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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Die Altphilologin Melanie Möller polemisiert gegen die moralische Betrachtung von Literatur
Als Liebhaber der Literatur, zumal ihrer klassischen Werke, begegnet man Melanie Möllers Buch mit einem Vorschuss an Sympathie. Denn beim Blick auf die literarischen Debatten der vergangenen Jahre kann man wie die Verfasserin den Eindruck gewinnen, dass moralische Sensibilitäten bisweilen überhandgenommen haben, ob es um die Bewertung Otfried Preußlers oder die Übersetzung Amanda Gormans geht. Zudem gibt es heutzutage nicht mehr viele Altertumswissenschaftler, die sich an öffentlichen Debatten beteiligen - die Antike könnte aber besonders gut geeignet sein, um mit etwas Abstand über den Sinn moralischer Maßstäbe in Philologie und Literaturkritik zu reflektieren. So ist man neugierig und gespannt, wenn Melanie Möller, Latinistin an der FU Berlin, nach Zeitungsbeiträgen und Einführungen zu Homer und Ovid nun auch mit einem Thesenbuch an die Öffentlichkeit tritt.
Von Anfang an wird deutlich, dass ihr das Genre gefällt; sie schreibt mit Verve und ohne Rücksicht auf Verluste. In der Einleitung holt sie zum Rundumschlag gegen nahezu alle aus, die sich bislang mit moralischen Urteilen in der Literatur befasst haben: natürlich gegen diejenigen, die Texte zensieren wollen, aber auch gegen diejenigen, die zur Abwehr solcher Eingriffe auf den historischen Kontext der Werke verweisen, und selbst gegen diejenigen, die political correctness kritisieren, es aber aus humanistisch-didaktischer Perspektive tun. Sie alle sind in Möllers Augen der diskursiven Mode verfallen, indem sie moralische Vorstellungen an die Literatur herantragen. Möller selbst möchte dagegen etwas radikal anderes bieten: einen "leidenschaftlichen Kampf für die Autonomie der Literatur, der diese schützt wie eine bedrohte Minderheit - und zwar kompromisslos".
Möllers Buch will Literaturgeschichte und Streitschrift zugleich sein. In neun Kapiteln stellt sie Beispiele je eines antiken und (meist) eines modernen Autors nebeneinander, die aus moralischer Perspektive beanstandet worden seien. Gerade bei den antiken Werken ist in der Regel jedoch unklar, wer diese überhaupt kritisiert oder gar zensieren möchte, gegen wen Möller sie also so entschieden verteidigt. Immer wieder teilt sie gegen eine Monographie ihrer Fachkollegin Katharina Wesselmann aus. Doch ob diese wirklich solch scharfe Angriffe gegen die antike Literatur reitet, wie Möllers Polemik suggeriert, ist angesichts der von Möller gewählten, eher harmlosen Zitate fraglich (F.A.Z. vom 10. April).
Ansonsten kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich die Autorin weitgehend an Strohmännern abarbeitet. Das ist umso erstaunlicher, als die griechisch-römische wie die moderne Literatur seit 2500 Jahren natürlich immer wieder moralischer Kritik ausgesetzt gewesen ist: von Platons staatsmännischer Ablehnung Homers über christliche Auslassungen bis hin zu Debatten in der heutigen Fachdidaktik. Um wirklich einen Beitrag zur "Geschichte der Gewalt gegen (. . .) die Kunst" zu liefern, hätte man hier deutlich präziser arbeiten müssen.
Schwerer wiegen argumentative Mängel. So bleibt unklar, wo für Möller der unzulässige Eingriff in die "Freiheit der Literatur" beginnt: wenn Texte beschnitten, wenn sie angepasst, oder bereits wenn sie überhaupt moralisch bewertet werden, ein Interpret also beispielsweise das "sexistische" Gedankengut eines Texts thematisiert. Möllers allumfassende Polemik legt nahe, dass schon Letzteres für sie zu weit geht.
Ihre am häufigsten angewandte Strategie zur Verteidigung der inkriminierten Literatur ist dann jedoch eine, die sie nach diesem Ansatz gar nicht anwenden dürfte. Immer wieder versucht sie sich an einer Aufwertung vermeintlich schwacher Frauenfiguren: von Helena und Penelope bei Homer über Daphne und Atalanta bei Ovid bis zu Katharina in Shakespeares "The Taming of the Shrew". Dass alle diese mehr agency haben als eine oberflächlich-empörte Lektüre erkennt, mag durchaus richtig sein. Doch ist eine Interpretation, die die Kompatibilität antiker Werke mit modernen Wertvorstellungen herausstellt, nicht lediglich das Gegenstück einer Interpretation, die Unterschiede zwischen beiden betont? Warum ist eine Aussage wie "Die Gemeinplätze der Gattung scheinen aus heutiger Sicht bisweilen schwer verdaulich" (Wesselmann) für Möller dann schon übergriffig?
