»Ich war einer von ihnen, aber ich war nicht tot.« Der Terroranschlag auf Charlie Hebdo hat das Leben von Philippe Lançon unumkehrbar in zwei Hälften gespalten. In eindringlicher Prosa arbeitet Lançon das Erlebte auf und sucht seinen Weg zurück in ein Leben, das keine Normalität mehr kennt. Als sich Philippe Lançon an einem Morgen im Januar spontan entscheidet, in der Redaktion von Charlie Hebdo vorbeizuschauen, gibt es kein Anzeichen dafür, dass sein Leben direkt auf eine Katastrophe zusteuert. Gemeinsam mit seinen Kollegen sitzt er im Konferenzraum, als zwei maskierte Attentäter das Gebäude stürmen. Kurz darauf sind die meisten seiner Freunde tot, ihm selbst wird der Unterkiefer zerschossen. Philippe Lançon wird nicht als Gastdozent nach Princeton gehen, wie es geplant war. Er wird seine Querflöte verschenken, die er nicht mehr spielen kann. Und er wird lange Zeit keine Redaktion mehr betreten. Stattdessen wird er siebzehn Gesichtsoperationen erdulden und versuchen, seine Identität zu rekonstruieren. So, wie das Attentat Frankreich in ein Davor und ein Danach gespalten hat, hat es auch das Leben Philippe Lançons auseinandergerissen. In der fulminanten literarischen Verarbeitung seiner Traumata macht der Autor so eindrucksvoll wie behutsam sichtbar, wie Geist und Körper sich nach einer unsagbaren Erfahrung ihren Weg zurück ins Leben bahnen. Das Buch gewann bereits folgende Preise: Prix Femina Prix Spécial Renaudot Prix des Prix Prix Roman News Stimmen zum Buch: »Ein unumstößliches, vollkommenes Meisterwerk.« Frédéric Beigbeder, Le Figaro Magazine »Sagenhaft ehrlich, unerhört intim, verstörend schön, todtraurig und tröstlich zugleich.« Martina Meister, Welt am Sonntag »Große Literatur« Bernard Pivot, Le Journal du Dimanche »Ein magistrales Journal der Trauer.« Jean Birnbaum, Le Monde des Livres »Ein reicher literarischer Bericht über eine unsagbare Erfahrung.« Olivia de Lamberterie, Elle »Ein seltenes Zeugnis, ebenso faszinierend wie schrecklich.« Alexandra Schwartzbrod, Libération »Eine unglaubliche Empfindsamkeit und Menschlichkeit.« Philippe Labro, Le Point
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.03.2019Der Patienten-Prinz trägt einen Kokon
Philippe Lançons Roman "Der Fetzen" erzählt wie sich sein Autor, schwer verletzt nach dem Attentat auf "Charlie Hebdo", zurück ins Leben kämpft.
Der Anschlag auf "Charlie Hebdo" am 7. Januar 2015, bei dem zwölf Menschen ihr Leben verloren, zielte auf das kreative Herz der Meinungsfreiheit. Zwei glücklicherweise an jenem Morgen zu spät Gekommene haben schon künstlerisch auf das Massaker reagiert: Luz mit "Katharsis" (2015) und Catherine Meurisse mit "Die Leichtigkeit" (2016), zwei Comics, die das Geschehen auf eindringliche Weise verarbeiten. Nun erscheint auf Deutsch der zentrale Roman zum Thema, geschrieben von einem, der es am eigenen Leibe erlebt hat: "Der Fetzen" von Philippe Lançon. Er wurde in Frankreich mit zahlreichen Preisen bedacht, vorneweg dem Prix Femina 2018. Mögen die Ehrungen mitunter Symbolpolitik betreiben: Der Roman verdient sie alle, und zwar aus den richtigen, das heißt literarischen Gründen.
"Le lambeau", "Der Fetzen", ist zunächst ein chirurgischer Begriff: "Die Transplantation wurde auch noch anders genannt, und eines Abends hörte ich zum ersten Mal aus Chloés Mund das Wort, das mich künftig weitgehend charakterisieren sollte, Fetzen. Man würde mir einen Lappen, einen Hautfetzen, transplantieren." Genauer bezeichnet der Fachterminus eine Technik, die Gewebe mitsamt Blut- und Nervenbahnen verpflanzt; man grenzt sie ab von der "greffe" (Transplantation von Knochen oder Hornhaut).
