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Der Teufel steckt in der Digitalisierung: Nicholson Baker kämpft mit Leidenschaft für das Leben der Bücher / Von Paul Ingendaay
Die Erstausgabe von Henry James' autobiographischem Buch "Notes of a Son and Brother" (New York 1914) war letzten Mai in Boston für neunzig Dollar zu haben. Die Erstausgabe! Jetzt liegt das Buch hier auf dem Tisch. Der Rücken ist verblichen, aber solide, die Bindung exzellent, die fünfhundert Seiten der alten Typographie auf diesem nicht mehr ganz jungen Papier sind eine Augenweide.
Am anderen Ende des Kontinents, in Seattle, war ein paar Tage vorher eine fünfundzwanzigbändige "Encyclopaedia Britannica" (der amerikanische Nachdruck aus Philadelphia, 1875 bis 1890) für dreihundert Dollar zu kaufen. Anderthalb Regalmeter des besten Konversationslexikons der Welt, mit Lederrücken und in gutem Zustand, aus einer Zeit, als Melville noch lebte und Darwin noch nicht einmal lexikographisch erfaßt war! Der amerikanische Freund sagte: "Die Bände stehen da schon seit einem Jahr. Siehst du das Preisschild? Heruntergesetzt von fünfhundert auf dreihundert Dollar. Keiner will so etwas haben." Irrtum. Band eins liegt jetzt hier auf dem Tisch, der Rest ein paar Meter weiter. Drei Sätze dieser englischen Prosa, und man weiß, daß man es mit unabhängigen Köpfen zu tun hat, deren stilistische Klasse die heutige Lexikographie weit in den Schatten stellt.
Einem Mann wie dem amerikanischen Schriftsteller Nicholson Baker, Jahrgang 1957, müßte man den Wert solcher Bücher nicht erklären. Baker, der hingebungsvolle Beschreiber der kleinen Gegenstände, ist ein Fetischist der physischen Welt. Alte Sachen, neue Sachen, alles erregt sein Interesse. Was sich anfassen, biegen und drehen läßt, was knistert, knarrt, surrt oder seufzt, was schroffe Kanten hat oder Wellenlinien wirft, kurz: was überhaupt Sinnesreize an den Wahrnehmungsapparat des Menschen aussendet, verdient in Bakers Augen höchste Aufmerksamkeit. In seinem Buch "The Mezzanine" (deutsch "Rolltreppe oder Die Herkunft der Dinge", 1991) singt er das Lob der Konsumgüterindustrie, indem er präzise ihre Designs, Mechanismen, Aufschriften und Verpackungen schildert. Darunter auch eine erstaunliche Erfindung wie die Perforation, die "ein zeitumwälzendes Gefühl für die einzigartigen Eigenschaften von zu Brei verarbeiteten Holzfasern zeigt. Doch gibt es einen nationalen Feiertag zu Ehren dieser Entwicklung?" Nein, den gibt es nicht. Und damit sind wir beim Thema von Bakers neuem Buch, das Helmut Frielinghaus und Susanne Höbel stimmig und mit titanenhafter Forschergenauigkeit ins Deutsche übersetzt haben. "Der Eckenknick oder Wie die Bibliotheken sich an den Büchern versündigen", im Original aus dem Jahr 2001, ist eine große Streitschrift gegen die Digitalisierung von Texten zu Lasten des physischen Buches.
Es fing damit an, daß Baker vor mehr als zehn Jahren einen Essay über den Reiz von Zettelkatalogen in Bibliotheken schreiben wollte. Da stellte er fest, daß Zettelkataloge überall abgeschafft werden. Dann forschte er ein wenig über den Verbleib alter Zeitschriftenjahrgänge nach, jener riesigen gebundenen Bände, die in Bibliotheken früherer Jahrzehnte ein vertrauter Anblick waren. Jetzt machte Baker eine furchtbare Entdeckung: Die Kongreßbibliothek in Washington und weitere renommierte Häuser waren dabei, ihre Papierbestände zu digitalisieren und dabei in Kauf zu nehmen, daß die Originalbücher ausgeschlachtet, zerstört oder verramscht wurden.
