Die Schuld austreiben, das ist der Plan, als Horace in einer Frühlingsnacht in den Garten seines Großvaters hinaustritt. Ein Ritual soll Horace befreien. Von den Erwartungen, die seine Familie an ihn und seine Begabung stellt, von den rasenden Gedanken, vom Begehren, das ihn Mitte der Achtziger in dieser Schwarzen Baptistengemeinde im Süden alles kosten kann. Doch die Befreiung missglückt, und Horace, getrieben von den erlittenen Ungerechtigkeiten aus Hunderten von Jahren, irrt gefährlich durch die Nacht. Bis ein anderer Mann aus seiner Familie, am Glauben verzweifelt wie er, dem berechtigten Wahnsinn Einhalt gebieten will …
Entdeckt von Toni Morrison, als sein Jünger mit James Baldwins Nachlass betraut, so stand Randall Kenan 1989 nach Erscheinen seines Romans an der Spitze der nachfolgenden Generation, einsam und zu früh. Mehr als dreißig Jahre mussten vergehen, damit Der Einfall der Geister international gefeiert werden kann, als ein Meisterwerk Schwarzen Erzählens, über die Gefahren der Erlösung, über Wünsche, die an Grenzen stoßen.
Entdeckt von Toni Morrison, als sein Jünger mit James Baldwins Nachlass betraut, so stand Randall Kenan 1989 nach Erscheinen seines Romans an der Spitze der nachfolgenden Generation, einsam und zu früh. Mehr als dreißig Jahre mussten vergehen, damit Der Einfall der Geister international gefeiert werden kann, als ein Meisterwerk Schwarzen Erzählens, über die Gefahren der Erlösung, über Wünsche, die an Grenzen stoßen.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Verena Lueken beschwört die Grandeur von Randall Kenans Debütroman aus dem Jahr 1989, nun auf Deutsch bei Suhrkamp erschienen. Denn hier spricht für sie ein Meister, geschult an großen Autoren wie William Faulkner und ganz im Zeichen des Postmodernismus. Es geht in den Jahren 1984 und 1985 in zwei Handlungssträngen, die erst später zusammengeführt werden, um den jungen schwulen Horace, der bei seiner Familie in Missgunst fällt, und um einen seiner Cousins, der Priester ist. Dabei bevölkern verschiedenste Geister den Roman: ein Dämon, der von Horace Besitz ergreift ebenso wie die Geister der Sklaverei, die Geister einer vergangenen Zeit, die sich in einer herausfordernden, fragmentierten Prosa in die Welt der Figuren drängen, sich in "historischen und mythologischen Schichten aufeinandertürmen", wie Lueken analysiert. Herausragend findet sie dabei auch die Leistung der beiden Übersetzerinnen, die auch Passagen in "prophetischer Rede" glänzend übertragen. Ob Kenan nun als schwarzer, schwuler oder Südstaaten-Autor zu bezeichnen wäre (- alle drei Attribute habe Kenan selbst so abgenickt, wie Lueken aus einem Nachruf der NYT erfährt -) findet die Kritikerin letztlich gar nicht so wichtig; für sie ist er zuvorderst ein "brillanter amerikanischer Autor" seiner Generation.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.03.2023Wie lange leben eigentlich Geister?
Faulkners Sprache ist Teil jedes Autors aus der Gegend: Randall Kenans historisch reicher, postmoderner Südstaaten-Roman
Möglicherweise hätte alles anders kommen können, hätte sich Horace beim großen Familienessen an Thanksgiving nicht mit einem frisch gestochenen Ohrring an den Tisch gesetzt, noch dazu zu spät, während das Tischgebet bereits gesprochen wurde. Aber das Loch im Ohr war zu viel für die Familie, die Großeltern, die Tanten. Horace, der Vorzeigeschwarze im fiktiven Ort Tim Creek (der von Nachfahren der Sklaven gegründet wurde, die auf den Plantagen der Gegend schufteten), der phantastische Schüler, er hing mit einer Gruppe von Weißen herum, entfernte sich von seinen Verwandten, und offenbar, zeigte das nicht das Loch im Ohr, war er auch noch schwul.
Das Jahr ist 1984, und der Einfall der Geister im Titel des Romans von Randall Kenan meint nicht nur den Dämon, der Horace befällt, als er versucht, sich in einen Vogel zu verwandeln, um alldem zu entfliehen. Die Geister sind überall. Es sind die Geister der Geschichte, die Geister der Sklaverei, die Geister der Welt, wie sie war, als Horace geboren wurde. Wahrscheinlich hatte seine Familie "nicht erwartet, dass die Welt, in die sie ihn entließen, sich von jener unterschied, die sie bezwungen hatten, und sie war von neuen und hasserfüllten Monstern bevölkert, die einen anderen Preis einforderten".
