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Ein aufschlussreicher Krimi aus den digitalen Niederungen
Das Internet erschüttert westliche Demokratien. Trolle begraben Wähler in den sozialen Netzwerken unter Falschinformationen, Hacker dringen in Parlamente ein, legen Elektrizitätswerke lahm, und Kriminelle verschlüsseln die Systeme von Krankenhäusern, um sie zu erpressen. Jeden Tag finden solche Angriffe statt, und doch erfährt die Öffentlichkeit selten etwas darüber. Nur wenige verstehen überhaupt, was in den Netzwerken vor sich geht, und die Hacker nutzen jede Gelegenheit, um sich unsichtbar zu machen. Selbst wenn sie enttarnt werden, müssen sie kaum Konsequenzen fürchten. Russland, China und Iran liefern niemanden aus. Schon gar nicht Leute, die wissen, wie man das Rückgrat der modernen Welt manipuliert. Das Ergebnis ist ein "digitaler Weltkrieg, den keiner bemerkt".
Genau so heißt ein Sachbuch des niederländischen Investigativjournalisten Huib Modderkolk, das herausragt. Es besticht nicht so sehr durch seine Exklusivität. Vielmehr recherchiert Modderkolk schon seine gesamte journalistische Karriere über in den verborgenen Ecken des Netzes, und genau das macht die Stärke seines Werks aus: Modderkolk nimmt den Leser mit auf seine Reise, vom faszinierten Laien, der sich 2013 durch die Enthüllungen des ehemaligen Geheimdienstmitarbeiters Edward Snowden für die digitale Welt zu interessieren beginnt, bis hin zum bestens vernetzten Journalisten, der Kontakte zu Geheimdienstmitarbeitern in aller Welt aufgebaut hat.
Über die Jahre versteht Modderkolk immer besser, welch destabilisierendes Potential das Internet birgt. Der Weg, den er dabei zurücklegt, und die Erkenntnisse, die er gewinnt, sind ähnlich denen der gesamten Gesellschaft. Da ist nach Snowden zuerst das Entsetzen über die fast allumfassende Spionage der Geheimdienste im Netz. Die Diskussion über Schnüffelei und Privatsphäre wird aber schnell von anderen Dingen überlagert. Schon bald geht es um das digitale Wettrüsten der Großmächte. China und Russland greifen an, wo immer sie können, Amerika und seine Verbündeten versuchen mitzuhalten. Und je mehr Smartphones im Umlauf sind, je mehr Technik in den Autos und Fabriken steckt, desto verwundbarer wird die Welt durch die Attacken.
Modderkolk hat viele solcher Angriffe beobachtet, und weil er sie zum Teil selbst mit aufdeckte, lesen sich seine Rekonstruktionen wie ein Krimi. Ein Beispiel: 2011 wird ein Leck in der niederländischen Firma "Digi Notar" bemerkt. Das Unternehmen stellt digitale Zertifikate aus, etwa für Google. Eine wichtige Aufgabe: Wer auf eine Internetseite geht, muss sicher sein, dass es die echte ist. Er muss darauf vertrauen können, dass hinter der Website der Bank nicht ein Krimineller sitzt, der seine Zugangsdaten raubt. Deshalb fragt der Browser, mit dem man im Internet surft, automatisch das Zertifikat einer Website ab. Ist es abgelaufen oder nicht in Ordnung, warnt er den Nutzer.
Doch dann stellt sich heraus, dass jemand die Zertifikate der Firma gefälscht hat. Eigentlich ist das unmöglich. Der Raum, in dem Mitarbeiter die Zertifikate ausstellen, ist ähnlich gut geschützt wie ein Tresorraum. Wer reinwill, muss mehrere Sicherheitskontrollen durchlaufen, nur wenige haben überhaupt Zutritt. Die letzte Tür öffnet sich erst nach einer biometrischen Kontrolle und Eingabe eines persönlichen Pin-Codes, es gibt keine Verbindung zum Internet.
Die niederländischen Behörden werden alarmiert. Zunächst versteht keiner, was so schlimm sein soll. Aber die Firma stellt auch Zertifikate für viele Häfen im Land aus. Sollte sich in der Öffentlichkeit herumsprechen, dass sie unsicher sind, droht der Wirtschaft großer Schaden. Schiffe könnten ihre Ladung nicht mehr löschen, Lastwagen hingen fest.