Das Thema nahm den Schriftsteller gefangen und beherrschte ihn schließlich ganz: Nur so ist die enorme Sammel- und Forscherleistung zu verstehen, die hinter diesem Buch mit seinen 350 Seiten Text sowie 150 Seiten Anmerkungen, Register und Bibliographie steckt. Baker wollte es nicht nur sehr genau wissen, er muß auch so ziemlich jeder Spur gefolgt sein, die sich ihm unterwegs zeigte, und hat viele Dutzend Gespräche mit Spezialisten für die entlegensten Gegenstände geführt. So daß seine Streitschrift zu einer gewaltigen Dokumentation gerät, die erst Respekt abnötigt und dann angst macht. Denn was Nicholson Baker in diesem Buch beschreibt, läuft auf eine gigantische Dummheit im amerikanischen Bildungswesen der letzten Jahrzehnte hinaus, einen kostspieligen, verblendeten Unfug, der den Kindern und Kindeskindern der heute Verantwortlichen für immer einen substantiellen Teil ihres historisch-dokumentarischen Erbes geraubt hat.
Eine der großen Linien in Bakers Schilderung betrifft die Mikroverfilmung. Viele kennen Mikrofilme aus der Bibliothekspraxis: behäbig, unpraktisch, oft von lausiger Qualität; die Kopien, die solche Geräte ausspucken, spotten jeder Beschreibung. Baker weist nach, welche Ideologie den ganzen Mikroverfilmungswahn in Gang gesetzt hat. Das erste Argument war Raummangel, das zweite die angeblich praktischere Handhabung. Und dahinter stand ein großer Mangel an historischer Phantasie, denn offenbar fanden selbst die Direktoren der großen amerikanischen Universitätsbibliotheken in Harvard, Yale, Cornell und vielen anderen nichts dabei, ihre vollständigen Jahrgänge von Tageszeitungen und Zeitschriften für die Mikroverfilmung zu zerlegen und sich fortan mit teils mangelhaften, teils unvollständigen Mikrofilmkopien zu begnügen.
Die zerstörten Zeitungsbände waren nach der Prozedur natürlich wertlos. Sie wurden abgestoßen, teils an kommerzielle "Ausschlachter", die auf einem wachsenden Nostalgiemarkt einzelne Geburtstagsnummern einer bestimmten Tageszeitung für 39,50 Dollar pro Stück verscherbeln. "Die Firma Historic Newspaper Archives", schreibt Baker, "besitzt zur Zeit wahrscheinlich die umfangreichste ,Sammlung' amerikanischer Zeitungen nach 1880, die es in unserem Land oder irgendwo sonst auf der Welt gibt - eine gespenstische, pervertierte Bibliothek: Sie besitzt sie, um sie zu zerstören." Die Verblüffung steigt aber beträchtlich, wenn man dank Bakers kriminologischer Recherche begreift, wie eng die Förderprogramme der Mikrofilmtechnologie an die amerikanische Rüstungsindustrie gebunden waren. Es scheint, als hätten nicht Gelehrte oder zumindest humanistisch Gebildete die großen Bibliotheken verantwortet, sondern modernitätssüchtige, geldgierige Karrieristen, die von Büchern keine Ahnung hatten. Denn stets ging es um Sonderprogramme, für die man Politiker gewinnen mußte, immer waren Lobbyismus, schamlose Verdrehung und Propaganda im Spiel.
Satirische Qualitäten gewinnt Bakers Buch beim Thema des säurehaltigen Papiers. Denn plötzlich war nicht allein Raumnot das Argument, sondern der Alarmschrei: Unsere Bücher enthalten zuviel Säure, sie zerfallen zu Staub! Wieder wurden umfangreiche Programme gestartet, Politiker umschwänzelt und Gelder gesammelt, so unfaßbare Summen Geldes, das man damit viele hundert Buchlagerhäuser mit perfekt regulierter Temperatur und Luftfeuchtigkeit hätte bauen können. Das aber geschah nicht. In dieser Geschichte einer systematischen Kulturzerstörung geschah nie das Naheliegende und Vernünftige, sondern fast durchweg das Unreflektierte, Überhastete. In den achtziger Jahren erreichte die Torheit mit Unterstützung der Nasa ihren vorläufigen Höhepunkt. Viele Millionen Dollar wurden bei Versuchen mit einer Papierentsäuerungsanlage in den Sand gesetzt, die mit Diäthylzink operierte, einer hochgefährlichen, sofort entflammbaren Substanz, die für die Herstellung von Bomben benutzt wird. Dem teuren Wahn fielen Tausende Bibliotheksbücher zum Opfer.
