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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Sasha Filipenkos Allegorie "Ein ehemaliger Sohn" bietet das bitterböse Porträt seiner belarussischen Heimat.
Dieses Buch ist ein Versuch zu analysieren, warum mein Land eines Tages in einen lethargischen Schlaf sank, aus dem es scheinbar gar nicht wieder aufwachen wollte. Dieses Buch ist (zumindest hoffe ich das) eine Erklärung dafür, warum die Belarussen 2020 nicht mehr weiterschlafen wollten und aus ihrem Koma erwachten." So Sasha Filipenko im Vorwort seines nun ins Deutsche übersetzten Debütromans "Der ehemalige Sohn" - nachdem mit "Rote Kreuze" bereits ein späterer Roman des weißrussischen Autors im Diogenes-Verlag erschienen ist.
"Der ehemalige Sohn" kam in Moskau 2014 heraus und liest sich wie eine vorausschauende Allegorie auf die aktuellen belarussischen Ereignisse. Der junge Franzisk, in Minsk lebend, gerät kurz vor der Jahrtausendwende während einer Panik, ausgelöst durch eine Gewitterkatastrophe, ins Gedränge, die U-Bahn-Eingänge sind verriegelt, Franzisk fällt ins Koma und wacht nach zehn Jahren wieder auf, im Jahr 2009. Er wandert durch die Stadt, und nichts hat sich verändert, als ob auch die Stadt im Koma gelegen hätte.
Filipenko beschreibt mit hinreißendem Humor, voller Witz und zugleich voller Trauer das Aufbegehren seines Volkes gegen den Diktator Lukaschenko. Franzisk bestaunt nach seiner Wiedergeburt das merkwürdige Leben seiner Landsleute: Kinder spielen "Omon", ein Fangspiel, bei dem die einen die Polizei sind, die anderen die Opposition, wobei keines der Kinder Polizist sein will. Die Erwachsenen spielen "Absurd": Man erzählt sich komische Geschichten, die so klingen, als wären sie ausgedacht, sie müssen aber wahr sein. Wem keine mehr einfällt, der scheidet aus.
Ausgeschieden wäre auch fast Franzisk; keiner glaubte daran, dass er wieder aufwachen würde, nicht seine Mutter, nicht sein Stiefvater, der Chefarzt, nicht die Schwestern und Freunde. Nur seine Großmutter hielt unerschrocken an dem Glauben fest, ihr Enkel werde zurückkommen. Täglich besuchte sie ihn im Krankenhaus, während seine Mutter ihn längst aufgegeben und ignoriert hatte. Die Babuschka stattete sein Zimmer mit Erinnerungsfotos und Postkarten aus, machte mit ihm virtuelle Spaziergänge, las ihm aus der Tageszeitung vor, als ob er wach im Bett gelegen hätte. Sie scherzte mit ihm und versuchte, ihn aufzuheitern, aber Franzisk reagierte nicht. Die Großmutter bestellte sogar eine Prostituierte, die sich alle Mühe ihrer erotischen Verführungskunst gab, vergeblich.
Es kamen auch die deutschen Gasteltern angereist, die Franzisk nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl jährlich in den Ferien bei sich aufgenommen hatten. Sie wollten den Jungen mit nach Deutschland nehmen, aber die Großmutter kämpfte um ihren Liebling, nur in seiner Heimat konnte und sollte er aufwachen. Die große Tragik: Einen Tag nachdem die Großmutter gestorben ist, kehrt Franzisk ins Leben zurück. Hinterlassen hat sie ihrem Enkel einen langen Brief, aus dem er erfährt, was alles in der Zwischenzeit seiner "Abwesenheit" passiert ist.
Franzisk ist nun wieder unter Menschen, aber nur sein alter Freund Stassik nimmt sich seiner an, erklärt ihm die Stadt und das Verhalten der fremd gewordenen Menschen. Auch Stassik kommt nicht mehr zurecht, er nimmt sich das Leben. Emotionalen Zuspruch findet Franzisk danach nur bei den Massenprotesten, mit denen gegen die Willkür und den Wahlbetrug von Lukaschenko bei den Präsidentenwahlen im Dezember 2010 angegangen wurde: "Wenn ich sehe, wie die Seifenblase platzt, wie die Kulissen fallen, dann bin ich schon zufrieden. Ich will einfach sehen, dass außer mir auch andere Leute hinausgehen, die genauso nicht an diese Farce glauben, und spüren, dass ich nicht die einzige Geisel in diesem Narrenhaus bin."
Der sieben Jahre alte Roman liest sich wie ein melancholischer Kommentar zu den heutigen Ereignissen in Belarus. Filipenko erzählt, sein Roman könne in seiner Heimat nur unter dem Ladentisch verkauft werden, aber was ihn vor allem freue, sei, dass in den Gefängniszellen, wo Zehntausende von Oppositionellen gefoltert und verhört würden, sein Roman von Zelle zu Zelle gehe. Filipenkos Held hält es im Land nicht aus. Seiner Großmutter gesteht er an deren Grab, dass er das Land verlassen werde: "Ich habe alles lange abgewogen, Ba, das ist keine unreflektierte Entscheidung, ich habe lange darüber nachgedacht. Also ich habe beschlossen auszuwandern. Ich kann so einfach nicht mehr. Es scheint, von uns gibt es doch nicht so viele. Ich bin erschöpft, ich mag nicht mehr. Ein Koma reicht mir."
Der Autor, 1984 in Minsk geboren und aufgewachsen, lebt inzwischen mit seiner Familie in St. Petersburg. Zurzeit hat er ein halbjähriges Stipendium, noch bis zum Juli in der Schweiz, im Waadtland (F.A.Z. vom 27. Februar). Ob er zurückgehen wird, scheint ungewiss, in Belarus und Russland gilt er inzwischen als Volksfeind. Dennoch will Filipenko kein politisches Asyl beantragen, er fühlt sich eher wie ein international aktiver Fußballspieler, der mal hier, mal dort spielt. Er ist ein europäischer Autor, der sich gut vorstellen kann, auch in Graz oder Berlin leben zu können. Sein kleiner Held Franzisk verlässt das Land und geht zu den deutschen Gasteltern: "Ich habe nicht das Gefühl, dass irgendjemand mich hier braucht. Ich habe auch nicht das Gefühl, dass ich jemanden brauche. Ich bin überall nur der Ehemalige. Ehemaliger Nachbar, ehemaliger Bekannter, ehemaliger Sohn ..."
Die aufwühlenden Ereignisse in Belarus lassen den Autor heute anders denken und fühlen. Wenn ein Journalist ihn als "Oppositionellen" anspricht, weist er dies brüsk zurück und betont: "Wir sind die Mehrheit." Dieser Mehrheit hat die österreichische Übersetzerin Ruth Altenhofer eine überzeugende und lebendige Stimme verliehen. Filipenko, der durch seine offenen Briefe mit erreicht hat, dass die diesjährige Eishockeyweltmeisterschaft nicht im von Lukaschenko regierten Minsk stattfindet, sondern nach Riga verlegt wurde, gibt sich kämpferisch: "Ins Koma werden wir nicht zurückkehren. Ich bin sicher, dass wir gewinnen werden."
LERKE VON SAALFELD
Sasha Filipenko: "Der ehemalige Sohn". Roman.
Aus dem Russischen von Ruth Altenhofer. Diogenes Verlag, Zürich 2021. 320 S., geb., 23,- [Euro].
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