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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
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Völkerverständigung heikler Art: Jacques Rivières Betrachtungen eines Kriegsgefangenen
Am 24. August 1914, drei Wochen nach Kriegsbeginn, gerät der französische Unteroffizier Jacques Rivière in deutsche Gefangenschaft. Die Mobilisierung hatte der achtundzwanzigjährige Literaturkritiker und Essayist, der zwei Jahre zuvor Redakteur der schnell an Einfluss gewinnenden "Nouvelle Revue Française" (NRF) geworden war, als großes Glücksgefühl erlebt. Aber von Kampf und Opfer für Frankreich ist jetzt nicht mehr die Rede. Rivière stehen drei Jahre als Kriegsgefangener in Deutschland bevor, fast durchgehend in einem Lager in der westlichen Oberlausitz.
Im Sommer 1917, nach zwei vergeblichen Fluchtversuchen, akzeptiert er schließlich die Regelung, zu der Familie und Freunde ihn angesichts seines prekär gewordenen Gesundheitszustandes drängen: Er wird, immer noch als Kriegsgefangener, aber nunmehr unter Aufsicht des Roten Kreuzes, in die neutrale Schweiz verlegt. Und dort entsteht das Buch, das noch vor dem Kriegsende im Verlag der NRF erscheint und nun, nach fast hundert Jahren, zum ersten Mal auf Deutsch vorliegt: "Der Deutsche".
Sein Untertitel "Erinnerungen und Betrachtungen eines Kriegsgefangenen" lässt zuerst an eine biographische Erzählung denken, die Anekdotisches mit allgemeineren "Betrachtungen" verknüpft. Tatsächlich aber geht Rivière in seinem Buch viel strenger zu Werke. Nicht weniger als einen Grundriss "der" deutschen Psyche möchte Rivière in seinem Buch geben. Zwar ist ihm klar, dass ein Kriegsgefangenenlager dafür kaum repräsentative Anschauung bereitstellt. Doch dieser Umstand bringt ihn von seinem Versuch im Genre Völkerpsychologie nicht ab. Es ist seine Weise, die zermürbende Zeit der Gefangenschaft zu verwinden - durch den Nachweis, dass es "dem Deutschen" an Wesentlichem doch fehle.
Man könnte seine Grundthese sogar, kaum überspitzt, so zusammenfassen, dass dem Deutschen ein solides Wesen überhaupt abgehe. Weshalb er eine tiefsitzende Unbestimmtheit und Leere dauernd überspielen und künstlich zu einer Bestimmtheit bringen muss, die ihm von Natur aus nicht gegeben ist - im Gegensatz zu den Franzosen, denen es an dieser Kernigkeit des Seins gerade nicht mangelt. Der Franzose also hasst und liebt von Herzen, hat ein genaues Empfinden vom Richtigen und Angemessenen, muss sich von entsprechenden Urteilen nicht erst zum Handeln durchdeklinieren, ist überhaupt ein festumrissenes Wesen. Der Deutsche dagegen sieht mangels fester Angelpunkte überall Möglichkeiten, die es auszuloten gilt, und muss dabei den Mangel an Selbstverständlichkeiten durch seinen Willen und ein - letztlich immer nach seinen Zwecken regulierbares - Regelwerk auffüllen.
Man sieht schon an diesem Resümee, dass Rivières Buch zwar mit Stereotypen handelt, aber doch nicht zum populären Hauptstrom der nach 1914 erschienenen Literatur gegenseitiger deutsch-französischer Vorhaltungen und Verunglimpfungen zählt. Dazu verfährt es zu abgehoben, bedient nicht die üblichen Klischees, zumindest nicht direkt. Auf die Umwege, den fast systematischen Zug in Rivières Darstellung, kommt es an.
Schon der Einstieg führt das vor Augen: Was den Deutschen dort attestiert wird, ist nicht nationalistisch angestachelter Hass, um sich schlagende Brutalität oder gar das in den unteren Regionen der Kriegsliteratur beschworene "Hunnentum". In einem ersten Schritt konstatiert Rivière ausweislich des Verhaltens der Deutschen gegenüber den Kriegsgefangenen das Gegenteil: dass der Hass gerade fehle samt der Fähigkeit, die nun einmal über die Gefangenen errungene Gewalt selbstbewusst und mit der richtigen Distanz auszuüben.
Aber diese deutsche Jovialität ist eben nur die Kehrseite des deutschen "manque de crête", des Mangels an klarem Profil und moralischer Spontaneität. An ihre Stelle treten Wille, Pflichtbewusstsein und die unbekümmerte Überschreitung gezogener moralischer Grenzen, wenn es denn dem eigenen Nutzen dient und sich als durchsetzbar erweist. Die Unbestimmtheit schlage dann in härteste Maßnahmen um - etwa in die gnadenlose ökonomische Ausbeutung der Kriegsgefangenen aus dem Osten, weil die über keine ausreichende Schutzmacht verfügen.
Im zweiten Teil seines Buches nimmt Rivière sich dann Texte Paul Natorps vor, in denen dieser seinerzeit prominente Neukantianer vom deutschen Wesen gehandelt hatte. Kein Text, den zu lesen man heute die Geduld aufbringen würde. Aber Rivière nimmt ihn zum Anlass, seine schon getroffene Diagnose nunmehr gerade aus einem Lob des deutschen Nationalcharakters abzuleiten: Was Natorp an jenem zu loben weiß, entpuppt sich bei ihm als Umschreibung genau jener Substanzlosigkeit, die Rivière anprangert - ohne freilich zu leugnen, dass mit ihr entschiedene Vorteile für die deutsche Durchsetzungsfähigkeit und eine Umgestaltung der Welt verknüpft sein mögen.
Rivière war, als das Buch 1918 in Frankreich erschien, in literarischen Zirkeln Deutschlands bereits bekannt. Drei Jahre später erschienen seine "Studien" über Dichter und Musiker auf Deutsch, 1928 - da war er schon drei Jahre tot - sein Briefwechsel mit Paul Claudel aus den Vorkriegsjahren. "L'Allemand" blieb dagegen unübersetzt und wurde nur in akademischen Kreisen besprochen, darunter immerhin von den später berühmt gewordenen Romanisten Victor Klemperer und Werner Krauss; und Natorp formulierte noch eine moderate Antwort.
Man kann das Buch zum Anlass nehmen, einen interessanten Autor mit einem allerdings etwas absonderlichen Buch kennenzulernen. Aber das Unheimliche des Textes liegt wohl darin, dass man bei vielen Passagen gar nicht an die Deutschen von 1914 denkt, sondern an die Jahre ab 1933, als Schritt für Schritt in Deutschland wirklich alle Möglichkeiten erprobt wurden. Rivière konnte darauf nicht mehr reagieren. Bis zu seinem Tod 1925 warb er als Leiter der NRF aber in einer Reihe von Aufsätzen für die wirtschaftlich-politische Annäherung von Frankreich und Deutschland. Ein grundsätzlicher Widerruf seiner Analyse in "L'Allemand", den er 1924 mit einem selbstkritischen Vorwort noch einmal veröffentlichte - die Übersetzung legt diese Fassung zugrunde -, muss das allerdings nicht gewesen sein.
HELMUT MAYER
Jacques Rivière: "Der Deutsche". Erinnerungen und Betrachtungen eines deutschen Kriegsgefangenen. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Daniele Raffaele Gambone. Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2014. 207 S., geb., 19,90 [Euro].
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