Gute Literatur, hat Marcel Reich- Ranicki gesagt, ähnele einem Koffer für Schmuggelware. Auch sie hat einen doppelten Boden, in dem sich Dinge zunächst unsichtbar transportieren lassen. Und selbst wenn der Leser versteckte Bedeutungen nicht entdeckt, genießt er doch die Lektüre. Denn gute Literatur sei vor allem eines: nicht langweilig. In den Gesprächen, die der Literaturwissenschaftler Peter von Matt in den Jahren 1986 bis 1991 mit Marcel Reich-Ranicki geführt hat, geht es um Fragen wie diese: Welche Aufgaben, welche Bedeutung hat Literaturkritik? Wie ist es um das Verhältnis zwischen Literaturwissenschaft und Literaturkritik bestellt? Die Werke welcher Autorinnen und Autoren sollten wir alle lesen und warum? Der Germanist und Nachlassverwalter Marcel Reich-Ranickis, Thomas Anz, hat den Interviews vier spätere Essays von Matts über Reich-Ranicki hinzugefügt und sie mit einem Vorwort versehen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.05.2020Nachlässigkeit bedeutet Respektlosigkeit oder Schlimmeres
Über Literatur und fast alle anderen wichtigen Dinge: Marcel Reich-Ranicki und Peter von Matt begegnen einander im Gespräch auf Herzenshöhe
Sie reden über die Literatur, das Leben und das literarische Leben. Sie reden über Lessing, Schlegel, Goethe, Shakespeare und Brecht. Über das Theater, den Roman, Heines Gedichte und Thomas Manns Essays. Über jüdische Schriftsteller, überhaupt über die Rolle der Juden in der deutschen Kultur, über Exilanten und Antisemitismus. Über Max Frisch, Thomas Bernhard, Heinrich Böll und Christa Wolf. Über Anna Seghers und Ingeborg Bachmann. Über die Kritik, ihre Möglichkeiten und Grenzen. Über die Arbeit in einer Redaktion, über Neid, Existenznöte und Literaturpreise. Über den Kommunismus und die Nationalsozialisten, die Frankfurter Auschwitz-Prozesse und das Ende der DDR. Gibt es irgendein Thema, irgendeinen in literarischer Hinsicht belangvollen Gegenstand, auf den Marcel Reich-Ranicki und Peter von Matt während dieses mehr als zweihundert Seiten langen Gesprächs nicht zu sprechen kommen? Ja, etwas gibt es. Es ist keine Kleinigkeit. Dazu später.
Peter von Matt, Professor für Literaturwissenschaft in Zürich und hochgeschätzter Mitarbeiter der Frankfurter Anthologie, und Marcel Reich-Ranicki, damals seit dreizehn Jahren Literaturchef dieser Zeitung, führten 1986 ein langes Gespräch, das 1991 eine deutlich kürzere Fortsetzung fand. Für die gab es gute Gründe: Reich-Ranicki, mittlerweile 71 Jahre alt, hatte die Leitung des Literaturteils der Zeitung Ende 1988 abgegeben, sich aber mit dem "Literarischen Quartett" ein zusätzliches Forum in einem anderen Medium geschaffen. Er war bekannter und populärer als je zuvor. Außerdem hatten mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der deutschen Wiedervereinigung die politischen Verhältnisse, in denen Literatur entstand und auf die sie nicht selten Bezug nahm, entscheidende Veränderungen erfahren. Es hatte sich also vieles geändert. Was hatte sich bestätigt, was war zu revidieren? Wie war nun der fünf Jahre zuvor geführte Diskurs über die "vier deutschsprachigen Literaturen" aus BRD, DDR, Österreich und der Schweiz zu beurteilen und fortzusetzen? Wie stand es um jene vieldiskutierten Bücher und ihre Verfasser, für die sich das nie unumstrittene Signet "DDR-Literatur" etabliert hatte?
