Der erste Roman eines Meisters Die Geschichte von Arthur Ownby, Hüter eines verwilderten Apfelhains, dem jungen John Wesley Rattner und dem Schnapsschmuggler Marion Sylder spielt zwischen den Kriegen im gottverlassensten Tennessee. Marion hat vor Jahren in Notwehr Johns Vater getötet und in einer Mischgrube im Garten versenkt, ohne zu ahnen, dass Arthur sein stummer Augenzeuge war. Als Marion einen Autounfall hat, rettet John ihm das Leben. Der Junge, der den Tod seines Vaters rächen möchte, weiß so wenig, mit wem er es zu tun hat, wie umgekehrt Marion, und so entsteht eine Vater-Sohn-Beziehung zwischen den beiden in diesem vergifteten Garten Eden. Ein stimmungssatter, gewalttätiger, fast lyrischer Roman mit unvergesslichen Bildern voll düsterer Schönheit.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.01.2016In Gegenwart
des Bösen
Cormac McCarthys Debütroman
aus dem Jahr 1965 erstmals auf Deutsch
VON CHRISTOPH SCHRÖDER
Wohin der Blick auch fällt: Vereinzelung, Fremdheit, Geworfensein. Worte erscheinen bei dem Schriftsteller Cormac McCarthy nicht als ein selbstverständliches Mittel zur Verständigung, sondern als kantige, aus der Stille herausgemeißelte Brocken, roh, unbehauen und – in der Figurenrede – auch unbeholfen. Die Menschen haben sich wenig zu sagen; ihr Gemütszustand lässt sich an anderen Parametern ablesen. An der unermüdlich und detailreich beschriebenen Landschaft, die sie umgibt. Oder eben auch am Zustand der Gebäude, in denen sie sich aufhalten.
Das Green Fly Inn ist ein Lokal in einem Kaff namens Red Branch, irgendwo in der Berglandschaft des östlichen Tennessee. Dort ist McCarthy aufgewachsen. Die Kneipe steht auf einem Gerüst aus Holzpfählen über einem Abhang, und eines Tages wird die Konstruktion in sich zusammensacken und eine Menge der betrunkenen Gäste in den Abgrund mitnehmen. Unter ihnen ist auch ein Mann namens Kenneth Rattner. Er kommt mit einer Schnittwunde an der Hand davon, vorerst.
Das Werk des 1933 geborenen Cormac McCarthy ist ein Monolith. Das Grauen, das McCarthy in der Welt ahnt, ist in den vergangenen Jahren in der öffentlichen Wahrnehmung relativiert worden durch Verfilmungen seiner späten Romane, in denen, wie beispielsweise in der Adaption der Coen-Brüder von „No Country for Old Men“, Gewalt und Schrecken ironisiert und damit kultfähig gemacht wurden. Nun hat der Rowohlt Verlag die letzte Lücke geschlossen und McCarthys Debütroman aus dem Jahr 1965 in einer gewohnt glänzenden Übersetzung von Nikolaus Stingl veröffentlicht. Bedauerlicherweise jedoch nur in einer recht lieblosen Taschenbuchausgabe und versehen mit einem absurd fehlerhaften Klappentext.
„Der Feldhüter“ ist in den Zwanziger- und Dreißigerjahren angesiedelt, der Zeit zwischen zwei Kriegen und der Prohibition, in einer Epoche der Umbrüche. Dass McCarthy bis heute mit William Faulkner verglichen wird, oft zu Unrecht, verdankt sich vor allem seinen frühen, in der Tradition der Southern Gothic stehenden Büchern: Das Erzählen ist kaleidoskopartig, multiperspektivisch, chronologisch aufgebrochen, aufgesplittert in Beobachtungen, Erinnerungen, Träume. Psychologie ist ausgelagert. Personen treten auf und verschwinden wieder. Die scheinbar losen Fäden werden erst gegen Ende verknüpft.
