Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mussten die Bewohner Osteuropas erkennen, dass sie mit der Ankunft sowjetischer Truppen unter eine neue Form totalitärer Herrschaft geraten waren. Hinter der Linie, die bald »Eiserner Vorhang« hieß, wurden die Staaten Osteuropas gewaltsam in sozialistische Gesellschaften verwandelt. Dabei veränderte der Kommunismus nicht nur die Wirtschaft und die Politik, sondern drang in alle Bereiche des Lebens vor. In ihrem neuen Buch zeigt Anne Applebaum, wie dieser Prozess der Unterdrückung vonstattenging und wie der Totalitarismus das Alltagsleben von Millionen von Europäern prägte.
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
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Etablierung und Ausformung des Stalinismus im europäischen Vorfeld in den Jahren 1944 bis 1956
Anne Applebaum, amerikanische Journalistin und Historikerin, ist in Deutschland vor allem durch ihre Darstellung des GULag bekannt geworden. Ihr neues Buch über die Unterdrückung Osteuropas beschränkt sich auf die Entstehung und die Hoch-Zeit des Stalinismus bis 1956, als Chruschtschow mit seiner berühmten Geheimrede Stalin entthronte und so das festgefügte Herrschafts- und Ideologiegebäude in Osteuropa ins Wanken brachte. Diese Eingrenzung lässt sich gut begründen, fand doch in dieser Phase die Etablierung und Ausformung des Stalinismus im europäischen Vorfeld statt. Wie kann man dieses komplexe Thema, das hier allerdings im Wesentlichen auf drei Länder (Polen, Ungarn, DDR) beschränkt wird, in den Griff bekommen? Vorab verrät die Autorin leider nicht viel dazu. Begründet wird die Auswahl lediglich mit dem Hinweis auf die eklatante Unterschiedlichkeit der drei Fallbeispiele.
Das Gelände ist schon oft beackert worden, insofern liegt die Frage nahe, welche neuen Zugänge und welche neuen Erkenntnisse dieses vorab hochgelobte Buch bietet. Wichtig ist Applebaum neben der Erschließung neuen Archivmaterials, dass sie - vielleicht zum letzten Mal - viele Zeitzeugen interviewen konnte, "um ihre Darstellung der Ereignisse und Gefühle jener Zeit in ihren eigenen Worten zu hören". Das ist zweifellos ein Ansatzpunkt, um die Herrschaftsperspektive der Akten zu ergänzen. Sie will so verstehen, "wie der echte Totalitarismus funktionierte." Das macht die Darstellung farbiger, aber wirklich neue Aspekte und ein tieferes Verständnis bieten diese eingestreuten Interviews nur selten. Das alte Problem der oftmals ziemlich zufällig befragten Zeitzeugen zeigt sich auch hier.
Dominierende Linien in der Darstellung über Stalins Unterdrückungspolitik sind die Zerstörung der Zivilgesellschaft, das heißt aller unabhängigen Initiativen und Organisationen, die frühe Gründung der Geheimpolizei, das kommunistische Erziehungssystem und der "SozRealismus" als Vorgabe im kulturellen Leben. Zur mehr oder minder erfolgreichen Umsetzung gehörten aber auch die unterschiedlichen Formen von bereitwilliger oder widerwilliger Kollaboration, während der im letzten Kapitel "Revolutionen" beschriebene offene Widerstand die Ausnahme blieb und ohnehin erst nach Stalins Tod 1953 möglich wurde. "Falsche Morgenröte" ist der erste Teil überschrieben, der angesichts der teilweise apokalyptischen Zerstörungen in der "Stunde null" 1945 die Hoffnungen der Menschen auf einen Neuanfang, vor allem aber die Entschlossenheit der neuen kommunistischen Herrschaftseliten zur Durchsetzung ihrer Programme skizziert. Eindrucksvoll ist insbesondere das Kapitel "Polizisten", das die für alle Länder ähnliche und frühzeitig rabiat gesicherte Schlüsselstellung der von Moskau gelenkten geheimpolizeilichen Apparate schildert. Auch die überall ähnliche Eroberung und Steuerung des damals wichtigsten Massenmediums, des Radios, kann man dazu rechnen. Hier wurde ein folgenreiches frühes Monopol geschaffen, um die Umgestaltung voranzutreiben.