Das stärkste Argument für literarische Autonomie bietet ein Kafka-Zitat, das dem Werk vorangestellt ist. Ein gutes Buch, so Kafka, solle uns nicht glücklich machen, sondern "beißen und stechen", uns "mit einem Faustschlag auf den Schädel" wecken. Mit anderen Worten: Anerkannte Werte und Wahrheiten zu hinterfragen, ist eine zentrale Funktion der Literatur. Das ist zweifellos zutreffend, doch auch Kafkas schöne Metapher hat ihre argumentativen Grenzen. Nicht jeder Text, der uns mit rassistischen oder sonstigen unmoralischen Ideen schockiert, ist deswegen ein guter Text - ganz abgesehen davon, dass ein solcher Schock auch wieder voraussetzt, dass wir uns überhaupt von Literatur moralisch affizieren lassen. Für eine radikal ästhetische, womöglich formalistische Lektüre bietet Möller jedenfalls keine Anhaltspunkte.
Vielleicht wäre eine solche auch gar nicht wünschenswert. Denn dass es uns zunächst einmal verstört, wenn Catull seine Widersacher als "Schwuchteln" bezeichnet und ihnen mit Vergewaltigung droht, oder wenn in der "Verlobung von St. Domingo" Kleist "Neger" durchweg in schlechtem Licht erscheinen lässt, ist allzu verständlich. Wäre es da wirklich sinnvoll, sich solche Reaktionen abzutrainieren, wie man Möller verstehen mag? Oder ist die entscheidende Frage nicht vielmehr, wie man mit diesen Irritationen umgeht - ob man die Auseinandersetzung mit den entsprechenden Werken verweigert, oder ob man auch andere Dinge in ihnen sehen, die eigene Verstörung vielleicht sogar hermeneutisch fruchtbar machen kann?
Hier und anderswo hätte es reichlich Raum für Differenzierungen gegeben: zwischen moralischem Unbehagen und Aufrufen zur Zensur, zwischen Figuren- und Erzählperspektive, zwischen intendierter Amoralität und solcher, die nur bei Nicht-Berücksichtigung des historischen Kontexts entsteht. Vor allem hätte man systematisch darlegen können, warum auch die Beschäftigung mit "unmoralischer" Literatur lohnt. Stattdessen antwortet Möller Studenten, die sich über Kleists vermeintlichen Rassismus beschweren: "Ja, und? (. . .) Da müssen alle durch." Weniger Polemik und mehr Reflexion hätten ihrem Buch gutgetan. JANNIS KOLTERMANN
Melanie Möller:
"Der entmündigte
Leser". Für die Freiheit
der Literatur.
Eine Streitschrift.
Verlag Galiani,
Berlin 2024.
240 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Altphilologin Melanie Möller polemisiert gegen die moralische Betrachtung von Literatur
Als Liebhaber der Literatur, zumal ihrer klassischen Werke, begegnet man Melanie Möllers Buch mit einem Vorschuss an Sympathie. Denn beim Blick auf die literarischen Debatten der vergangenen Jahre kann man wie die Verfasserin den Eindruck gewinnen, dass moralische Sensibilitäten bisweilen überhandgenommen haben, ob es um die Bewertung Otfried Preußlers oder die Übersetzung Amanda Gormans geht. Zudem gibt es heutzutage nicht mehr viele Altertumswissenschaftler, die sich an öffentlichen Debatten beteiligen - die Antike könnte aber besonders gut geeignet sein, um mit etwas Abstand über den Sinn moralischer Maßstäbe in Philologie und Literaturkritik zu reflektieren. So ist man neugierig und gespannt, wenn Melanie Möller, Latinistin an der FU Berlin, nach Zeitungsbeiträgen und Einführungen zu Homer und Ovid nun auch mit einem Thesenbuch an die Öffentlichkeit tritt.
Von Anfang an wird deutlich, dass ihr das Genre gefällt; sie schreibt mit Verve und ohne Rücksicht auf Verluste. In der Einleitung holt sie zum Rundumschlag gegen nahezu alle aus, die sich bislang mit moralischen Urteilen in der Literatur befasst haben: natürlich gegen diejenigen, die Texte zensieren wollen, aber auch gegen diejenigen, die zur Abwehr solcher Eingriffe auf den historischen Kontext der Werke verweisen, und selbst gegen diejenigen, die political correctness kritisieren, es aber aus humanistisch-didaktischer Perspektive tun. Sie alle sind in Möllers Augen der diskursiven Mode verfallen, indem sie moralische Vorstellungen an die Literatur herantragen. Möller selbst möchte dagegen etwas radikal anderes bieten: einen "leidenschaftlichen Kampf für die Autonomie der Literatur, der diese schützt wie eine bedrohte Minderheit - und zwar kompromisslos".
Möllers Buch will Literaturgeschichte und Streitschrift zugleich sein. In neun Kapiteln stellt sie Beispiele je eines antiken und (meist) eines modernen Autors nebeneinander, die aus moralischer Perspektive beanstandet worden seien. Gerade bei den antiken Werken ist in der Regel jedoch unklar, wer diese überhaupt kritisiert oder gar zensieren möchte, gegen wen Möller sie also so entschieden verteidigt. Immer wieder teilt sie gegen eine Monographie ihrer Fachkollegin Katharina Wesselmann aus. Doch ob diese wirklich solch scharfe Angriffe gegen die antike Literatur reitet, wie Möllers Polemik suggeriert, ist angesichts der von Möller gewählten, eher harmlosen Zitate fraglich (F.A.Z. vom 10. April).