Wie lange leben Geister? Kommt es darauf an, da sie doch in kürzester Zeit ungemeines Unheil anrichten können? Der Geist in der Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens etwa hat ein sehr kurzes Leben, "es endet noch in dieser Nacht", sagt er zu Scrooge, als dieser fragt. Sollte der Geist von Dickens mit den bösartigen Dämonen, die Horace befallen, verwandt sein, wäre das eine gute Nachricht. Für die Verwandtschaft spricht das kurze Dialogzitat aus der "Weihnachtsgeschichte", das dem "Einfall der Geister" vorangestellt ist, und auch die Überschrift des ersten, nur vier Zeilen langen Kapitels: "Weiße Magie". Der nächste Abschnitt allerdings beginnt dann (vielleicht sicherheitshalber) mit den Wörtern "Oh Gott, oh Gott".
Die Datumszeile zeigt an, es ist der 8. Dezember 1985, 8.45 Uhr. Von einem Dämon zunächst keine Spur. Dafür wird ein Schwein geschlachtet. Und zwar unter der Zwischenüberschrift "Advent (oder: Der Anfang vom Ende)". Auch das Schlachten, das Kenan in allen physischen Details beschreibt, hat seine Geister hinterlassen, gehört das Töten der Schweine doch zu der Lebensweise, die verschwunden ist. "Es wäre gar nicht so leicht, hier noch einen Schweinekoben zu finden, geschweige denn ein Schwein. Nein, heutzutage kaufen die Leute ihre Würstchen bei A&P, ihre Leberpastete bei Winn-Dixie und ihren luftgetrockneten Schinken bei Food Lion. Kein Mensch isst mehr eingelegte Schweinsfüße, und Kutteln, und . . . Aber die Geister von damals sind hartnäckig. Die Schweineställe mögen leer sein, trotzdem hört man eine Herde. Sie zertrampelt die Rasenflächen und Blumen, seltenen Sträucher und fremden Bäume vor den neuen Häusern der zugezogenen Familien. Eine geisterhafte Herde, die nur darauf wartet, geschlachtet zu werden."
Auf den ersten Seiten stiftet Kenan erst einmal Verwirrung. Lässt seine Leser wissen, dies wird keine gemütliche Lektüre. Die Zeiten springen, wenn auch nur von 1985 nach 1984 und zurück, aber in dieser kurzen Zeit geschieht großes Unglück. Die Hauptfiguren wechseln wie die Erzählperspektiven. Zwischenüberschriften sorgen für weitere Unterbrechungen, der "Weißen Magie" folgt dreißig Seiten später die "Schwarze Geisterbeschwörung", nur einen Satz lang: "Wer da will, der komme . . ." Und nach dem Schlachten zu Beginn bekommt auch der Tabakanbau am Ende einen Abgesang.
Im Jahr 1985 ist die Hauptfigur (und manchmal der Icherzähler) Jimmy, ein Priester und einer der Vettern von Horace. Horace wiederum erzählt von seinem Versuch, durch Zauberei und Gifteinnahme ein Vogel zu werden, was zur Besessenheit mit dem bösen Dämon führt, der ihn auf einen Rachefeldzug schickt, in den Stunden zwischen 11.30 Uhr am 29. April 1984 und 30. April am frühen Morgen. Dazwischen liegen Dialogszenen, die sich lesen, als stammten sie aus einem Drehbuch, Bekenntnisse des einen und des anderen, weitere Zwischentitel. Kenan erlaubt seinem Publikum nicht, sich einem durchgehenden Lesefluss hinzugeben, erhöht die Spannung durch Cliffhanger, hebt neu an, und erst nach einer Weile wird klar, wie die beiden Erzählstränge von Jimmy und Horace, die so minutiös datiert sind, miteinander in Verbindung stehen. Es geht um nicht weniger als Schuld und Verwirrung und den großen Zusammenhang schwarzen Lebens im amerikanischen Süden. Dass der fiktive Ort Tim Creek in South Carolina als Gegenüber von William Faulkners Yoknapatawpha County gelesen werden kann, in dem die Überbleibsel der gescheiterten weißen Aristokratie des Südens untergingen, ist durchaus beabsichtigt. Faulkners Sprache, so ungefähr formulierte es Kenan einmal in einem Interview, ist Teil jedes Autors aus der Gegend. Besser, er setze sich dem aus, als es zu verleugnen.