Informatiker und Beamte arbeiten die Nächte durch, um herauszufinden, was los ist. Schließlich kommt heraus, dass Mitarbeiter der Firma ein Kabel in den gesicherten Raum verlegt haben - um sich die Arbeit zu erleichtern. Im Raum ist es kalt, es dauert lange, bis man überhaupt drin ist, und mit dem Kabel können alle die Zertifikate bequem vom Schreibtisch ausstellen. Damit sind die Sicherheitsvorkehrungen hinfällig. Als es einem Hacker gelingt, in den Computer eines Angestellten einzudringen, kommt er auch an die Zertifikate. Schlimmer noch: Der Hacker stammt aus Iran, und das dortige Regime baut mit seinem Fang eine täuschend echte Google-Seite nach, um Hunderttausende Dissidenten auszuhorchen. Das ist die Realität der vernetzten Welt: Eine Nachlässigkeit in Holland kann zum Tod eines Menschen in Iran führen. Modderkolk führt das luzide vor Augen.
Sein Buch macht aber noch mehr deutlich, vor allem den Wert der Recherche. Mit bemerkenswerter Hartnäckigkeit baut sich Modderkolk ein Netz aus Informanten auf. Er muss vorsichtig sein, denn seine Kontakte sind gefährdet. Wer Geheimnisse preisgibt, dem drohen lange Haftstrafen. Nachrichten schreibt Modderkolk daher nur über verschlüsselte Chats. Er telefoniert kaum, und wenn, dann nur mit einem Prepaidhandy, dessen Karte er anschließend wegwirft. Bei jedem Treffen lässt er sein Smartphone zu Hause, Gespräche zeichnet er gar nicht erst auf. Trotzdem dauert es manchmal Monate, bis Informanten reden. Andere tun es überhaupt nicht. Viele Spuren verlaufen sich, andere kann Modderkolk erst Jahre später wiederaufnehmen.
Dafür begibt er sich sogar in Lebensgefahr. Einmal fliegt er nach Russland, um einen berüchtigten Cyberkriminellen zu treffen. Doch der Mann öffnet nicht. Im Hafen, wo seine Yacht liegt, wird Modderkolk von einem Schlägertrupp eingekesselt. "Wir können euch auch gleich umbringen", sagen sie, lassen Modderkolk und seinen Dolmetscher aber doch ziehen. Ein anderes Mal reist der Journalist mit einem Kollegen nach Washington; kurzerhand klingeln sie beim ehemaligen Direktor der Nationalen Nachrichtendienste, James Clapper, um ihn zu befragen. Der verdutzte Geheimdienstmann öffnet in Gartenkleidung die Tür und verjagt die Journalisten mit den Worten, so etwas habe er "in 50 Jahren noch nicht erlebt".
Zwischen den Zeilen wird deutlich, dass Modderkolks Kollegen und Vorgesetzte nicht immer begeistert sind. Er bleibt unbeirrt. Manchmal blitzt Stolz auf das auf, was er da tut, mitunter Eitelkeit. Man kann sie ihm nachsehen. Modderkolks Recherchen verschaffen dem Leser tiefgreifende Erkenntnisse über den digitalen Wandel. Zum Beispiel, dass es nicht allein auf Fähigkeiten der Angreifer oder Schwachstellen des Opfers ankommt. Sondern genauso auf die Ebene dazwischen, etwa die Provider. Sein Buch macht deutlich, dass zahlreiche Datenzentren in den Niederlanden von Russen betrieben werden, die damit etwas zu schnell zu Millionären wurden. Helfen sie dem Staat, Ziele für Angriffe auszuspionieren? Die Niederlande können es nicht beweisen, Modderkolk auch nicht. Aber er schärft das Problembewusstsein. Das ist viel. Denn, so heißt es an einer Stelle im Buch: "Digitale Welt und Finanzwelt gleichen sich: Beide sind unauflöslich mit der modernen Gesellschaft verbunden, und beide sind intransparent."
MORTEN FREIDEL.
Huib Modderkolk: Der digitale Weltkrieg den keiner bemerkt.
ecowin Verlag, Salzburg 2020. 319 S., 22,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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