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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Kinderland ist abgebrannt: Liliana Corobca erzählt von Sozialwaisen in Moldawien, die viel zu früh erwachsen werden müssen.
Von Sabine Berking
Abends um acht wird geweint, kollektiv und geschwisterlich, denn man kann schließlich nicht den ganzen Tag heulen, selbst wenn einem danach zumute ist. Cristina hat anderes zu tun. Sie kocht das Essen, macht die Wäsche, putzt. Und nebenbei geht sie zur Schule, gern sogar, denn hier kann sie endlich Kind sein. Cristina ist zwölf, und in Moldau ist das ein Alter, in dem man schon ein "sehr großer Mensch" ist. Ihre Eltern arbeiten im Ausland, die Mutter hütet in Italien die Kinder anderer Leute, der Vater schuftet in einer russischen Mine. Im Dorf gibt es, wie im ganzen Land, kaum Arbeit, mit der die Eltern die fünfköpfige Familie ernähren und den Kindern eine Perspektive außerhalb des Dorfes bieten könnten. Deshalb schlägt sich Cristina eher schlecht als recht mit ihren sechs und drei Jahre alten Brüdern durch, versucht, ihnen Mutter und Vater zugleich zu sein. Am Wochenende schlüpfen die drei Geschwister in die Kleider der Eltern, riechen erinnerungstrunken an den Stoffen und spielen Familie, eine herzzerreißende, traurige Angelegenheit. Nachts verbarrikadieren sie sich mit Stöcken und Messern unter den Betten, aus Angst vor Geistern und Dieben, denn in dieser brutalen, aus allen ökonomischen und moralischen Fugen geratenen Dorfgemeinschaft stiften die verbliebenen, meist alkoholkranken Eltern ihre Kinder nicht selten an, bei denen zu stehlen, die scheinbar mehr haben als sie. Manchmal kommen von ihren Vätern blutig geschlagene Kinder zu ihr, und Cristina, die kleine Erwachsene, versorgt ihre Wunden.
Im rumänischen Original trägt dieser erschütternde zweite Roman von Liliana Corobca den Titel "Kinderland", ein Name, den die Kinder mit den lustigen Überraschungseiern verbinden, mitgebracht aus einer fernen Welt von ihren Eltern, wenn diese einmal im Jahr für ein paar Tage nach Hause kommen. Bereits in ihrem Romandebüt "Ein Jahr im Paradies" (dt. 2011) hatte die 1975 in Moldau geborene und heute in der rumänischen Hauptstadt Bukarest lebende Autorin die prekäre und nicht selten gefährliche Massenauswanderung ihrer Landsleute nach Europa thematisiert, damals am Beispiel des perfiden Menschenhandels zum Zwecke der Zwangsprostitution.
Die kleine und doch so große Heldin ihres neuen Romans mutet zuweilen wie eine in der bitteren Wirklichkeit eines zusammenwachsenden und doch immer weiter auseinanderdriftenden Kontinents angekommene Pippi Langstrumpf an. Die antiautoritären Phantasien einer Wohlstandsgesellschaft aus dem letzten Jahrhundert mutierten in den vergangenen Jahren zu einem sehr realen Albtraum in den Armenhäusern am Rande Europas. Cristina ist eine von geschätzten vierzigtausend sogenannten Sozialwaisen in Moldau, die allein oder bei hoffnungslos überforderten Großeltern aufwachsen. Sie tun es in einem Land, in dem jeder vierte Einwohner und nahezu jeder zweite im erwerbsfähigen Alter, nicht selten illegal, im Ausland arbeitet, und dessen korrupte Politiker ihrem Volk gerade eine Milliarde Dollar über Offshore-Banken aus der Tasche gezogen haben.
Cristina weiß um all diese Dinge wenig und misst Reichtum auf ihre Weise. Wenn sie einmal frei ist von ihren Erwachsenenpflichten, wenn sie die Tiere auf dem Hof gefüttert, den kleinsten Bruder, der viel weint, getröstet und den größeren ermahnt hat, wenn sie selbst tapfer und ohne zu weinen mit der Mama telefoniert hat, flüchtet sie sich in Erinnerungen und in eine von der Natur des grünen, hügeligen Landes gespeiste mythische Welt, in der sie ihren ersten Horizont entdeckte. Dieses leise, konsequent aus der Perspektive der Heranwachsenden erzählte Buch wurde von Ernest Wichner, wie schon so viele andere aus dem Rumänischen, auch diesmal einfühlsam ins Deutsche gebracht.
Eines liegt dem Mädchen besonders schwer auf der Seele. Sie und ihre Brüder wünschen sich nichts so sehr, als dass die Eltern zurückkommen, wenigstens auf einen kurzen Besuch, und wissen doch, dies könnte vor der Zeit nur dann geschehen, wenn die kranke, demente Großmutter, die in einem anderen Haus vor sich hindämmert, stirbt. Darf man sich das wünschen?
Liliana Corobca: "Der erste Horizont meines Lebens". Roman.
Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner. Zsolnay Verlag, Wien 2015. 190 S., geb., 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Corobcas Roman berichtet nicht nur mit Zärtlichkeit und Witz vom Schmerz und von der Geduld verlassener Kinder, er zeichnet mit hellwachem Realismus auch den wirtschaftlichen, sozialen und moralischen Zerfall des bäuerlichen Milieus nach." Andreas Breitenstein, Neue Zürcher Zeitung, 29.09.15
"Liliana Corobca hat nicht nur eine beeindruckende Heldin erschaffen, sondern auch ein ebenso bewegendes wie anrührendes Zeitdokument. Ein Zeitdokument über das Leben von Kindern im heutigen Europa, das im Herzen des Lesers Unruhe stiftet und viele Fragen aufwirft." Mirko Schwanitz, Kulturradio RBB, 23.08.15
"Liliana Corobca gelingt es mit ihrem beharrlichen Blick aufs Detail, der fast schon an die emotionale Schmerzgrenze reicht, die kosmische Einsamkeit dieser Kinder in Worte zu fassen." Dirk Schümer, Die Welt, 22.08.15
"Der Ton der Erzählerin, halb naiv und halb altklug, halb erschüttert und halb ungerührt hart, ist genau der, den man einer zu früh reifen Zwölfjährigen zutraut. ... Dazu passt der alltäglich-trockene Realismus Corobcas, dessen Höhepunkt die anschaulichen Bilder sind." Hans-Peter Kunisch, Zeit Online, 30.09.15
"In emotionaler und kunstvoller Sprache erzählt Corobca ergreifend vom Kinderalltag in einer kaputten Erwachsenenwelt, von Empörung, Sehnsucht, Zärtlichkeit und Wut." Carsten Hueck, WDR5, 24.10.15
"Ein unsentimentales, aber zärtliches, wunderbares Buch aus unserer europäischen Nachbarschaft."
Cornelia Zetzsche, BR Diwan, 09.01.16