Wäre Horace die Erlösung für alle, wenn er anders wäre? Nicht schwul, nicht hingezogen zur Welt, wie sie heute ist? Hat er gegenüber der Geschichte, den Geistern der Vergangenheit und der Verblendung der Gegenwart eine Chance? Als Einzelner? Könnte er fortgehen von dort, woher er kommt?
Randall Kenan rührt an die großen Fragen, die auch die Literatur heute noch beschäftigen. "Der Einfall der Geister" ist sein erster Roman; er erschien im Original 1989. Es folgten zwei Sammlungen mit Kurzgeschichten, eine James-Baldwin-Biographie für ein junges Publikum und der Reportageband "Walking on Water. Black American Lives at the turn of the 21st century". Der Autor starb im Sommer 2020 im Alter von 57 Jahren. Im Nachruf der "New York Times" wird die Schriftstellerin Tayari Jones mit der Aussage zitiert, Kenan hätte nichts dagegen gehabt, als schwuler, schwarzer oder Südstaaten-Autor bezeichnet zu werden. Nur auf die Reihenfolge der Attribute wollte er nicht festgelegt werden, sie schienen ihm ebenbürtig in ihrer Bedeutung für seine Persönlichkeit wie für sein Schreiben, und er trug sie als "Ornamente", wie Jones es nannte.
Mit diesem Buch jedenfalls hat das deutsche Publikum die Gelegenheit, einen brillanten amerikanischen Autor der Generation der um 1960 Geborenen zu entdecken. Es gibt eine Passage im "Einfall der Geister", in der Kenan sein Können voll ausschöpft. Die Szene findet auf einem Friedhof statt, auf dem Horace auf seiner Wanderung mit den Dämonen gelandet ist, und Horace denkt an den Propheten Joel: "Eure jungen Männer werden Visionen haben und eure Alten werden Träume haben." Dazwischen liegt dieser Roman, der umfasst, was es heißt, aus einer Gemeinschaft zu kommen, in der "Männer und Frauen, gejagt von ihresgleichen an den Küsten eines großen Landes", auf Schiffe verbracht, verkauft, durch Kriege und Hunger und mehr Gewalt hindurch schließlich am Thanksgiving-Tisch in Tim Creek angekommen sind und nicht verstehen, wie einer der Ihren mit ein paar weißen Jungs herumziehen und sich ein Loch ins Ohr stechen lassen kann. Im Übrigen zeigt die Passage auf dem Friedhof auch, was die Übersetzerinnen Eva Bonné und Aminata Cissé zu leisten imstande sind. Es sind einige Seiten, geschrieben und übersetzt in einer Art prophetischer Rede, assoziativ, wiederholend, rufend, in direkter Anrede des Herrn und unter Bezug auf Noahs Regenbogen, das Zeichen Gottes, das nächste Mal werde er nicht das Wasser schicken, sondern das Feuer. The fire next time. Kenan ruft alle Zeugen auf, die Bibel wie Baldwin, um in diesem großen Finale die historischen und mythologischen Schichten aufeinanderzutürmen, unter denen Horace zusammenbricht.
Es ist immer wieder großartig, wenn Autoren und Autorinnen, die in ihren Heimatländern von den Rändern her geschrieben haben (oder schreiben), in Übersetzung international ein größeres Publikum erreichen. Aber einzelne Werke, wenn es alte wie dieses sind zumal, sprechen nicht unbedingt nur für sich. Kenan war ein an weißen Klassikern wie William Faulkner geschulter Autor in postmoderner Tradition. Wäre es nicht wunderbar, wenn der Suhrkamp-Verlag Übersetzungen der anderen Bücher dieses Autors, der nur ein schmales Werk hinterlassen hat, diesem Roman folgen ließe? VERENA LUEKEN
Randall Kenan: "Der Einfall der Geister". Roman.
Aus dem amerikanischen Englisch von Eva Bonné und Aminata Cissé. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 300 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Faulkners Sprache ist Teil jedes Autors aus der Gegend: Randall Kenans historisch reicher, postmoderner Südstaaten-Roman
Möglicherweise hätte alles anders kommen können, hätte sich Horace beim großen Familienessen an Thanksgiving nicht mit einem frisch gestochenen Ohrring an den Tisch gesetzt, noch dazu zu spät, während das Tischgebet bereits gesprochen wurde. Aber das Loch im Ohr war zu viel für die Familie, die Großeltern, die Tanten. Horace, der Vorzeigeschwarze im fiktiven Ort Tim Creek (der von Nachfahren der Sklaven gegründet wurde, die auf den Plantagen der Gegend schufteten), der phantastische Schüler, er hing mit einer Gruppe von Weißen herum, entfernte sich von seinen Verwandten, und offenbar, zeigte das nicht das Loch im Ohr, war er auch noch schwul.
