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Solidarität ist ein Erbe Maos, aber bei diesem Schweden reden alle Chinesen gleich: Henning Mankell konfrontiert uns mit unserer Verstrickung in Chinas Geschichte.
Die Welt, in die in einer kalten Januarnacht 2006 der Schrecken einbricht, ist eine Welt, in der es so wenige Überraschungen gibt und in der das Gemütsleben so vollständig mit dem verschmolzen ist, was die Medien darüber sagen, dass sich der Chronist Sätze wie diesen leisten kann: "Danach nahm sie sich vor, das Haus zu putzen, was sonst fast immer zu kurz kam." Das ist der Stil, in dem der schwedische Kriminalautor Henning Mankell (dreißig Millionen verkaufte Bücher) seine Figuren auftreten lässt und damit signalisiert: Es kommt nicht mehr darauf an, was die Einzelnen denken und tun. Wir sind alle von einer größeren Macht umfasst, die "Geschichte" heißt oder "Globalisierung".
In besagter Januarnacht werden in einem abgelegenen schwedischen Dorf achtzehn Rentner und ein Kind auf bestialische Weise ermordet. Bald stellt sich heraus, dass ein Chinese dahintersteckt, der auf diese Weise an der Demütigung seiner Vorfahren vor hundertfünfzig Jahren Rache nimmt; beruflich arbeitet derselbe Chinese zufällig an der Kolonialisierung Afrikas.
Es wäre nicht ganz angebracht, dieses Buch als "Krimi" zu bezeichnen, und auch "Polit-Thriller" trifft es nicht recht. Über weite Strecken schleppt sich die Handlung wie ein träger breiter Fluss dahin. Eher wäre eine Gattungsbezeichnung wie "Gefühlte-Geschichte-mit-aktuellen-Auswirkungen-Roman" berechtigt. Die Originalität beschränkt sich auf die weltgeschichtliche Kolportage. Im ersten Teil werden wir als Folie des unheimlichen Weltenlaufs in das gegenwärtige Schweden eingeführt, das sich im Bild eines "von Schweigen erfüllten Frühstücksraums" verdichtet: "Schweigende Menschen, über Zeitungen und Kaffeetassen gebeugt, jeder mit seinen eigenen Gedanken, seinem eigenen Schicksal befasst." Wir lernen schwedische Frauen und Männer in ihrer Midlife-Crisis kennen. Und es zeigt sich, dass ihr depressiv-individualisiertes Idyll brüchig ist.
Im zweiten Teil wird die Geschichte des jungen Chinesen San erzählt, der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts auf der Flucht vor brutalen Großgrundbesitzern in Kanton Menschenhändlern in die Hände fällt, auf amerikanischen Eisenbahnbaustellen unter einem sadistischen schwedischen Vorarbeiter leiden muss und in Fuzhou bei einem bigotten schwedischen Missionar arbeitet, den er schließlich in einer Entladung lange aufgestauter Wut erschlägt. Wir lernen den Psychopathen Ya Ru in der Pekinger Gegenwart kennen, bei dem dann alles zusammenkommt: Er ist ein Nachfahre Sans, dessen verbittertes Tagebuch er gelesen hat, er ist ein erfolgreicher korrupter Unternehmer mit Beziehungen zu höchsten Regierungskreisen, er will die chinesische Kooperation mit Afrika für seine Interessen ausbeuten, und er hat eine idealistische Schwester in der Partei, die noch an Solidarität glaubt und diese für ein Erbe Maos hält.
In den restlichen beiden Teilen werden dann die solchermaßen aufgehängten Handlungsfäden abgespult. Eine schwedische Richterin namens Birgitta Roslin kommt der unglaublichen Rachegeschichte auf die Spur und gerät in Peking in die Fänge von Geheimdiensten. Der psychopathische Kapitalist und Massenmörder bringt in Afrika seine gerechtigkeitsliebende Schwester um und wird in der Londoner Chinatown seinerseits von deren Sohn erschossen. "Es war größer, tiefer, rätselhafter, als sie sich vorstellen konnten", denkt Roslin einmal. "Eigentlich wussten sie nichts."
Als Verdienst könnte man dem Buch anrechnen, dass es den fatalen Zusammenstoß Chinas mit Europa im neunzehnten Jahrhundert, ohne den seine Gegenwart nicht zu verstehen ist, in eine eingängige dramatische Form bringt. Dem Leser drängen sich Fragen auf, die ins Zentrum der heutigen Veränderungen zielen: Ist sich der Westen überhaupt seiner Verstrickung in Chinas bis heute fortwirkender Geschichte bewusst? Lassen sich die tiefsitzenden Traumata friedlich bewältigen? Wiederholt China mit seinen afrikanischen Aktivitäten den westlichen Imperialismus? Und kann das Land inmitten seines nationalen Aufstiegs und des internationalen Kapitalismus sein Gerechtigkeitsproblem lösen?
Zur letzten Frage nimmt das Buch eine vom Mainstream deutlich abweichende Position ein: gegen die Marktliberalen innerhalb der chinesischen Regierung und für jene solidarischen Kräfte, die der Roman im Sinne der gerechtigkeitsliebenden Schwester für eine Errungenschaft der Revolution hält. Mankell versucht sich dabei mit der gleichen Selbstverständlichkeit in die Gedanken und Gefühle von Pekinger Parteistrategen wie die von schwedischen Provinzpolizeikommissarinnen hineinzuversetzen.
Das aber geht gründlich schief. Die Chinesen in diesem Roman reden zwar bisweilen in blumigen Bildern; ansonsten aber unterscheiden sich Sprache, Denk- und Erlebniswelt kein bisschen untereinander und von dem, was ohnehin täglich in der Zeitung steht. Es ist, als sprächen und empfänden alle gerade so, als würden sie einen Artikel über China mit verteilten Rollen vorlesen.
"Sie bewegte sich in einer Stadt, die in hektischer Verwandlung begriffen war", heißt es da, wenn eine Schwedin Peking betritt und kurz danach natürlich auch noch akute Identitätsauflösungsgefühle im Menschengewimmel bekommt. Die vielen Toten, die waghalsigen Konstruktionen und hochsymbolischen Zufälle des Romans sind auch nicht dazu angetan, diesen Mief zu durchlüften, eher steigern sie ihn noch ins Surreale. Es bleibt die pädagogische Absicht, aber leider glaubt man ihr nicht.
MARK SIEMONS
Henning Mankell: "Der Chinese". Roman. Aus dem Schwedischen übersetzt von Wolfgang Butt. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2008. 606 S., geb., 24,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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