Treffend charakterisiert Applebaum die zwar selektive, aber prinzipiell hemmungslose Anwendung von Gewalt und die Schaffung von Lagern für die potentiellen Feinde des Regimes als Instrument der sowjetischen Herrschaft. Dazu lassen sich auch die in den meisten Ländern Ostmitteleuropas zu findenden "ethnischen Säuberungen" rechnen. Damit werden nicht die deutschen Vertreibungserfahrungen relativiert, aber man wird als Leser nachdrücklich daran erinnert, wie gewalttätig etwa die Pazifizierung der polnisch-ukrainischen Konflikte in der "Aktion Weichsel" 1947 ausfiel. Das traurige Fazit: "Um 1950 war nicht mehr viel vom multiethnischen Osteuropa übrig. Nur die Nostalgie blieb." Hier beeindruckt der ebenso nüchterne wie differenzierende Blick einer Amerikanerin auf alle Opfer: die Polen, die Ukrainer, die Ungarn, die Deutschen und - in den bittersten Aporien - die Juden, die nach 1945, sofern sie der Vernichtung entkommen waren, mit neuen und alten Formen des offenen und verdeckten Antisemitismus konfrontiert waren und so doppelt zu Opfern wurden. Bekannt sind die schlimmen antisemitischen Ausschreitungen in Polen. Es gab sie aber auch - mit unsicheren Opferzahlen - in Ungarn, in der Tschechoslowakei und in Rumänien.
Der zweite, "Hochstalinismus" überschriebene Teil bietet einen Querschnitt durch die Thematik Feinde und Kollaborateure der neuen Regime. Interessant ist hier unter anderem die Betonung der Rolle von Wahlen. Offenbar hatten die Kommunisten in allen Ländern zunächst ernsthaft die Illusion, sie könnten nach dem Kriegsdesaster mit ihrem Programm punkten und in freien Wahlen die Macht erringen. Der homo sovieticus war ein charakteristisches Produkt dieser hochstalinistischen Phase, später hatten die Eleven Moskaus offenbar eingesehen, dass eine allzu enge Orientierung am großen Bruder doch nicht funktionieren würde. Zunächst aber ging es um die wichtige Frage, wie man Begeisterung und Mitarbeit für das sowjetische Vorbild aus Überzeugung und "von unten" schaffen konnte. Dazu gehörten neue Erziehungsmethoden, die bekanntlich häufig mit brutalen Mitteln durchgesetzt wurden, die Attraktivität von Ferienlagern und Jugendlagern sowie die überall in fast gleichen Formen ablaufenden imposanten Masseninszenierungen, Sportwettbewerbe und "Aktivistenkampagnen".
Kumpel Hennecke in Sachsen hatte sein Pendant in Polen im Bergmann Pstrowski (da er nicht alt wurde, spottete man in Polen: "Wenn du schneller in den Himmel kommen willst, arbeite so hart wie der Bergmann Pstrowski") und in Ungarn im Fabrikarbeiter Pióker. Hier wird durchaus erkennbar, dass der Stalinismus nicht ausschließlich auf Terror fußte, sondern auch seine Faszination besaß.
Zu den besonders markanten Erscheinungen gehörte ferner die Schaffung von sozialistischen Idealstädten. Die ostdeutsche Neugründung an der Oder - erst 1953 in Stalinstadt umbenannt - hatte ihr Pendant in Nowa Huta (in der Nähe von Krakau) und Sztálinváros in Ungarn. Alle entstanden in typischer Manier am Ort eines riesigen schwerindustriellen Komplexes. Alle wurden aber auch geprägt vom Enthusiasmus, einen wichtigen Schritt in die neue, von der Arbeiterklasse getragene Gesellschaft getan zu haben. Von den "widerwilligen Kollaborateuren" ist wahrscheinlich Boleslaw Piasecki der mit Abstand interessanteste. Er wird eingehend vorgestellt, ist aber durch seine abenteuerliche politische Biographie (Herkunft aus einer falangistischen Vorkriegsgruppe, Untergrundarbeit gegen die deutsche Besatzung, Verhaftung durch die Sowjets, Engagement für die Kommunisten und 1952 Gründer der katholischen geduldeten "Oppositionspartei" PAX) insgesamt kaum typisch für das generelle Problem.
Es gibt einige, bei einem umfassenden Thema kaum vermeidbare Fehler und Verkürzungen. Wichtiger: Der Zugang zum Thema wird wenig erörtert und der als grober Überblick konzipierte "Epilog" am Schluss kann ein zusammenfassendes vergleichendes Kapitel nicht ersetzen. Es fehlt auch der Hinweis auf den globalen "Klassenfeind" im Westen. Warum in der Phase des harten Kalten Krieges manche stalinistischen Kampagnen immerhin begrenzt erfolgreich waren, andererseits die Brutalität, solange Stalin lebte, auch besonders augenfällig war, lässt sich kaum hinreichend erklären, ohne zumindest einen Blick zu richten auf die Aktivitäten des Gegners im Westen, die Stalins paranoides Sicherheitsbedürfnis und die Verschwörungsneurosen der herrschenden Cliquen immer wieder beflügelten.
So bleibt der Eindruck etwas gespalten: ein ambitioniertes und ohne Frage sehr informatives, gut lesbares, mit Geschichten und vielen interessanten neuen Details angereichertes Buch über ein bedeutsames Thema, aber der große Wurf ist nicht daraus geworden.
CHRISTOPH KLESSMANN.
Anne Applebaum: Der Eiserne Vorhang. Die Unterdrückung Osteuropas 1944-1956. Siedler Verlag, München 2013. 639 S., 29,99 [Euro].
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