Drei Figuren sind es, die die Handlung innerhalb eines dichten Stimmungsbildes bestimmen: Der alte Arthur Ownby lebt zurückgezogen in seiner Hütte oberhalb eines alten Obsthains. Der verwegene und abenteuerlustige Marion Sylder schmuggelt in der Gegend im großen Stil schwarz gebrannten Whiskey. Eines Tages nimmt Sylder eher unfreiwillig einen Anhalter mit, und sofort formt sich in ihm „die tiefe und unerschütterliche Gewissheit, dass er sich in Gegenwart des Bösen befand.“ Als das Auto eine Panne hat, wird Sylder von dem Mann überfallen, setzt sich zur Wehr und erwürgt den Angreifer schließlich, obwohl die Notwehrsituation längst vorüber ist; ein unerklärlicher Einbruch von Archaik. Den Toten entsorgt Sylder in einer Grube auf Ownbys Grundstück.
Der Mann, der da entsorgt wurde, ist der Vater des dritten Protagonisten: John Wesley Rattner wächst fortan als Halbwaise auf und hat gegenüber seiner Mutter den Schwur geleistet, das Verschwinden des Vaters eines Tages aufzuklären. Nun streift er durch die Gegend, ein verwilderter Jäger. Als Sylder bei einem Autounfall in den Fluss stürzt, ist es ausgerechnet John Wesley, der ihn aus dem Wasser zieht. Keiner von beiden weiß, wen er vor sich hat, und es entsteht ein von gegenseitiger Zuneigung geprägtes Verhältnis.
„Der Feldhüter“ ist ein hemmungsloses, zügelloses Buch. Ein Roman, dem deutlich anzumerken ist, dass sich in ihm ein ambitionierter, sprachgewaltiger Autor in einem unermesslichen Vokabelreichtum erprobt und dabei seine Prosa stellenweise mit seiner Bilderwut, mit Lyrismen und biblischen Anspielungen geradezu zwangsläufig überinstrumentiert. Und dann gibt es nicht wenige Augenblicke, in denen McCarthy Naturbeschreibungen gelingen, die, das lässt sich nicht anders sagen, wunderschön und luzide sind: „Am einundzwanzigsten Dezember begann es irgendwann nach Mitternacht zu schneien. Am Morgen, im grauen, gespenstischen Licht eines kurzen, obskuren Winters, lagen die Felder totenweiß, berührt von einem phosphorartigen Schimmer, als brächten sie selbst Licht hervor, und der Schnee schwebte immer noch dicht herab, verschleierte die Bäume jenseits des Flusses und auch den Berg, fiel und fiel, sanft und leise klingend in der ungeheuren weißen Stille.“
Das komplexe Dreiecksverhältnis zwischen Mensch, Natur und Zivilisation (die bei McCarthy stets bedeutet: Zerstörung und Verlust) liegt dem Roman als Leitthema zugrunde. McCarthy ist ein Protokollant des Niedergangs und der ins Überpersonale und Überzeitliche transportierten Verstörung. Was in „Der Feldhüter“ markiert wird, ist der schleichende Einzug des urbanen und technisierten Lebens in einen bis dahin abgeschotteten ländlichen Raum. Biblisch gesprochen, inszeniert McCarthy in jedem seiner Romane mindestens einen Sündenfall. Zusammen genommen ergibt sich daraus die Konsequenz, dass es keine Unschuld gibt und keine Unschuldigen und dass, wie es im Roman „Grenzgänger“ (1998) heißt, „keine weltliche Ordnung außer der des Todes“ existiert.
Am Ende von „Grenzgänger“ wird der 16-jährige Protagonist vom hellen Blitz eines Atombombentests in der Wüste geblendet. Und „Die Abendröte im Westen“ (1985), der wohl schonungsloseste Roman McCarthys, endet mit einer Szene, in der eine sektenhaft anmutende Wandergruppe die Löcher für die Zäune zur Parzellierung des Landes anlegt. In „Der Feldhüter“ ist es der alte Arthur Ownby, der schließlich die Verhältnisse ins Rutschen bringt. Seine Motive bleiben unausgesprochen und erklären sich dennoch: Ownby ist zum Vertriebenen geworden. Im Originaltitel „The Orchard Keeper“ schwingt die Assoziation des Paradiesgartens mit. Die Schuld und die Fäulnis haben nun auch in Ownbys Welt Einzug gehalten. McCarthys Debütroman taucht die Entzauberung ins Licht der mythisch-lyrischen Überhöhung. Erlösung wird sich hier nicht finden. Wenn es einen tröstenden Gegenentwurf gibt, dann nur in der unbändigen Schönheit der Natur. Und in dem Sound, in dem McCarthy davon kündet.