Dass aus den Gesprächen ein Buch wurde, ging auf die Initiative des 2017 verstorbenen Verlegers Egon Ammann zurück. In seinem Verlag erschien "Der doppelte Boden" erstmals 1992, gefolgt von einer Taschenbuchausgabe bei S. Fischer und jetzt der Neuausgabe, die der Kampa Verlag um ein Vorwort von Thomas Anz und vier Essays Peter von Matts über Reich-Ranicki ergänzt hat. Ein 28 Jahre alter Gesprächsband über Literatur - wer soll das lesen? Jeder, für den das Gespräch über Literatur ein Teil der Literatur und ihrer Sphären ist. Jeder, der erleben möchte, wie Literaturgeschichte im lebendigen Gespräch selbst lebendig wird, wie die Beschäftigung mit Literatur aussehen kann, wenn sie nicht nur zur Leidenschaft und Profession, sondern darüber hinaus zur Lebensform geworden ist. Und schließlich jeder, der das seltene Ereignis einer fruchtbaren Begegnung zwischen einem Literaturkritiker und einem Literaturwissenschaftler miterleben möchte. Wer dem alten, oft wiedergekäuten Vorurteil anhängt, Reich-Ranicki habe eine tiefverwurzelte Abneigung gegen alles Akademische gehegt, dürfte sich wundern, wenn er diesen im Vorwort zitierten Satz aus der Autobiographie "Mein Leben" liest: "Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Überwindung der traditionellen, der unseligen Kluft zwischen der deutschen Universitätsgermanistik und der Literaturkritik, vornehmlich der Kritik in der Presse, zum Wichtigsten gehört, was mir in den fünfzehn Jahren in der Frankfurter Allgemeinen gelungen ist." Nicht nur Thomas Anz und Peter von Matt, sondern auch Gerhard Schulz, Wulf Segebrecht und nach ihnen Germanisten wie Heinrich Detering und Steffen Martus werden ihm zustimmen.
Das heißt natürlich nicht, dass die unterschiedlichen Positionen sich so weit annäherten, dass es keine Meinungs- und Verfahrensunterschiede mehr gäbe. Es geht nicht um Übereinstimmung und Konsens, es geht um den Austausch von Argumenten und Perspektiven, um Streit, Erkenntnis und Vergnügen. Literaturkritik wird hier in jenen Kontext gerückt, in den sie wie jede Ausdrucksform eines mündigen und kritischen Bewusstseins gehört: "Der Wille zur Demokratie, der das ganze heutige Europa trägt, ist auch ein Wille zum öffentlichen politischen Streit, wie erbittert es dabei immer zugehen mag, und wer diesen öffentlichen politischen Streit diffamiert, votiert damit für eine politische Macht, die nicht mehr vom souveränen Volk ausgeht und nicht mehr von diesem Volk auf Zeit und Zusehen hin delegiert wird." Auch die Macht des Kritikers, so Peter von Matt, ist nur delegiert - vom weitverbreiteten Volk der Lesenden.
Gibt es denn keine Anekdoten in diesem Band? Keine schlagfertigen Repliken und scharfkantigen Bonmots? Doch, alles vorhanden, aber im Vordergrund steht etwas anderes, stehen zwei Faktoren, die in der Person Reich-Ranickis unauflöslich zueinander gefunden hatten: "Lieben kann jeder; beim Arbeiten kommt noch etwas hinzu" lautet Peter von Matts Umschreibung eines aus der Leidenschaft - aber auch aus der bittersten existentiellen Erfahrung während der Verfolgung durch die Nationalsozialisten - gespeisten Arbeitsethos, das keine Schlamperei ertragen konnte. Denn Nachlässigkeit bedeutet Respektlosigkeit oder Schlimmeres. Im Warschauer Getto hatte es den Tod bedeuten können.
Was fehlt nun also in diesem Band? Es ist die Frage nach der Zukunft, dem Fortbestehen der Literaturkritik. Sie wird nicht gestellt, als schiene sie beiden Gesprächspartnern, die einander in ihrer Liebe zur Literatur auf Herzenshöhe begegnen, vollständig überflüssig. Dafür gibt es eine simple Erklärung. Für Reich-Ranicki war die Literaturkritik ein natürlicher Bestandteil der Literatur und ihrer Sphären, so dass er hoffte, die eine könne und wolle ohne die andere nicht sein. Und um die Zukunft der Literatur machte er sich nun wirklich keine Sorgen, wozu auch: "Ob man das Buch noch aus Papier herstellen wird oder aus anderen Stoffen, nun also, das interessiert mich eigentlich nicht."
