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Ein Buch - noch keine Geschichte der Treuhandanstalt
Als die Treuhandanstalt am 1. Juli 1990 zur Eigentümerin von 7894 "Volkseigenen Betrieben" mit vier Millionen Beschäftigten wurde, begann eine der größten Privatisierungsaktionen der Wirtschaftsgeschichte. Für die Transformation einer Planwirtschaft in das System einer Marktwirtschaft gab es kein historisches Vorbild und keinerlei Erfahrungswerte, kein verlässliches Wissen über die ostdeutsche Wirtschaft im Westen und kaum konzeptionelle Vorlaufzeit.
Rasch entfernten sich tatsächliche Erfahrungen von ursprünglichen Erwartungen, und die Treuhandanstalt fand sich mitten im Absturz und im Deindustrialisierungsschock der ostdeutschen Wirtschaft wieder. Bis zu ihrer Auflösung zum 31. Dezember 1994 hatte sie 30,6 Prozent der Betriebe stillgelegt, 53,8 Prozent privatisiert, 13,1 Prozent an Alteigentümer zurückgegeben und 2,6 Prozent in kommunale Trägerschaft überführt. Die meisten privatisierten Betriebe gingen in westdeutschen Besitz über, wo sie in bestehende Unternehmen eingepasst und weitgehend zu ,verlängerten Werkbänken', zu Filialbetrieben ohne eigene Abteilungen für Forschung und Entwicklung umgestaltet wurden. War ursprünglich erhofft worden, dass die Treuhand aus den Privatisierungen zirka 600 Milliarden DM erlösen würde, so schloss sie mit einem Defizit von 230 Milliarden DM ab - zwischen erwartetem Erlös und tatsächlichem Ertrag lag also eine Differenz von sage und schreibe 830 Milliarden DM.
Vor diesem Hintergrund wurde die Treuhandanstalt mit ebenso grundlegender wie unterschiedlicher Kritik belegt: Während das Verdikt des "Ausverkaufs" der Treuhand zu viel Vertrauen in den Markt vorwarf, argumentierten marktorientierte Ökonomen, staatliche Strukturpolitik hätte nur neue Subventionsempfänger zum Schaden der Steuerzahler hervorgebracht. Vor allem wurde die Treuhand zur Projektionsfläche tiefsitzender Enttäuschungen über die Folgen der Einheit, weil die "blühenden Landschaften" nicht ohne Einschnitte und Verwerfungen entstanden, auch in den Lebensläufen der Ostdeutschen. Ein Eigentumstransfer von diesen Dimensionen wurde sowohl Gegenstand von vielfältigen Begehrlichkeiten und unlauteren Machenschaften als auch von Argwohn und Verschwörungstheorien. Was aber war die Regel, was die Ausnahme? War die Treuhand nur Gegenstand von Ressentiments? Oder stand mehr hinter der Institution und ihrer Politik: eine systematische westdeutsche Entwertung der DDR, die westliche Liquidierung potentieller Konkurrenz, flächendeckende Manipulation und Kriminalität?
Die Forschung urteilt in dieser Hinsicht zurückhaltender. Vielmehr hat Wolfgang Seibel (2005) sowohl die große Expertise innerhalb der Treuhandanstalt als auch ihre strategische Chancenlosigkeit gegenüber ihrer Aufgabe herausgestellt, so dass ihr nur die "verwaltende Zerstörung der wirtschaftlichen Illusionen von 1990" übrig geblieben sei. Und die Frage, warum die Treuhand so unglaublich viel weniger erlöste als erwartet, hat Karl-Heinz Paqué in seiner "Bilanz" der deutschen Einheit (2009) mit der Höhe der Altschulden, den 1990 verbreiteten Illusionen über die Qualität des Bestandes sowie falschen Erwartungen künftiger Marktbedingungen und dem enormen Zeitdruck beantwortet.
Zugleich ist die Forschung längst nicht am Ende, und systematische Untersuchungen stehen aus, erst recht eine "wahre Geschichte der Treuhand". Nicht weniger ist der Anspruch von Dirk Laabs, der dem Leser als "investigativer Journalist" gegenübertritt. Er wirft eine Abfolge von Schlaglichtern auf unterschiedliche Schauplätze. Überschrieben mit Einblendungen ("5. August 1990, Ost-Berlin"), wie wir sie aus Fernsehreportagen kennen (das Buch geht aus einer Fernsehdokumentation hervor), präsentiert er eindrückliche Einzelaspekte und personal stories aus jenem großen Transformationsprozess, die Repräsentativität für das Ganze suggerieren. Ob dem so ist, wird freilich ebenso wenig analysiert, wie die Frage nach tragfähigen Alternativen reflektiert wird.