McCarthys Erstling steht
noch ganz in der Tradition
der Southern Gothic
Trost gibt es in dieser
heillosen Welt nur in der wilden
Schönheit der Natur
Der Einzelgänger Cormac McCarthy ist eine monolithische
Erscheinung in der Literaturlandschaft. Foto: dpa
Cormac McCarthy:
Der Feldhüter. Roman.
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Rowohlt Verlag, Reinbek 2016.
288 Seiten, 14,99 Euro. E-Book 12,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
des Bösen
Cormac McCarthys Debütroman
aus dem Jahr 1965 erstmals auf Deutsch
VON CHRISTOPH SCHRÖDER
Wohin der Blick auch fällt: Vereinzelung, Fremdheit, Geworfensein. Worte erscheinen bei dem Schriftsteller Cormac McCarthy nicht als ein selbstverständliches Mittel zur Verständigung, sondern als kantige, aus der Stille herausgemeißelte Brocken, roh, unbehauen und – in der Figurenrede – auch unbeholfen. Die Menschen haben sich wenig zu sagen; ihr Gemütszustand lässt sich an anderen Parametern ablesen. An der unermüdlich und detailreich beschriebenen Landschaft, die sie umgibt. Oder eben auch am Zustand der Gebäude, in denen sie sich aufhalten.
Das Green Fly Inn ist ein Lokal in einem Kaff namens Red Branch, irgendwo in der Berglandschaft des östlichen Tennessee. Dort ist McCarthy aufgewachsen. Die Kneipe steht auf einem Gerüst aus Holzpfählen über einem Abhang, und eines Tages wird die Konstruktion in sich zusammensacken und eine Menge der betrunkenen Gäste in den Abgrund mitnehmen. Unter ihnen ist auch ein Mann namens Kenneth Rattner. Er kommt mit einer Schnittwunde an der Hand davon, vorerst.
Das Werk des 1933 geborenen Cormac McCarthy ist ein Monolith. Das Grauen, das McCarthy in der Welt ahnt, ist in den vergangenen Jahren in der öffentlichen Wahrnehmung relativiert worden durch Verfilmungen seiner späten Romane, in denen, wie beispielsweise in der Adaption der Coen-Brüder von „No Country for Old Men“, Gewalt und Schrecken ironisiert und damit kultfähig gemacht wurden. Nun hat der Rowohlt Verlag die letzte Lücke geschlossen und McCarthys Debütroman aus dem Jahr 1965 in einer gewohnt glänzenden Übersetzung von Nikolaus Stingl veröffentlicht. Bedauerlicherweise jedoch nur in einer recht lieblosen Taschenbuchausgabe und versehen mit einem absurd fehlerhaften Klappentext.
„Der Feldhüter“ ist in den Zwanziger- und Dreißigerjahren angesiedelt, der Zeit zwischen zwei Kriegen und der Prohibition, in einer Epoche der Umbrüche. Dass McCarthy bis heute mit William Faulkner verglichen wird, oft zu Unrecht, verdankt sich vor allem seinen frühen, in der Tradition der Southern Gothic stehenden Büchern: Das Erzählen ist kaleidoskopartig, multiperspektivisch, chronologisch aufgebrochen, aufgesplittert in Beobachtungen, Erinnerungen, Träume. Psychologie ist ausgelagert. Personen treten auf und verschwinden wieder. Die scheinbar losen Fäden werden erst gegen Ende verknüpft.