HUBERT SPIEGEL
Marcel Reich-Ranicki:
"Der doppelte Boden".
Ein Gespräch über Literatur und Kritik mit Peter von Matt.
Hrsg. von Thomas Anz.
Kampa Verlag, Zürich 2020. 288 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Über Literatur und fast alle anderen wichtigen Dinge: Marcel Reich-Ranicki und Peter von Matt begegnen einander im Gespräch auf Herzenshöhe
Sie reden über die Literatur, das Leben und das literarische Leben. Sie reden über Lessing, Schlegel, Goethe, Shakespeare und Brecht. Über das Theater, den Roman, Heines Gedichte und Thomas Manns Essays. Über jüdische Schriftsteller, überhaupt über die Rolle der Juden in der deutschen Kultur, über Exilanten und Antisemitismus. Über Max Frisch, Thomas Bernhard, Heinrich Böll und Christa Wolf. Über Anna Seghers und Ingeborg Bachmann. Über die Kritik, ihre Möglichkeiten und Grenzen. Über die Arbeit in einer Redaktion, über Neid, Existenznöte und Literaturpreise. Über den Kommunismus und die Nationalsozialisten, die Frankfurter Auschwitz-Prozesse und das Ende der DDR. Gibt es irgendein Thema, irgendeinen in literarischer Hinsicht belangvollen Gegenstand, auf den Marcel Reich-Ranicki und Peter von Matt während dieses mehr als zweihundert Seiten langen Gesprächs nicht zu sprechen kommen? Ja, etwas gibt es. Es ist keine Kleinigkeit. Dazu später.
Peter von Matt, Professor für Literaturwissenschaft in Zürich und hochgeschätzter Mitarbeiter der Frankfurter Anthologie, und Marcel Reich-Ranicki, damals seit dreizehn Jahren Literaturchef dieser Zeitung, führten 1986 ein langes Gespräch, das 1991 eine deutlich kürzere Fortsetzung fand. Für die gab es gute Gründe: Reich-Ranicki, mittlerweile 71 Jahre alt, hatte die Leitung des Literaturteils der Zeitung Ende 1988 abgegeben, sich aber mit dem "Literarischen Quartett" ein zusätzliches Forum in einem anderen Medium geschaffen. Er war bekannter und populärer als je zuvor. Außerdem hatten mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der deutschen Wiedervereinigung die politischen Verhältnisse, in denen Literatur entstand und auf die sie nicht selten Bezug nahm, entscheidende Veränderungen erfahren. Es hatte sich also vieles geändert. Was hatte sich bestätigt, was war zu revidieren? Wie war nun der fünf Jahre zuvor geführte Diskurs über die "vier deutschsprachigen Literaturen" aus BRD, DDR, Österreich und der Schweiz zu beurteilen und fortzusetzen? Wie stand es um jene vieldiskutierten Bücher und ihre Verfasser, für die sich das nie unumstrittene Signet "DDR-Literatur" etabliert hatte?