Überhaupt hat sich der Autor mit der Forschung zum Thema kaum beschäftigt. Auch Quellen werden nicht systematisch ausgewiesen, sondern sind aus den Anmerkungen im Einzelnen zu erschließen. Es handelt sich in erster Linie um zeitgenössische Zeitungs- und Zeitschriftenartikel und Memoiren: Die angeblich über 200 Interviews mit fast 100 Beteiligten werden im Buch nur sehr vereinzelt referiert; dass "die wichtigsten Insider erstmals zum Reden" gebracht worden wären, kann man jedenfalls nicht wirklich behaupten. Und wenn Laabs auf Gerichtsurteile über Vereinigungskriminalität (etwa in Sachen Michael Rottmann und der Wärmeanlagenbau Berlin) zurückgreift, dann handelt es sich um juristisch bereits Verfolgtes, nicht um investigative Neuigkeiten.
Dies gilt auch für den Bau der Raffinerie in Leuna, bei der es nicht um Bestechungen von französischer, sondern um immense Subventionen von deutscher Seite ging. Der seinerzeitige sachsen-anhaltische Ministerpräsident Reinhard Höppner (SPD) bemerkte dazu im Interview: "Ich glaube zwar, man hätte gewissenhafter sein können, aber wenn ich jetzt die Wahl hätte, ob man noch 500 Millionen draufgelegt hätte oder nicht . . . , dann würde ich sagen: Es war besser, auch wenn wir damals erpresst worden sind, das Ding dann wirklich zu bauen, als dass wir hier sehr viel langfristigere Schäden hätten verkraften müssen, wenn die Raffinerie nicht gebaut worden wäre." Gerade dies belegt jedoch die (abermals nicht näher diskutierte) Forschungsposition, dass sich das Aktionsfeld der Treuhand vom Anbieter- zum Käufermarkt wandelte, auf dem der Treuhand die (niedrigen) Preise diktiert werden konnten. Dass dabei privatwirtschaftliche Unternehmen und einzelne Personen mehr und weniger rücksichtslos auf die Maximierung des eigenen Vorteils setzten, ist freilich etwas anderes als ein systematischer Ausverkauf der ehemaligen DDR durch das "Schlachthaus" Treuhand, wie Laabs insinuiert, wobei er mehr mit Suggestionen als mit klar formulierten Thesen arbeitet.
Wenn er immer wieder darauf hinauskommt, der Westen habe den Osten überrollt und die Ostdeutschen verletzt, dann ist durchaus etwas daran, gerade hinsichtlich der kulturellen Seite und einer westdeutschen Haltung, die deutsche Einheit zu westlichen Maximalbedingungen zu gestalten. Zugleich lässt Laabs völlig außer Acht, dass die Transformation einer bankrottierten Planwirtschaft, die den westlichen Strukturwandel seit den sechziger Jahren völlig versäumt hatte, in eine Marktwirtschaft in allen postkommunistischen Staaten erhebliche Verwerfungen und Anpassungsleistungen forderte. Und sie lässt ebenso außer Acht, dass der massive Eigentumstransfer von Ost nach West zugleich Teil einer Entwicklung war, mit der die ehemalige DDR ungleich höhere Wohlstandszuwächse erlebte als alle anderen postkommunistischen Gesellschaften.
Dies mag man unterschiedlich gewichten, aber wichtig ist doch, die ambivalenten Elemente überhaupt zu wägen, statt zu allzu einfachen Pauschalaussagen wie dieser zu kommen: "Eine Stunde null gibt es nicht. Die alte Macht wird von neuen Mächten abgelöst." Wie es tragfähig anders hätte sein können, lässt der Autor im Ungewissen. Die Sehnsucht nach der tabula rasa ist freilich, wie wenige Blicke in die Geschichte zeigen, wahlweise unhistorisch oder gefährlich. Das Buch kommt zu dem Schluss, es sei an der Zeit, das Urteil über die Treuhand "durch Fakten zu belegen": "Die Akten müssen von Wissenschaftlern systematisch aufgearbeitet werden, eben weil das Thema so polarisiert." Das ist durchaus richtig - jedenfalls bleibt "die wahre Geschichte der Treuhand" und der Transformation nach 1990 noch zu schreiben.
ANDREAS RÖDDER
Dirk Laabs: Der deutsche Goldrausch. Die wahre Geschichte der Treuhand. Pantheon Verlag, München 2012. 384 S., 16,99 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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