Drei Figuren sind es, die die Handlung innerhalb eines dichten Stimmungsbildes bestimmen: Der alte Arthur Ownby lebt zurückgezogen in seiner Hütte oberhalb eines alten Obsthains. Der verwegene und abenteuerlustige Marion Sylder schmuggelt in der Gegend im großen Stil schwarz gebrannten Whiskey. Eines Tages nimmt Sylder eher unfreiwillig einen Anhalter mit, und sofort formt sich in ihm „die tiefe und unerschütterliche Gewissheit, dass er sich in Gegenwart des Bösen befand.“ Als das Auto eine Panne hat, wird Sylder von dem Mann überfallen, setzt sich zur Wehr und erwürgt den Angreifer schließlich, obwohl die Notwehrsituation längst vorüber ist; ein unerklärlicher Einbruch von Archaik. Den Toten entsorgt Sylder in einer Grube auf Ownbys Grundstück.
Der Mann, der da entsorgt wurde, ist der Vater des dritten Protagonisten: John Wesley Rattner wächst fortan als Halbwaise auf und hat gegenüber seiner Mutter den Schwur geleistet, das Verschwinden des Vaters eines Tages aufzuklären. Nun streift er durch die Gegend, ein verwilderter Jäger. Als Sylder bei einem Autounfall in den Fluss stürzt, ist es ausgerechnet John Wesley, der ihn aus dem Wasser zieht. Keiner von beiden weiß, wen er vor sich hat, und es entsteht ein von gegenseitiger Zuneigung geprägtes Verhältnis.
„Der Feldhüter“ ist ein hemmungsloses, zügelloses Buch. Ein Roman, dem deutlich anzumerken ist, dass sich in ihm ein ambitionierter, sprachgewaltiger Autor in einem unermesslichen Vokabelreichtum erprobt und dabei seine Prosa stellenweise mit seiner Bilderwut, mit Lyrismen und biblischen Anspielungen geradezu zwangsläufig überinstrumentiert. Und dann gibt es nicht wenige Augenblicke, in denen McCarthy Naturbeschreibungen gelingen, die, das lässt sich nicht anders sagen, wunderschön und luzide sind: „Am einundzwanzigsten Dezember begann es irgendwann nach Mitternacht zu schneien. Am Morgen, im grauen, gespenstischen Licht eines kurzen, obskuren Winters, lagen die Felder totenweiß, berührt von einem phosphorartigen Schimmer, als brächten sie selbst Licht hervor, und der Schnee schwebte immer noch dicht herab, verschleierte die Bäume jenseits des Flusses und auch den Berg, fiel und fiel, sanft und leise klingend in der ungeheuren weißen Stille.“
Das komplexe Dreiecksverhältnis zwischen Mensch, Natur und Zivilisation (die bei McCarthy stets bedeutet: Zerstörung und Verlust) liegt dem Roman als Leitthema zugrunde. McCarthy ist ein Protokollant des Niedergangs und der ins Überpersonale und Überzeitliche transportierten Verstörung. Was in „Der Feldhüter“ markiert wird, ist der schleichende Einzug des urbanen und technisierten Lebens in einen bis dahin abgeschotteten ländlichen Raum. Biblisch gesprochen, inszeniert McCarthy in jedem seiner Romane mindestens einen Sündenfall. Zusammen genommen ergibt sich daraus die Konsequenz, dass es keine Unschuld gibt und keine Unschuldigen und dass, wie es im Roman „Grenzgänger“ (1998) heißt, „keine weltliche Ordnung außer der des Todes“ existiert.
Am Ende von „Grenzgänger“ wird der 16-jährige Protagonist vom hellen Blitz eines Atombombentests in der Wüste geblendet. Und „Die Abendröte im Westen“ (1985), der wohl schonungsloseste Roman McCarthys, endet mit einer Szene, in der eine sektenhaft anmutende Wandergruppe die Löcher für die Zäune zur Parzellierung des Landes anlegt. In „Der Feldhüter“ ist es der alte Arthur Ownby, der schließlich die Verhältnisse ins Rutschen bringt. Seine Motive bleiben unausgesprochen und erklären sich dennoch: Ownby ist zum Vertriebenen geworden. Im Originaltitel „The Orchard Keeper“ schwingt die Assoziation des Paradiesgartens mit. Die Schuld und die Fäulnis haben nun auch in Ownbys Welt Einzug gehalten. McCarthys Debütroman taucht die Entzauberung ins Licht der mythisch-lyrischen Überhöhung. Erlösung wird sich hier nicht finden. Wenn es einen tröstenden Gegenentwurf gibt, dann nur in der unbändigen Schönheit der Natur. Und in dem Sound, in dem McCarthy davon kündet.