Dass aus den Gesprächen ein Buch wurde, ging auf die Initiative des 2017 verstorbenen Verlegers Egon Ammann zurück. In seinem Verlag erschien "Der doppelte Boden" erstmals 1992, gefolgt von einer Taschenbuchausgabe bei S. Fischer und jetzt der Neuausgabe, die der Kampa Verlag um ein Vorwort von Thomas Anz und vier Essays Peter von Matts über Reich-Ranicki ergänzt hat. Ein 28 Jahre alter Gesprächsband über Literatur - wer soll das lesen? Jeder, für den das Gespräch über Literatur ein Teil der Literatur und ihrer Sphären ist. Jeder, der erleben möchte, wie Literaturgeschichte im lebendigen Gespräch selbst lebendig wird, wie die Beschäftigung mit Literatur aussehen kann, wenn sie nicht nur zur Leidenschaft und Profession, sondern darüber hinaus zur Lebensform geworden ist. Und schließlich jeder, der das seltene Ereignis einer fruchtbaren Begegnung zwischen einem Literaturkritiker und einem Literaturwissenschaftler miterleben möchte. Wer dem alten, oft wiedergekäuten Vorurteil anhängt, Reich-Ranicki habe eine tiefverwurzelte Abneigung gegen alles Akademische gehegt, dürfte sich wundern, wenn er diesen im Vorwort zitierten Satz aus der Autobiographie "Mein Leben" liest: "Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Überwindung der traditionellen, der unseligen Kluft zwischen der deutschen Universitätsgermanistik und der Literaturkritik, vornehmlich der Kritik in der Presse, zum Wichtigsten gehört, was mir in den fünfzehn Jahren in der Frankfurter Allgemeinen gelungen ist." Nicht nur Thomas Anz und Peter von Matt, sondern auch Gerhard Schulz, Wulf Segebrecht und nach ihnen Germanisten wie Heinrich Detering und Steffen Martus werden ihm zustimmen.
Das heißt natürlich nicht, dass die unterschiedlichen Positionen sich so weit annäherten, dass es keine Meinungs- und Verfahrensunterschiede mehr gäbe. Es geht nicht um Übereinstimmung und Konsens, es geht um den Austausch von Argumenten und Perspektiven, um Streit, Erkenntnis und Vergnügen. Literaturkritik wird hier in jenen Kontext gerückt, in den sie wie jede Ausdrucksform eines mündigen und kritischen Bewusstseins gehört: "Der Wille zur Demokratie, der das ganze heutige Europa trägt, ist auch ein Wille zum öffentlichen politischen Streit, wie erbittert es dabei immer zugehen mag, und wer diesen öffentlichen politischen Streit diffamiert, votiert damit für eine politische Macht, die nicht mehr vom souveränen Volk ausgeht und nicht mehr von diesem Volk auf Zeit und Zusehen hin delegiert wird." Auch die Macht des Kritikers, so Peter von Matt, ist nur delegiert - vom weitverbreiteten Volk der Lesenden.
Gibt es denn keine Anekdoten in diesem Band? Keine schlagfertigen Repliken und scharfkantigen Bonmots? Doch, alles vorhanden, aber im Vordergrund steht etwas anderes, stehen zwei Faktoren, die in der Person Reich-Ranickis unauflöslich zueinander gefunden hatten: "Lieben kann jeder; beim Arbeiten kommt noch etwas hinzu" lautet Peter von Matts Umschreibung eines aus der Leidenschaft - aber auch aus der bittersten existentiellen Erfahrung während der Verfolgung durch die Nationalsozialisten - gespeisten Arbeitsethos, das keine Schlamperei ertragen konnte. Denn Nachlässigkeit bedeutet Respektlosigkeit oder Schlimmeres. Im Warschauer Getto hatte es den Tod bedeuten können.
Was fehlt nun also in diesem Band? Es ist die Frage nach der Zukunft, dem Fortbestehen der Literaturkritik. Sie wird nicht gestellt, als schiene sie beiden Gesprächspartnern, die einander in ihrer Liebe zur Literatur auf Herzenshöhe begegnen, vollständig überflüssig. Dafür gibt es eine simple Erklärung. Für Reich-Ranicki war die Literaturkritik ein natürlicher Bestandteil der Literatur und ihrer Sphären, so dass er hoffte, die eine könne und wolle ohne die andere nicht sein. Und um die Zukunft der Literatur machte er sich nun wirklich keine Sorgen, wozu auch: "Ob man das Buch noch aus Papier herstellen wird oder aus anderen Stoffen, nun also, das interessiert mich eigentlich nicht."
HUBERT SPIEGEL
Marcel Reich-Ranicki:
"Der doppelte Boden".
Ein Gespräch über Literatur und Kritik mit Peter von Matt.
Hrsg. von Thomas Anz.
Kampa Verlag, Zürich 2020. 288 S., geb., 25,- [Euro].
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