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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Diese Schriftstellerin wagt etwas, aber traut sie auch ihren Lesern? Olga Martynovas Roman "Der Engelherd" erzählt von gottverlassenen Menschen.
Es beginnt mit einem ersten Auszug aus dem "Journal eines Engelsüchtigen", dessen Berichte durch das ganze Buch hin immer wieder eingeschoben sind, in dem (mindestens) zwei Handlungsstränge zunehmend dichter verwoben werden. Auf der Ebene einer vordergründigen Realität im Hier und Jetzt erzählt eine (beinahe) jeglicher Introspektion mächtige Instanz, daneben entwickelt sich ein Roman im Roman mit dem Titel "Zwischenfall am See". Olga Martynova hat ein im Wortsinn unheimlich komplexes Gebilde geschaffen, das sich am "Engelherd" immer wieder bündelt. Dieser Engelherd ist eine "Vorrichtung zum Fangen von Engeln", angelehnt jenem "Vogelherd", der bis ins neunzehnte Jahrhundert als Fangplatz für Vögel diente. So ist das aus Johann Nepomuk Vogls Ballade von 1835 über den Ludolfinger Heinrich I. bekannt, auch genannt Heinrich der Vogler.
Mannigfaltig ist die Schar der Engel in ihren körperlosen Erscheinungsformen, ihre Wesensart wird so erläutert: "Die meisten der Engel sind mitleidsvoll, obwohl sie oft als gleichgültig gelten. Letzteres ist ein Trugschluss, der deshalb gemacht wird, weil sie sich in nichts einmischen dürfen, nur die ihnen gegebenen Aufgaben erfüllen, die manchmal recht grausam sind und für die in der Regel sanften Engel unbegreiflich." Wer den Engeln ihre Aufgaben gibt, bleibt im Dunkeln, kein Gott waltet weit und breit. Doch der Engelsüchtige fügt hinzu, dass es die "einfachere Fangmethode" sei, "den Engelherd in der Nähe eines Ortes einzurichten, wo viele Menschen gepeinigt werden. Massenmordorte zum Beispiel sind sehr dafür geeignet." Und Orte unter schwierigen Umständen zu lebender Liebe sind es genauso, lässt sich hinzufügen. Martynova schickt ihre Leser mit diesem Gepäck auf eine Reise in Abgründe. In ihrer Versuchsanordnung überwuchert eine eigenwillige, nur metaphysisch zu heißende Struktur jede intellektuell und emotional erfahrbare Wirklichkeit.
Der Einstieg ist harmlos, in einem späten Frühling. Der selbstbegeisterte Caspar Waidegger, ein noch nicht abgehalfterter, aber an seine Grenzen als alternder Mann stoßender Erfolgsautor, hält seine samstägliche Mittagsgesellschaft im eigenen Haus ab: "Das Leben in seiner Blödheit hielt Caspar Waidegger für unschlagbar." Damit wird er recht behalten, in mehr als einer Hinsicht. Anwesend ist auch die Studentin Laura Schmitz, die an einer Doktorarbeit über sein Werk laboriert. Lauras zusätzliche Funktion ist die als Waideggers jugendliche Geliebte seit Jahren. Nachgerade engelsgeduldig harrt Laura seiner Anrufe, die sie zu ihm rufen; für ihn ist sie angenehm wie ein weicher "Nebel". Waidegger und Laura sind die Hauptpersonen des Buchs. Nicht ohne Witz ist dabei, dass Laura den einzigen normalen Nachnamen in einer Ansammlung ambitionierten Personals trägt, vielleicht ein Zeichen für ihre Erdhaftung in diesem selbstbezogen überhitzten Milieu. Jedenfalls inspiriert dieser Mittag Waidegger, einen neuen Roman zu beginnen, zunächst vorsätzlich dem Kitsch nah. Der "Zwischenfall am See" in seiner Fortschreibung tritt, graphisch abgesetzt wie das "Journal des Engelsüchtigen", neben die Affäre von Laura und Waidegger.