McCarthys Erstling steht
noch ganz in der Tradition
der Southern Gothic
Trost gibt es in dieser
heillosen Welt nur in der wilden
Schönheit der Natur
Der Einzelgänger Cormac McCarthy ist eine monolithische
Erscheinung in der Literaturlandschaft. Foto: dpa
Cormac McCarthy:
Der Feldhüter. Roman.
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Rowohlt Verlag, Reinbek 2016.
288 Seiten, 14,99 Euro. E-Book 12,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Rezensentin Sylvia Staude merkt dem erstmals auf Deutsch vorliegenden Erstling Cormac McCarthys eine gewisse Unreife durchaus an. Sprunghaftigkeit, liegengelassene Motive und jede Menge Raunen, das die Figuren Staude nicht wirklich nahebringt. Doch der Text verfügt auch schon über die atmosphärische und metaphorische Wucht, todgesättigte Bilder vom Fressen und Gefressenwerden, die Staude aus späteren Texten McCarthys kennt und die sie schätzt. Auch wenn nicht viel passiert und der Verfall und das Elend neben der Dreiecksbeziehung dreier Männer die Hauptsache zu sein scheint in diesem Roman, die Lektüre ist er Staude dennoch wert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.01.2016Ein merkwürdiger Schrein tief in Tennessee
Was kein Film zeigen kann: "Der Feldhüter" von Cormac McCarthy ist ein vielschichtiger Roman zwischen Drastik und Idylle. Warum erscheint dieses Debüt erst nach fünfzig Jahren auf Deutsch?
Karge Landschaften, wortkarge Menschen und rohe Gewalt - daran denken gewiss viele, sobald sie den Namen Cormac McCarthy hören. Das ist nicht falsch, aber es ist längst nicht alles, was diesen amerikanischen Autor ausmacht. Mit Sicherheit ist er ein Meister der lakonischen Dialoge, und seine Fiktionen zeigen gern mehr oder weniger moderne Varianten eines Wilden Westens. Genau das macht ihn ja auch so attraktiv für Verfilmungen, mögen sie nun glücken wie beim brillanten "No Country for Old Men" der Coen-Brüder oder völlig danebengehen wie Billy Bob Thorntons Verkitschung von "All the Pretty Horses".
Auch McCarthys erster Roman von 1965, der nun mit fünfzig Jahren Verspätung erstmals auf Deutsch erscheint, beginnt schon stark filmisch, auf staubiger Straße, an der ein Schild die Entfernung nach Knoxville mit 197 Meilen ausweist, und einem Anhalter, der einem vorbeirauschenden Sattelzug hinterherruft: "Du würdest nicht mal Jesus Christus mitnehmen, stimmt's?" Das könnte ein klassischer Genrefilm werden.
Aber dennoch weiß man schon nach den ersten Seiten dieses Debüts, warum die Literatur manchmal einfach mehr kann als jeder Film, und nach der Lektüre des ganzen Buchs weiß man es umso besser.
Was der Film zum Beispiel nicht kann, ist, den Klang von Regen ein "Chorgebet" zu nennen. Er hätte Mühe zu zeigen, dass eine Schnittwunde am Bein "wie quellender Teer aussieht", und er brauchte viel länger als einen halben Satz, um zu erzählen, dass gewisse Farmerjungs im hinterwäldlerischen Tennessee "als Farm nicht mehr hatten als ein paar schrumpelige Tomatenpflanzen und zwei gefräßige Schweine". Schier kapitulieren müsste er vor der Vorstellung, dass "eine graue, seelenlose Dämmerung den Horizont in Form nagte".
Ja, auch so lyrisch kann McCarthy schreiben. Man könnte sogar sagen, dass sein Debüt in erster Linie eine poetische Landschaftsbeschreibung ist, manchmal so tief durchtränkt von Symbolismus und Wettermetaphorik, dass man sich im neunzehnten Jahrhundert wähnt. Da rinnt Wasser dunkelviolett aus Hügeln heraus "wie aus offenen Wunden" oder fliegt durch den Garten "strahlend hell wie ein Blutstropfen, ein roter Kardinal".