Nachdem alle Experimente kläglich gescheitert waren, suchten sich die Bibliothekare neue Spielplätze. Einer davon, die allgemeine Verbreitung säurefreien Papiers für den Buchdruck, war sinnvoll. Ein anderer, die Übertragung gedruckter Buchstaben auf immer neue digitale Speichermedien, führte abermals zu gewaltigen Kosten und der frivolen Bereitschaft, das primäre Medium unbarmherzig auszumustern. Daß die Kosten der Automatisierung dabei fatal unterschätzt wurden, geben sogar die fanatischsten Bibliotheksmodernisierer zu, denn die Pflege der Software und der Zwang zu ständigem Upgrading brachten unkalkulierbare Ausgaben mit sich. Bis heute. Allein in den letzten fünfzehn Jahren haben wir drei Generationen völlig verschiedener Speicherdisketten verschlissen, und auch die Tage der CD-Rom scheinen gezählt. Bücher dagegen bleiben, und es gibt keinen Grund, ihr stoisches Durchhalten zu belächeln. Während kaum ein Mensch sich mehr an MS-Dos von 1988 erinnert, ist die Encyclopaedia Britannica von 1875 noch da: schwer, staubig, dauerhaft. Wie die Erde selbst.
Hinter Nicholson Bakers Schilderung steht ein durch und durch ökologischer Gedanke. "Wenn man durch Handeln mehr Schaden anrichtet als durch Verzicht auf Handeln, dann sollte man nicht handeln. Man wartet ab. Man behält, was man hat." Die Hysterie, die sich in Amerika um die "brüchigen Bücher" (sowie ihren angeblich unmittelbar bevorstehenden Zerfall) entfaltete und die ganze Nation anspornte, viele Millionen Dollar in eine frenetische Digitalisierung zu stecken, hatte die Zerstörung Hunderttausender Bücher zur Folge. Man rettete ihren sogenannten "geistigen Gehalt" und warf die materielle Hülle guten Gewissens auf den Müll. Doch diese Hülle ist überaus dauerhaft, wenn man sie nur dazu benutzt, wofür sie gemacht ist, nämlich zur Lektüre, statt mit dem berüchtigten "Eckenknick-Test" ihre Dauerhaftigkeit zu prüfen. Gerade aufs Lesen, so scheint es, kam es den Verfechtern der Digitalisierung am wenigsten an.
Im Internet lassen sich die erbitterten Debatten unter amerikanischen Bibliothekaren, Archivaren und Buchkonservatoren rekonstruieren, die Bakers Streitschrift ausgelöst hat. Immerhin gibt es eine. Der Autor selbst hat vor einigen Jahren einen gut Teil seines Privatvermögens in die Gründung des gemeinnützigen "American Newspaper Repository" gesteckt, das alte Jahrgänge von Zeitungen erwirbt und sachgerecht lagert. Denn wenn man nur bewahrt, was nützlich ist, dann verkümmert die Kultur. Nicholson Baker dagegen sagt: Man muß an geheimen und weniger offensichtlichen Lagerstätten buddeln. Die Erde umgraben, ohne zu wissen, wonach man sucht. In hundert Jahre alten Zeitungen blättern. Illustrationen betrachten, die kein Scanner bewahrt. In dieser Haltung steckt die Geschichtsschreibung kommender Jahrzehnte.
Nicholson Baker: "Der Eckenknick oder Wie die Bibliotheken sich an den Büchern versündigen". Aus dem Amerikanischen übersetzt von Helmut Frielinghaus und Susanne Höbel. Rowohlt Verlag, Reinbek 2005. 492 S., geb., 29,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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