Das Jahr ist 1984, und der Einfall der Geister im Titel des Romans von Randall Kenan meint nicht nur den Dämon, der Horace befällt, als er versucht, sich in einen Vogel zu verwandeln, um alldem zu entfliehen. Die Geister sind überall. Es sind die Geister der Geschichte, die Geister der Sklaverei, die Geister der Welt, wie sie war, als Horace geboren wurde. Wahrscheinlich hatte seine Familie "nicht erwartet, dass die Welt, in die sie ihn entließen, sich von jener unterschied, die sie bezwungen hatten, und sie war von neuen und hasserfüllten Monstern bevölkert, die einen anderen Preis einforderten".
Wie lange leben Geister? Kommt es darauf an, da sie doch in kürzester Zeit ungemeines Unheil anrichten können? Der Geist in der Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens etwa hat ein sehr kurzes Leben, "es endet noch in dieser Nacht", sagt er zu Scrooge, als dieser fragt. Sollte der Geist von Dickens mit den bösartigen Dämonen, die Horace befallen, verwandt sein, wäre das eine gute Nachricht. Für die Verwandtschaft spricht das kurze Dialogzitat aus der "Weihnachtsgeschichte", das dem "Einfall der Geister" vorangestellt ist, und auch die Überschrift des ersten, nur vier Zeilen langen Kapitels: "Weiße Magie". Der nächste Abschnitt allerdings beginnt dann (vielleicht sicherheitshalber) mit den Wörtern "Oh Gott, oh Gott".
Die Datumszeile zeigt an, es ist der 8. Dezember 1985, 8.45 Uhr. Von einem Dämon zunächst keine Spur. Dafür wird ein Schwein geschlachtet. Und zwar unter der Zwischenüberschrift "Advent (oder: Der Anfang vom Ende)". Auch das Schlachten, das Kenan in allen physischen Details beschreibt, hat seine Geister hinterlassen, gehört das Töten der Schweine doch zu der Lebensweise, die verschwunden ist. "Es wäre gar nicht so leicht, hier noch einen Schweinekoben zu finden, geschweige denn ein Schwein. Nein, heutzutage kaufen die Leute ihre Würstchen bei A&P, ihre Leberpastete bei Winn-Dixie und ihren luftgetrockneten Schinken bei Food Lion. Kein Mensch isst mehr eingelegte Schweinsfüße, und Kutteln, und . . . Aber die Geister von damals sind hartnäckig. Die Schweineställe mögen leer sein, trotzdem hört man eine Herde. Sie zertrampelt die Rasenflächen und Blumen, seltenen Sträucher und fremden Bäume vor den neuen Häusern der zugezogenen Familien. Eine geisterhafte Herde, die nur darauf wartet, geschlachtet zu werden."
Auf den ersten Seiten stiftet Kenan erst einmal Verwirrung. Lässt seine Leser wissen, dies wird keine gemütliche Lektüre. Die Zeiten springen, wenn auch nur von 1985 nach 1984 und zurück, aber in dieser kurzen Zeit geschieht großes Unglück. Die Hauptfiguren wechseln wie die Erzählperspektiven. Zwischenüberschriften sorgen für weitere Unterbrechungen, der "Weißen Magie" folgt dreißig Seiten später die "Schwarze Geisterbeschwörung", nur einen Satz lang: "Wer da will, der komme . . ." Und nach dem Schlachten zu Beginn bekommt auch der Tabakanbau am Ende einen Abgesang.
Im Jahr 1985 ist die Hauptfigur (und manchmal der Icherzähler) Jimmy, ein Priester und einer der Vettern von Horace. Horace wiederum erzählt von seinem Versuch, durch Zauberei und Gifteinnahme ein Vogel zu werden, was zur Besessenheit mit dem bösen Dämon führt, der ihn auf einen Rachefeldzug schickt, in den Stunden zwischen 11.30 Uhr am 29. April 1984 und 30. April am frühen Morgen. Dazwischen liegen Dialogszenen, die sich lesen, als stammten sie aus einem Drehbuch, Bekenntnisse des einen und des anderen, weitere Zwischentitel. Kenan erlaubt seinem Publikum nicht, sich einem durchgehenden Lesefluss hinzugeben, erhöht die Spannung durch Cliffhanger, hebt neu an, und erst nach einer Weile wird klar, wie die beiden Erzählstränge von Jimmy und Horace, die so minutiös datiert sind, miteinander in Verbindung stehen. Es geht um nicht weniger als Schuld und Verwirrung und den großen Zusammenhang schwarzen Lebens im amerikanischen Süden. Dass der fiktive Ort Tim Creek in South Carolina als Gegenüber von William Faulkners Yoknapatawpha County gelesen werden kann, in dem die Überbleibsel der gescheiterten weißen Aristokratie des Südens untergingen, ist durchaus beabsichtigt. Faulkners Sprache, so ungefähr formulierte es Kenan einmal in einem Interview, ist Teil jedes Autors aus der Gegend. Besser, er setze sich dem aus, als es zu verleugnen.