Fast schon an romantische Allbeseeltheit erinnert das mehrmals - aber es fließt eben auch viel Blut. In dem mythischen Setting erzählt McCarthy eine Kriminalgeschichte, die durchaus als "hard boiled" durchgeht. Schlüsselszene ist ein Mord, den der Schnapsschmuggler Marion Sylder begeht, als ihn ein Anhalter auszurauben versucht. Der Kampf wird in furchtbarer Drastik geschildert bis zum bitteren Ende: "Als Sylder die Augen wieder aufmachte, starrte der Mann ihn eulenhaft an, die kleine Zunge spitzte zwischen den offenen Lippen hervor."
Der in eine Grube versenkte Tote war der Vater des Jungen John Wesley Rattner. Dessen Vornamen erinnern an einen methodistischen Erweckungsprediger des achtzehnten Jahrhunderts, doch ein Zusammenhang erschließt sich nicht sogleich: John streift verwahrlost durch die Wälder, fast wie ein alter Trapper: auf Rattenjagd. Ihn führt der Roman schicksalhaft zusammen mit dem unerkannten Mörder seines Vaters, der sich seiner annimmt und zum Ersatzvater wird. Die dritte Hauptfigur, der alte Arthur Ownby, hat den Mord beobachtet, informiert aber nicht die Behörden, sondern richtet der Leiche eine Art Schrein ein. Ownby, ein Sonderling, der schließlich mit einer Schrotflinte auf Polizisten schießt und in einer Irrenanstalt landet, ist der titelgebende "Orchard Keeper". Also auf verdrehte Weise ein Paradieswächter? Die deutsche Übersetzung von Nikolaus Stingl, die die poetische Sprache wie auch derben Dialekt sehr stilsicher verwandelt, nennt ihn etwas sachlicher einen "Feldhüter".
Die Geschichte spielt in den dreißiger und vierziger Jahren, doch hier wird es kompliziert: Denn McCarthy präsentiert das alles in sehr durcheinandergeratener Chronologie. Es gibt zudem kursiv gesetzte Textteile, die auf verschiedene Erzähler hindeuten, und manches ist mehrfach auf unterschiedliche Weise erzählt. Der Rezensent der "New York Times" bezeichnete dies 1965 als "jumpy, disconnected narrative" und bezichtigte McCarthy, Epigone William Faulkners zu sein, ein Vorwurf, der bis heute oft erhoben wird.
Aber auch das greift zu kurz, denn dafür führt McCarthy noch ganz andere Traditionen zusammen: Geradezu idyllische Szenen (der alte Ownby kocht sich Kaffee am Herd), dann auch märchenhafte und expressionistische Passagen wechseln ab mit neusachlicher Kälte bei der Kriminalgeschichte und der Beschreibung von tiefsitzendem Rassismus - und dann kommt auch noch ein schauerromantischer Zug dazu: Was hat es etwa auf sich mit dem metaphorisch aufgeladenen Green Fly Inn, einem Saloon, der auf Holzpfählen an einem Steilhang steht, sich manchmal im Wind grotesk auf die Seite legt wie ein schwankendes Schiff und später mitsamt Belegschaft in die Tiefe stürzt? Wer dächte da nicht vielleicht auch an Poes "Untergang des Hauses Usher"?
Symbolismus, Intertext: Auch diese Komponente weist schon auf McCarthys späteres Werk voraus - ein Werk, in dem ein Titel wie "No Country for Old Men" eben nicht nur den platten Slogan eines Krimis darstellt (weil darin die Figuren sterben, bevor sie alt werden können), sondern auch das Zitat einer Zeile aus W. B. Yeats' Gedicht "Sailing to Byzantium". Dieses Gedicht ist die Klage über eine hedonistische Welt, die den Sinn für Kunst verloren hat, und die Anspielung darauf lässt jenen ganzen Roman als eine Resonanz darauf erscheinen.
