Silvio Reichelts Arbeit untersucht den in Wittenberg gepflegten Umgang mit dem reformationsgeschichtlichen Erbe der Stadt unter den Bedingungen von fünf verschiedenen politischen Systemen. Die analytische Tiefenbohrung im »historisch langen Bogen« von 1883 bis 2011 zeigt, wie der Erlebnisraum Lutherstadt Wittenberg als historischer Raum des Wissens, politischer Raum der Ideologie und sakraler Raum des Glaubens Erinnerung leiten, kanalisieren und kodieren konnte. Deutlich wird dabei, dass historische Erinnerung die Vergangenheit nicht einfach rekonstruiert, sondern sich vielmehr als permanenter Überschreibungsprozess charakterisieren lässt. Bewohner und Besucher machen sich mittels Erinnerung ein »Bild« von der Vergangenheit, ein Prozess, der stets an den Raum gebunden ist. Deshalb ist die Geschichte der in Wittenberg betriebenen Reformationserinnerung nicht nur eine des Schutzes und der Erhaltung eines historischen Stadtraums, sondern sie ist auch eine Folge von räumlichen Operationen, die der Formierung eines gewünschten Vorstellungshorizonts dienten. Wittenberg war seit dem 19. Jahrhundert einem ständigen Formenwandel unterworfen, der sich zwischen den Polen Authentizitätsanspruch, Geschichtswert und Vergegenwärtigungszweck bewegt hat. Dieser Prozess war mit einer grundsätzlichen Bedeutungsverschiebung der Reformation verbunden: Während ihre sinnstiftende Bedeutung als religiöses Moment tendenziell schwand, nahm ihre erlebnisorientierte Wahrnehmung als beschauliches historisches Ambiente zu. Reichelts historischer Rückblick liefert wichtige Erkenntnisse für die gegenwärtig praktizierte Reformationserinnerung. Dies gilt sowohl für den Umgang mit den materiellen Zeugnissen der Vergangenheit als auch für die Kommemoration im Fest und die Ausgestaltung des Luthertourismus.