Ansonsten kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich die Autorin weitgehend an Strohmännern abarbeitet. Das ist umso erstaunlicher, als die griechisch-römische wie die moderne Literatur seit 2500 Jahren natürlich immer wieder moralischer Kritik ausgesetzt gewesen ist: von Platons staatsmännischer Ablehnung Homers über christliche Auslassungen bis hin zu Debatten in der heutigen Fachdidaktik. Um wirklich einen Beitrag zur "Geschichte der Gewalt gegen (. . .) die Kunst" zu liefern, hätte man hier deutlich präziser arbeiten müssen.
Schwerer wiegen argumentative Mängel. So bleibt unklar, wo für Möller der unzulässige Eingriff in die "Freiheit der Literatur" beginnt: wenn Texte beschnitten, wenn sie angepasst, oder bereits wenn sie überhaupt moralisch bewertet werden, ein Interpret also beispielsweise das "sexistische" Gedankengut eines Texts thematisiert. Möllers allumfassende Polemik legt nahe, dass schon Letzteres für sie zu weit geht.
Ihre am häufigsten angewandte Strategie zur Verteidigung der inkriminierten Literatur ist dann jedoch eine, die sie nach diesem Ansatz gar nicht anwenden dürfte. Immer wieder versucht sie sich an einer Aufwertung vermeintlich schwacher Frauenfiguren: von Helena und Penelope bei Homer über Daphne und Atalanta bei Ovid bis zu Katharina in Shakespeares "The Taming of the Shrew". Dass alle diese mehr agency haben als eine oberflächlich-empörte Lektüre erkennt, mag durchaus richtig sein. Doch ist eine Interpretation, die die Kompatibilität antiker Werke mit modernen Wertvorstellungen herausstellt, nicht lediglich das Gegenstück einer Interpretation, die Unterschiede zwischen beiden betont? Warum ist eine Aussage wie "Die Gemeinplätze der Gattung scheinen aus heutiger Sicht bisweilen schwer verdaulich" (Wesselmann) für Möller dann schon übergriffig?
Das stärkste Argument für literarische Autonomie bietet ein Kafka-Zitat, das dem Werk vorangestellt ist. Ein gutes Buch, so Kafka, solle uns nicht glücklich machen, sondern "beißen und stechen", uns "mit einem Faustschlag auf den Schädel" wecken. Mit anderen Worten: Anerkannte Werte und Wahrheiten zu hinterfragen, ist eine zentrale Funktion der Literatur. Das ist zweifellos zutreffend, doch auch Kafkas schöne Metapher hat ihre argumentativen Grenzen. Nicht jeder Text, der uns mit rassistischen oder sonstigen unmoralischen Ideen schockiert, ist deswegen ein guter Text - ganz abgesehen davon, dass ein solcher Schock auch wieder voraussetzt, dass wir uns überhaupt von Literatur moralisch affizieren lassen. Für eine radikal ästhetische, womöglich formalistische Lektüre bietet Möller jedenfalls keine Anhaltspunkte.
Vielleicht wäre eine solche auch gar nicht wünschenswert. Denn dass es uns zunächst einmal verstört, wenn Catull seine Widersacher als "Schwuchteln" bezeichnet und ihnen mit Vergewaltigung droht, oder wenn in der "Verlobung von St. Domingo" Kleist "Neger" durchweg in schlechtem Licht erscheinen lässt, ist allzu verständlich. Wäre es da wirklich sinnvoll, sich solche Reaktionen abzutrainieren, wie man Möller verstehen mag? Oder ist die entscheidende Frage nicht vielmehr, wie man mit diesen Irritationen umgeht - ob man die Auseinandersetzung mit den entsprechenden Werken verweigert, oder ob man auch andere Dinge in ihnen sehen, die eigene Verstörung vielleicht sogar hermeneutisch fruchtbar machen kann?
Hier und anderswo hätte es reichlich Raum für Differenzierungen gegeben: zwischen moralischem Unbehagen und Aufrufen zur Zensur, zwischen Figuren- und Erzählperspektive, zwischen intendierter Amoralität und solcher, die nur bei Nicht-Berücksichtigung des historischen Kontexts entsteht. Vor allem hätte man systematisch darlegen können, warum auch die Beschäftigung mit "unmoralischer" Literatur lohnt. Stattdessen antwortet Möller Studenten, die sich über Kleists vermeintlichen Rassismus beschweren: "Ja, und? (. . .) Da müssen alle durch." Weniger Polemik und mehr Reflexion hätten ihrem Buch gutgetan. JANNIS KOLTERMANN
Melanie Möller:
"Der entmündigte
Leser". Für die Freiheit
der Literatur.
Eine Streitschrift.
Verlag Galiani,
Berlin 2024.
240 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main