Eine Zeitkritik scheint auch im "Feldhüter" schon zu stecken, vielleicht sogar eine Menschheitskritik. Denn ständig stark präsent ist hier die Flora und Fauna, da rankt und sumpft es, springen Waschbären und wilde Wampum-Katzen herum, als könnten sie noch gegen den Menschen gewinnen. Und obwohl es zunächst nicht so scheint, regiert am Ende des Romans ein inzwischen typisch gewordenes McCarthy-Gefühl: nämlich dass die Menschheitsgeschichte womöglich nur eine kurze Phase in der Geschichte des Planeten ist, deren Spuren schon morgen wieder von Geißblatt und Giftefeu überwuchert sein könnten.
JAN WIELE.
Cormac McCarthy: "Der Feldhüter". Roman.
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 2016. 287 S., br., 14,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Was kein Film zeigen kann: "Der Feldhüter" von Cormac McCarthy ist ein vielschichtiger Roman zwischen Drastik und Idylle. Warum erscheint dieses Debüt erst nach fünfzig Jahren auf Deutsch?
Karge Landschaften, wortkarge Menschen und rohe Gewalt - daran denken gewiss viele, sobald sie den Namen Cormac McCarthy hören. Das ist nicht falsch, aber es ist längst nicht alles, was diesen amerikanischen Autor ausmacht. Mit Sicherheit ist er ein Meister der lakonischen Dialoge, und seine Fiktionen zeigen gern mehr oder weniger moderne Varianten eines Wilden Westens. Genau das macht ihn ja auch so attraktiv für Verfilmungen, mögen sie nun glücken wie beim brillanten "No Country for Old Men" der Coen-Brüder oder völlig danebengehen wie Billy Bob Thorntons Verkitschung von "All the Pretty Horses".
Auch McCarthys erster Roman von 1965, der nun mit fünfzig Jahren Verspätung erstmals auf Deutsch erscheint, beginnt schon stark filmisch, auf staubiger Straße, an der ein Schild die Entfernung nach Knoxville mit 197 Meilen ausweist, und einem Anhalter, der einem vorbeirauschenden Sattelzug hinterherruft: "Du würdest nicht mal Jesus Christus mitnehmen, stimmt's?" Das könnte ein klassischer Genrefilm werden.
Aber dennoch weiß man schon nach den ersten Seiten dieses Debüts, warum die Literatur manchmal einfach mehr kann als jeder Film, und nach der Lektüre des ganzen Buchs weiß man es umso besser.
Was der Film zum Beispiel nicht kann, ist, den Klang von Regen ein "Chorgebet" zu nennen. Er hätte Mühe zu zeigen, dass eine Schnittwunde am Bein "wie quellender Teer aussieht", und er brauchte viel länger als einen halben Satz, um zu erzählen, dass gewisse Farmerjungs im hinterwäldlerischen Tennessee "als Farm nicht mehr hatten als ein paar schrumpelige Tomatenpflanzen und zwei gefräßige Schweine". Schier kapitulieren müsste er vor der Vorstellung, dass "eine graue, seelenlose Dämmerung den Horizont in Form nagte".
Ja, auch so lyrisch kann McCarthy schreiben. Man könnte sogar sagen, dass sein Debüt in erster Linie eine poetische Landschaftsbeschreibung ist, manchmal so tief durchtränkt von Symbolismus und Wettermetaphorik, dass man sich im neunzehnten Jahrhundert wähnt. Da rinnt Wasser dunkelviolett aus Hügeln heraus "wie aus offenen Wunden" oder fliegt durch den Garten "strahlend hell wie ein Blutstropfen, ein roter Kardinal".
Fast schon an romantische Allbeseeltheit erinnert das mehrmals - aber es fließt eben auch viel Blut. In dem mythischen Setting erzählt McCarthy eine Kriminalgeschichte, die durchaus als "hard boiled" durchgeht. Schlüsselszene ist ein Mord, den der Schnapsschmuggler Marion Sylder begeht, als ihn ein Anhalter auszurauben versucht. Der Kampf wird in furchtbarer Drastik geschildert bis zum bitteren Ende: "Als Sylder die Augen wieder aufmachte, starrte der Mann ihn eulenhaft an, die kleine Zunge spitzte zwischen den offenen Lippen hervor."