Wäre Horace die Erlösung für alle, wenn er anders wäre? Nicht schwul, nicht hingezogen zur Welt, wie sie heute ist? Hat er gegenüber der Geschichte, den Geistern der Vergangenheit und der Verblendung der Gegenwart eine Chance? Als Einzelner? Könnte er fortgehen von dort, woher er kommt?
Randall Kenan rührt an die großen Fragen, die auch die Literatur heute noch beschäftigen. "Der Einfall der Geister" ist sein erster Roman; er erschien im Original 1989. Es folgten zwei Sammlungen mit Kurzgeschichten, eine James-Baldwin-Biographie für ein junges Publikum und der Reportageband "Walking on Water. Black American Lives at the turn of the 21st century". Der Autor starb im Sommer 2020 im Alter von 57 Jahren. Im Nachruf der "New York Times" wird die Schriftstellerin Tayari Jones mit der Aussage zitiert, Kenan hätte nichts dagegen gehabt, als schwuler, schwarzer oder Südstaaten-Autor bezeichnet zu werden. Nur auf die Reihenfolge der Attribute wollte er nicht festgelegt werden, sie schienen ihm ebenbürtig in ihrer Bedeutung für seine Persönlichkeit wie für sein Schreiben, und er trug sie als "Ornamente", wie Jones es nannte.
Mit diesem Buch jedenfalls hat das deutsche Publikum die Gelegenheit, einen brillanten amerikanischen Autor der Generation der um 1960 Geborenen zu entdecken. Es gibt eine Passage im "Einfall der Geister", in der Kenan sein Können voll ausschöpft. Die Szene findet auf einem Friedhof statt, auf dem Horace auf seiner Wanderung mit den Dämonen gelandet ist, und Horace denkt an den Propheten Joel: "Eure jungen Männer werden Visionen haben und eure Alten werden Träume haben." Dazwischen liegt dieser Roman, der umfasst, was es heißt, aus einer Gemeinschaft zu kommen, in der "Männer und Frauen, gejagt von ihresgleichen an den Küsten eines großen Landes", auf Schiffe verbracht, verkauft, durch Kriege und Hunger und mehr Gewalt hindurch schließlich am Thanksgiving-Tisch in Tim Creek angekommen sind und nicht verstehen, wie einer der Ihren mit ein paar weißen Jungs herumziehen und sich ein Loch ins Ohr stechen lassen kann. Im Übrigen zeigt die Passage auf dem Friedhof auch, was die Übersetzerinnen Eva Bonné und Aminata Cissé zu leisten imstande sind. Es sind einige Seiten, geschrieben und übersetzt in einer Art prophetischer Rede, assoziativ, wiederholend, rufend, in direkter Anrede des Herrn und unter Bezug auf Noahs Regenbogen, das Zeichen Gottes, das nächste Mal werde er nicht das Wasser schicken, sondern das Feuer. The fire next time. Kenan ruft alle Zeugen auf, die Bibel wie Baldwin, um in diesem großen Finale die historischen und mythologischen Schichten aufeinanderzutürmen, unter denen Horace zusammenbricht.
Es ist immer wieder großartig, wenn Autoren und Autorinnen, die in ihren Heimatländern von den Rändern her geschrieben haben (oder schreiben), in Übersetzung international ein größeres Publikum erreichen. Aber einzelne Werke, wenn es alte wie dieses sind zumal, sprechen nicht unbedingt nur für sich. Kenan war ein an weißen Klassikern wie William Faulkner geschulter Autor in postmoderner Tradition. Wäre es nicht wunderbar, wenn der Suhrkamp-Verlag Übersetzungen der anderen Bücher dieses Autors, der nur ein schmales Werk hinterlassen hat, diesem Roman folgen ließe? VERENA LUEKEN
Randall Kenan: "Der Einfall der Geister". Roman.
Aus dem amerikanischen Englisch von Eva Bonné und Aminata Cissé. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 300 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Mit diesem Buch ... hat das deutsche Publikum die Gelegenheit, einen brillanten amerikanischen Autor der Generation der um 1960 Geborenen zu entdecken.« Verena Lueken Frankfurter Allgemeine Zeitung 20230318