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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
David Albahari erzählt vom verlorenen Bruder
Filip ist etwas wehleidig und kein Mann schneller Entschlüsse. Als er per Einschreiben einen unerwarteten Brief erhält, macht er ihn nicht einfach auf. Erst schweift er gedanklich ab, danach sucht er in seiner vollgestopften Wohnung den richtigen Platz zum Öffnen. "Dann meinte er, es sei besser, sich in den Sessel zu setzen, als er sich jedoch hinsetzte, schien es ihm, es sei bequemer, auf dem gegenüberliegenden Sofa Platz zu nehmen, aber kaum saß er dort, stand er wieder auf und ging zum Fenster, um sich an die Fensterbank zu lehnen, sie war ihm jedoch zu hart, und er dachte ernsthaft daran, sich auf den Boden zu setzen, tat es aber nicht, weil das Zimmer mit Möbeln vollgestellt war und es auf dem Boden keinen Platz gab."
"Der Bruder" ist also wahrhaftig kein Lesestoff für Menschen, die es eilig haben. Der serbische Schriftsteller David Albahari hat jedenfalls Zeit, viel Zeit. Deshalb dauert es allein schon zwanzig Seiten, bis Filip den Brief entfaltet und sein Blick auf die Unterschrift fällt: "Dein Bruder Robert" steht da. Ein Bruder, von dem er bis dato nichts wusste.
Die Erkenntnis, einen unbekannten Bruder zu haben, trifft Filip hart. Erstens stellen sich die offensichtlichen Fragen: Kann das stimmen? Wie soll das passiert sein? Hat der Vater die Mutter betrogen? Zweitens, und das wiegt bei Filip nicht weniger schwer, sind seine Eltern und seine Schwester lange tot, und sein größter Erfolg im Leben war sein Buch über "Das Leben eines Verlierers", in dem er den Verlust seiner Familie ausgiebig beklagt. Und als wäre dies nicht schon genug Ausdruck seiner Neigung zum Selbstmitleid, ist er jetzt pikiert, weil er durch das Auftauchen eines Bruders im Nachhinein zum Lügner gemacht wird.
Die Vorzeichen für das Treffen der beiden, um das Robert im Brief bittet, stehen daher ungünstig. Nach weiteren sechzig Seiten voller Abschweifungen ist es so weit. Das erste Gespräch der Brüder gestaltet sich anfangs erwartbar: Robert erzählt, warum er nicht mit Filip aufwuchs, die beiden tauschen Fotos und Geschichten aus, und auch eine leise Missstimmung wegen umstrittener Erbstücke bleibt nicht aus. Doch dann verschwindet Robert auf der Toilette und kommt nicht als er selbst zurück - eine Offenbarung, die das dramatische Ende des Abends einleitet.
Ein Roman ist das eigentlich nicht. Eher schon eine Erzählung über eine kurze Zeit im Leben von Filip, das durch das Erlebte einerseits erschüttert wird - und andererseits danach keinerlei sichtbare Spuren aufweist. Das Interessanteste an "Der Bruder" ist jedoch die Erzählperspektive, die Albahari gewählt hat. Es erzählt ein Bekannter von Filip, dem dieser alles berichtet hat. Eine eher sperrige Erzählperspektive, die einiges an Gewöhnung erfordert.
Der Erzähler wird erst allmählich selbst sichtbar, widerspricht hier, kommentiert dort. Er tritt aber nie richtig hervor, es entsteht nur eine ungefähre Ahnung davon, dass er Filip anstrengend finden könnte. So heißt es an einer Stelle: "Das ganze Schicksal ist Illusion, sagte ich, weil ich mich nicht mehr zurückhalten konnte." Am Ende, als Filip gegangen ist, verschließt der Erzähler die Tür hinter ihm. Es bleibt der Eindruck eines spannenden erzählerischen Experiments, das jedoch über diesen Status kaum hinauskommt. "Der Bruder" bleibt Versuch und Fingerübung.
JULIA BÄHR
David Albahari: "Der Bruder". Roman.
Aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann. Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2012. 170 S., geb., 19,95 [Euro].
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