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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Eine teils bedenkenswerte, teils polemische Kritik
Der Ökonom Markus Kerber lehrt Finanzwirtschaft und Wirtschaftspolitik an der TU Berlin. Außerdem war er mehrfach Prozessbevollmächtigter bei Verfassungsbeschwerden in Karlsruhe. Im vorliegenden Buch geht es um die Gefahr des Niedergangs Deutschlands und Europas, um die Kritik an der deutschen Europapolitik seit der Einführung des Euros. Die im Untertitel erwähnte Corona-Krise spielt nur deshalb eine Rolle, weil sie den Anlass oder auch Vorwand für den Wiederaufbaufonds (Next Generation EU) geliefert hat, der die EU auf den Weg in die Transfer- und Schuldenunion festlegt. Trotz des Fragezeichens hinter dem folgenden Titel eines Unterkapitels neigt Kerber zu genau dieser Interpretation "Macron befiehlt, Deutschland folgt".
An dieser wie an anderen Stellen des Buches sollte der Leser über den Text hinaus selbst denken: Auch wenn man die These von der deutschen Gefolgschaft akzeptiert, folgt daraus nicht, dass die deutsche Unterordnung nicht auch im deutschen Interesse sein könnte. Auch im Kalten Krieg war die deutsche Unterordnung unter die Vereinigten Staaten in der Nato und die Einordnung in das von Amerika gestaltete liberale Weltwirtschaftssystem durchaus im Interesse der Westdeutschen - jedenfalls nach Meinung des Rezensenten. Aus der führenden Rolle Emmanuel Macrons bei der Gestaltung des Wiederaufbaufonds kann man noch nicht mal schließen, dass damit wirklich französische Interessen realisiert werden. Diese Möglichkeit wird in dem Buch nur sehr indirekt dadurch angedeutet, dass Kerber das Buch einem verstorbenen französischen Freund und Kritiker der EU widmet. Dass Kerber und sein französischer Freund eine ähnlich kritische Haltung zur Entwicklung der EU haben, impliziert zumindest die Möglichkeit von Fehlentwicklungen, die Deutschen und Franzosen gleichermaßen schaden. Kerbers Bemerkungen zu glücklichen Sklaven deuten an, dass ihn die Frage der Eigenständigkeit von Entscheidungen auf nationaler Ebene mindestens so stark wie die der Nutzenfolgen von Entscheidungen für Individuen interessiert.
Beim Vergleich zwischen der erfolgreichen Bewältigung der Pandemie in Ostasien und dem von Kerber beklagten Versagen im Westen lässt Kerber seine Bewunderung für durchsetzungsfähige und starke Staaten durchblicken. Das Hauptanliegen des Buches ist aber die Analyse des Antagonismus zwischen der wachsenden Brüsseler Bürokratie und Fiskalgewalt einerseits und den nationalen Demokratien der Mitgliedstaaten andererseits. Deren fiskalisches Selbstbestimmungsrecht und die Zuständigkeit des Parlaments für die Haushaltspolitik wird ja dann gefährdet, wenn man im schwer prognostizierbaren Ausmaß für die Schulden anderer Mitgliedstaaten oder der Gemeinschaft herangezogen werden könnte. Nach Kerber untergräbt das nicht nur die Souveränität der Mitgliedstaaten, sondern auch die EU als Rechtsgemeinschaft. Ähnlich kritisch setzt er sich mit der Politik der EZB auseinander. Eine Einhegung der Tätigkeit der Zentralbank durch das geltende Recht kann Kerber jedenfalls nicht erkennen.
Wenn man die Politik von EU und EZB so kritisch wie Kerber sieht, dann muss man mit ihm auch die Frage stellen, ob Deutschland die EU verlassen sollte, falls diese reformunfähig ist. Wenn man die am Ende des Buches besprochenen Überlegungen Olsons zu Aufstieg und Niedergang von Nationen heranzieht und von der nationalen auf die europäische Ebene überträgt, dann ist die Wiedergewinnung der ökonomischen Vitalität durch friedliche Reformen statt Katastrophen eher unwahrscheinlich. Dabei beklagen Olson und Kerber gleichermaßen den Einfluss von Partikularinteressen und unproduktivem Lobbyismus. Kerber beklagt zusätzlich noch "eine demokratische Gewöhnung an eine wachsende Zahl von Arbeitsunwilligen".
Als Alternative zum bestehenden Wirtschaftsraum denkt Kerber an eine zentral- und nordeuropäische Union, der er die Niederlande und das Baltikum, Skandinavien, Tschechien, Österreich und Kroatien, nicht aber Polen zurechnet. Ob Tschechen und Niederländer sich dem anschließen wollten, darf man angesichts der dann unvermeidlichen deutschen Dominanz in diesem Wirtschaftsraum ebenso bezweifeln wie die Toleranz der deutschen Nachbarn in Ost und West für ein Gebilde, das eine diffuse Ähnlichkeit mit dem Deutschen Reich kaum vermeiden könnte. Eine geopolitische Konstellation, in der das realisierbar wäre, erscheint mir einfach undenkbar.
Kerbers Buch ist gut lesbar, wechselt zwischen zeitgeschichtlicher und politischer, ökonomischer und juristischer Analyse. Es ist immer wieder auch polemisch, wobei Emmanuel Macron, Christine Lagarde, die Abgeordneten des Deutschen Bundestags und Angela Merkel beliebte Ziele sind, aber auch die AfD nicht von Hohn und Spott verschont bleibt. Nach Kerber neigen allzu viele Politiker zum Nicht-wissen-Wollen. Ob die Polemik stört oder genossen wird, ist eine Geschmacksache. Man kann sie auch als Ausdruck der Verzweiflung Kerbers über den Zustand Deutschlands und Europas nehmen. Vielleicht ist es richtig, dass eine französisch geführte und von Deutschland wesentlich finanzierte EU am Rande und jenseits des Rechts nicht funktionieren wird, dass eine Kurskorrektur mit jedem weiteren Schritt in die falsche Richtung immer teurer wird, aber eine überzeugende Alternative ist offenbar nicht leicht zu finden.
ERICH WEEDE.
Markus C. Kerber: Der deutsche Selbstmord. Wie unser Land in der Corona-Krise für Europa geopfert wird. München: Finanzbuch Verlag 2021, 217 Seiten, 15 Euro.
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