Der in eine Grube versenkte Tote war der Vater des Jungen John Wesley Rattner. Dessen Vornamen erinnern an einen methodistischen Erweckungsprediger des achtzehnten Jahrhunderts, doch ein Zusammenhang erschließt sich nicht sogleich: John streift verwahrlost durch die Wälder, fast wie ein alter Trapper: auf Rattenjagd. Ihn führt der Roman schicksalhaft zusammen mit dem unerkannten Mörder seines Vaters, der sich seiner annimmt und zum Ersatzvater wird. Die dritte Hauptfigur, der alte Arthur Ownby, hat den Mord beobachtet, informiert aber nicht die Behörden, sondern richtet der Leiche eine Art Schrein ein. Ownby, ein Sonderling, der schließlich mit einer Schrotflinte auf Polizisten schießt und in einer Irrenanstalt landet, ist der titelgebende "Orchard Keeper". Also auf verdrehte Weise ein Paradieswächter? Die deutsche Übersetzung von Nikolaus Stingl, die die poetische Sprache wie auch derben Dialekt sehr stilsicher verwandelt, nennt ihn etwas sachlicher einen "Feldhüter".
Die Geschichte spielt in den dreißiger und vierziger Jahren, doch hier wird es kompliziert: Denn McCarthy präsentiert das alles in sehr durcheinandergeratener Chronologie. Es gibt zudem kursiv gesetzte Textteile, die auf verschiedene Erzähler hindeuten, und manches ist mehrfach auf unterschiedliche Weise erzählt. Der Rezensent der "New York Times" bezeichnete dies 1965 als "jumpy, disconnected narrative" und bezichtigte McCarthy, Epigone William Faulkners zu sein, ein Vorwurf, der bis heute oft erhoben wird.
Aber auch das greift zu kurz, denn dafür führt McCarthy noch ganz andere Traditionen zusammen: Geradezu idyllische Szenen (der alte Ownby kocht sich Kaffee am Herd), dann auch märchenhafte und expressionistische Passagen wechseln ab mit neusachlicher Kälte bei der Kriminalgeschichte und der Beschreibung von tiefsitzendem Rassismus - und dann kommt auch noch ein schauerromantischer Zug dazu: Was hat es etwa auf sich mit dem metaphorisch aufgeladenen Green Fly Inn, einem Saloon, der auf Holzpfählen an einem Steilhang steht, sich manchmal im Wind grotesk auf die Seite legt wie ein schwankendes Schiff und später mitsamt Belegschaft in die Tiefe stürzt? Wer dächte da nicht vielleicht auch an Poes "Untergang des Hauses Usher"?
Symbolismus, Intertext: Auch diese Komponente weist schon auf McCarthys späteres Werk voraus - ein Werk, in dem ein Titel wie "No Country for Old Men" eben nicht nur den platten Slogan eines Krimis darstellt (weil darin die Figuren sterben, bevor sie alt werden können), sondern auch das Zitat einer Zeile aus W. B. Yeats' Gedicht "Sailing to Byzantium". Dieses Gedicht ist die Klage über eine hedonistische Welt, die den Sinn für Kunst verloren hat, und die Anspielung darauf lässt jenen ganzen Roman als eine Resonanz darauf erscheinen.
Eine Zeitkritik scheint auch im "Feldhüter" schon zu stecken, vielleicht sogar eine Menschheitskritik. Denn ständig stark präsent ist hier die Flora und Fauna, da rankt und sumpft es, springen Waschbären und wilde Wampum-Katzen herum, als könnten sie noch gegen den Menschen gewinnen. Und obwohl es zunächst nicht so scheint, regiert am Ende des Romans ein inzwischen typisch gewordenes McCarthy-Gefühl: nämlich dass die Menschheitsgeschichte womöglich nur eine kurze Phase in der Geschichte des Planeten ist, deren Spuren schon morgen wieder von Geißblatt und Giftefeu überwuchert sein könnten.
JAN WIELE.
Cormac McCarthy: "Der Feldhüter". Roman.
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 2016. 287 S., br., 14,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Meister, der sein Medium vollkommen im Griff hat. The Washington Post