Derweil können die Engel nicht Zeit als Kontinuität und nicht Raum als Örtlichkeit begreifen, sie taumeln im Kosmos. Schrecklich sind sie nicht (wie bei Rilke), hilflos umschwirren sie (neben einem wie Hölderlin und anderen Verirrten) auch die hienieden anscheinend "Blöden". Wie Waideggers erwachsene Tochter Maria aus seiner gescheiterten Ehe eine ist, die er in ihrem Heim oft besucht, nachdem er sie als Kind allein ließ, um schreiben zu können. So ist das unter den Menschen; manche sind zu spät der Liebe fähig. Einige Engel sind vorstellbar wie die von Paul Klee gemalten Geistlein, jedenfalls für die geistig behinderte Maria.
Die Verirrten dieser Erde - die Blöden, die Dichter, die Liebenden, was wahrscheinlich auf dasselbe hinausläuft - werden von Engeln begleitet. Darauf setzt Martynova, und der Leser soll ihr folgen, bis in die schlimmste Finsternis. Auf vielfach verästelten Haupt- und Nebenwegen (um den Titel von Klees bekanntestem Bild zu bemühen) geht es dahin für den zunehmend schwächelnden Waidegger und Laura (deren Vorname zunehmend sprechend wird), bis nach Bayreuth etwa (von allen guten Geistern verlassen), kryptisch kommentiert vom "Journal eines Engelsüchtigen". Unter der Hand führt Waidegger die ursprüngliche Kolportage "Zwischenfall am See" zurück in seine eigene Kindheit, hin zu seiner ungeliebten Mutter, zu deren Karriere als Schauspielerin unter den Nationalsozialisten, um den Preis einer Schreckenstat.
Olga Martynova entwirft ein ganzes Universum "engelischer" (so nennt sie das) Präsenzen. Die Engel können weder in so banale Beziehungen wie die Waideggers zu Laura eingreifen, noch konnten sie Tötungen in dunkelster Zeit verhindern. Die Schärfe dieser Gegensätze ist auszuhalten. Der Engelsüchtige weiß vom kleinen schüchternen "Engel, der das Glas mit dem schwimmenden Mädchenkopf umarmt", genauso wie vom argen "Todesengel", mit seinem scharfen Messer für die Gerechten und dem stumpfen Messer für die schlechten Menschen. Der letzte Auszug aus seinem "Journal"schildert - wie im Showdown eines brutalen Films - ein Schlachten, in dem Raum und Zeit verschmelzen: "Eine Engeltraube schaukelt in der Luft. Der Raum sieht der Hölle sehr ähnlich, wie sie die kundigen Engel beschreiben, die davon auch nur vom Hörensagen wissen, denn in der Hölle haben Engel keinen Zutritt."
Am Anfang, bei Waideggers Mittagsgesellschaft, sagt ein vorlauter junger Mann, dass es keine Geschichte gebe, "es gibt nur die Art, sie zu erzählen. Wer besser erzählt, der bestimmt, was stimmt." Martynova erzählt phantastisch in jedem Sinn, sie schont weder sich selbst noch ihre Leser. Doch es ist, als hätte sie eine Schraube zu weit gedreht. Das Gewinde, das über lange Zeit gegriffen hat, leiert im letzten Drittel ihres Experiments aus. Sie kann auch auf den Schwingen ihrer sechsflügligen Engel das Gewicht der Welt nicht austarieren. Vielleicht will sie das auch nicht. Aber es entsteht der Eindruck, als traute sie ihren Lesern, die so lange dabei geblieben sind, nicht wirklich. Als traute sie also ihrer Erzählkunst nicht, mit der sie die Trivialität des Lebens gegen das unauslöschbare Unrecht setzt. Das hätte sie aber tun können; der grausige Showdown verfehlt deshalb die erwünschte Wirkung. Dennoch bleibt Olga Martynovas Ausharren am "Engelherd" ein nachklingendes Wagnis. Selbst im Scheitern am Schluss ist ihre Courage zu bewundern.
ROSE-MARIA GROPP.
Olga Martynova: "Der Engelherd". Roman.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2016. 368 S., geb., 23,- [Euro].
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