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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Über fragwürdige Mitbringsel unserer Ahnen
Ihr Urgroßvater hat der Familie unserer Autorin einen prächtigen Paravent vererbt. Nach Recherchen über die Herkunft wird ihr ganz flau im Magen," war am 18. Februar 2021 im Berliner "Tagesspiegel" zu lesen. Für die Feuilleton-Redakteurin Nicola Kuhn wurde ihr Beitrag über das vermeintliche Geschenk des chinesischen Kaisers an ihren Vorfahren der Auftakt einer Spurensuche zum Umgang mit Artefakten kolonialer Herkunft in der eigenen und anderen Familien. Das Bild vom chinesischen Wandschirm mit dem riesigen Drachen schmückt jetzt das Cover ihres Buches über ein Sammelsurium privater kolonialistischer Erbstücke, deren damalige Erwerber und ihre Nachkommen als heutige Besitzer der Relikte.
Drachen-Tapisserie, Silbergeschirr, Kriegerschild und Nilpferdpeitsche - das Spektrum von Kuhns kolonialen Fundstücken in privaten Haushalten ist breit. Sie sollten einst "exotisches Flair", Status und Weltläufigkeit von Rückkehrern ins biedere, heimatliche Dasein bringen. Heute irritieren sie zunehmend. Nicola Kuhns sorgfältig recherchierte Reise durch die Geschichte des deutschen Kolonialismus anhand von 11 Fundstücken stellt eine skurrile Mischung von Dingen vor, die Expatriates aus dem Kaiserreich als Souvenirs, Trophäen oder Geschenke von beruflichen Aufenthalten in China, Afrika und der Südsee nach Hause mitnahmen. Die Autorin ist überzeugt: "Hinter jedem Gegenstand verbirgt sich eine komplexe Historie."
Von den Objekten ausgehend wird die Lebensgeschichte der Vorfahren erzählt. Zu Wort kommen danach die heutigen Eigentümer der Mitbringsel. Sie sind in der Regel vier Generationen jünger. In der wachsenden Sensibilisierung für die koloniale Vergangenheit des Kaiserreichs müssen sie einen zeitgemäßen Umgang mit den überkommenen Erbstücken und der oft unbekannten bis verdrängten kolonialen Geschichte ihrer Altvorderen finden. Auch wenn der Kolonialismus Museumswelt und Politik schon länger beschäftigt - im Privaten wird er erst jetzt bewusst, wird "persönlich, was bisher abgehobener Gegenstand einer öffentlichen Debatte gewesen ist," so Kuhn.
Im ersten, vergleichsweise längsten Kapitel ihres Buches geht es um Kuhns eigenes Erbe, den titelgebenden chinesischen Paravent. Ihn brachte ihr Hamburger Urgroßvater Carl Bödiker (1868-1952) vor gut 100 Jahren aus Tsingtau mit, der damaligen "deutschen Musterstadt" an der Nordostküste Chinas. Der erfolgreiche Großkaufmann aus dem noblen Harvestehude rüstete deutsche "Schutztruppen" während des "Boxerkriegs" mit allem Lebensnotwendigen aus. In derselben Funktion wurde er kurz darauf beim Kampf gegen Herero und Nama in Südwestafrika tätig. Parallel dazu betrieb er eine bestens florierende Importfirma. Er brachte es zum preußischen Generalkonsul, einem Millionenvermögen sowie einer prachtvollen Villa an der Außenalster, gefüllt mit Truhen, Silber, Porzellanen und dem bewussten Wandschirm aus China.
Wann, wie und wo Bödiker an das dekorative Stück mit dem Drachentier gelangte, konnte seine Urenkelin nicht rekonstruieren. Vermutlich handelt es sich um Plünderungsgut, das bei der Niederschlagung des sogenannten Boxerkrieges zwischen 1900 und 1901 aus Tempeln, kaiserlichen Palästen, Geschäften und privaten Haushalten in Peking und Nordchina gestohlen wurde. Für die Herkunft aus einem Tempel als Raubgut sprechen auf Kuhns Paravent goldgestickte buddistische Glücksräder neben dem Drachen. In Bödikers Familie allerdings galt der Wandschirm generationenlang als ein direktes Geschenk des chinesischen Kaisers an ihren Ahnherrn. Die Urenkelin ist nun die Erste, die diesen Mythos hinterfragt. Für sie transportiert das Erbstück neben privaten Erinnerungen aus ihrer Kindheit heute vor allem "koloniale Geschichte und die eigene familiäre Involviertheit . . . Der Blick darauf hat sich geändert, angestoßen durch ein gewachsenes koloniales Bewusstsein." Die Autorin ist mit diesem Gefühl in der aktuellen Erbengeneration nicht allein.
Bei den meisten ihrer Gesprächspartner mit einem Erbstück aus der Kolonialzeit beobachtete Nicola Kuhn wie bei sich selbst, dass sich die bisher selten hinterfragte Haltung zu diesem Besitz bei den Urenkeln ändert. Manche empfinden das materielle Erbe sogar als Hypothek, die man gern loswerden möchte wie jene Nilpferdpeitsche unbekannter Herkunft, die der Historiker Dag Hinrichsen einst von seiner Mutter geschenkt bekam. Aber was tun mit solchen Erbstücken? Eine Rückgabe in die Ursprungsländer ist in den seltensten Fällen möglich. Die Verpflichtung dazu besteht für Privatleute sowieso nicht. Im Übrigen sind die vormaligen Ausstellungsstücke für das eigene Heim kaum als Raubkunst zu identifizieren. Familiäres Erbe sei zwar eine Privatangelegenheit, meint Kuhn. Doch durch den kolonialen Kontext habe es eine gesellschaftliche Dimension. Deshalb möchte ihr Buch zumindest "ein Bewusstsein dafür wecken, dass künftig auch im privaten Umfeld Mythen vom ,guten' Kolonialisten nicht mehr unkritisch weitergegeben werden." Für Recherchen über koloniale Erbstücke im eigenen Haushalt empfiehlt Kuhn Museen als Lotsen zur moralischen Selbstvergewisserung. Denn: "Über die Verstrickungen der eigenen Familie nachzudenken wäre ein Anfang." ULLA FÖLSING
Nicola Kuhn: Der chinesische Paravent. Wie der Kolonialismus in deutsche Wohnzimmer kam, dtv, München 2024, 368 Seiten, 25 Euro.
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