentiment, das unterschied ihn zeitlebens von Schmitt. Darum interessierte ihn auch das Moralismus-Antimoralismus-Spiel nicht, das Schmitt umwaberte. In einem Interview im Anhang dieses noch lange zu studierenden Bandes analysiert er Schmitts nationalsozialistischen Sündenfall als typisch für das deutsche Bildungsbürgertum, jener Formation, der er sich selbst zugehörig wusste.
Reinhart Koselleck/Carl Schmitt: Der Briefwechsel. Herausgegeben von Jan Eike Dunkhase. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 459 Seiten, 42 Euro.
Die bürgerliche Form entlastete
den Umgang für das Wesentliche:
den Gedankenaustausch
Koselleck blieb ein Denker ohne
Ressentiment, das unterschied
ihn vom Lehrer Schmitt
Seit 1947 lebte Carl Schmitt (1888-1985) in Plettenberg, isoliert und gut vernetzt zugleich.
Foto: Carl-Schmitt-Gesellschaft
Reinhart Koselleck (1923-2006) wurde mit seiner Dissertation „Kritik und Krise“ berühmt.
Foto: Erbengemeinschaft Koselleck
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