Ein "Fetzen" muss bei Lançon vorgenommen werden: Die Kugeln haben ihm nicht nur die Arme, sondern auch das untere Drittel des Gesichts zerschossen. Vom Unterkiefer ist wenig zu retten, aus dem rechten Wadenbein und der Haut des Oberschenkels formt die Chirurgin Chloé Bertolus einen neuen. Zum Zeitpunkt der Niederschrift im August 2017 liegen 17 Eingriffe hinter dem Patienten.
Freilich, man ahnt es, der Titel meint weit mehr als eine Transplantationstechnik: Zerfetzt sind das Gesicht, ja die Existenz des Opfers. Davon berichtet Lançon mit dem Drang, einerseits den biographischen Bruch zu begreifen, ihn andererseits nicht einfach stehen zu lassen. "Der Fetzen" beginnt am Vorabend des Attentats und geht in zwanzig Kapiteln und einem Epilog meist chronologisch vor; er endet wenig erbaulich mit dem Anschlag auf das "Bataclan" am 13. November 2015. Die großen Stationen sind das Krankenhaus Pitié-Salpêtrière (zwei Monate) und das Hôtel des Invalides (sieben Monate), wo Lançon die Rehabilitation durchläuft - zwei Ökosysteme außerhalb der Zeit und fern des Lebens, geschützt durch Mauern und Polizisten.
Als der Anschlag ihn aus dem Leben hinauskatapultiert, ist Lançon 51 Jahre alt. Er arbeitet als Kulturkritiker bei "Libération" und als Kolumnist bei "Charlie Hebdo", deshalb nimmt er an der Redaktionssitzung teil, die zum Ziel der Brüder Kouachi wird. Von seinem Angreifer sieht Lançon nur schwarzgekleidete Beine: Er wird kaum Worte zu den Tätern, ihren Motiven, seinem Urteil darüber verlieren - eine fast verstörende Leerstelle des Buches. Das Attentat aber beschreibt er luzide und erschütternd, besonders den Moment, in dem er, am Boden liegend, den Körper des Ökonomen Bernard Maris vor ihm genauer betrachtet. Angesichts des hervorquellenden Gehirns begreift Lançon, "dass etwas nicht rückgängig zu Machendes geschehen war". Nach und nach entdeckt er die eigenen Wunden, Blut an den Armen, Knochenstücke und Zähne im Mund - grausige Details, die der Autor so genau beschreibt wie den Eindruck von Unwirklichkeit.
Die Attentatsszene markiert das entscheidende Erlebnis, das "Der Fetzen" zu fassen sucht: Schlagartig fühlt Lançon sich von seinem bisherigen Leben abgeschnitten. Er hat keinen Zugang mehr zu seinem früheren Ich, seinen Empfindungen, Vorlieben, Urteilen. An diesem Paradox einer "Erfahrung der unterbrochenen Erfahrung" arbeitet sich der Roman ab: beim Versuch, sie zu beschreiben, im Verlangen, sie zu überwinden.
Es geht nicht um den Ehrgeiz, etwas literarisch einzufangen, sondern um die existentielle Dringlichkeit, ein Leben zu flicken. Schon die Heilung des Körpers fordert ihren Preis. Der Lädierte verwandelt sich in einen "Patienten-Prinzen" in seinem "Kokon", der alles auf sein eigenes Wohl ausrichtet. Lançon wird zum Egoisten, wie er am Beispiel von Toinette erläutert, die ihn am 8. Januar besuchen kommt - zu früh und in der vermessenen Erwartung, ihr Gegenüber könne auf sie eingehen: "Habe sie dem geopfert, der künftig alles vereinfachen musste. Ohne zu zögern und fast ohne nachzudenken. Später sah ich Toinette mit einer Freude wieder, die durch keine Scham und kein Bedauern getrübt wurde. Schuldgefühle haben das Attentat kaum überlebt."
Es ist die Schonungslosigkeit mit sich und anderen sowie das stete Wechselspiel von Verletzlichkeit und Distanz, welche den "Fetzen" so wertvoll machen. Das ist primär eine Frage des ausgewogenen Tons, auch wenn sich amüsante Szenen finden, etwa die Visite des damaligen Präsidenten François Hollande. Vor Drastik schreckt Lançon ebenfalls nicht zurück, sieht sich als "feuchte, abgemagerte Mumie mit dunkel umrandeten Augen", erwähnt Beinhaare, die ihm im Mund sprießen, ein Nebeneffekt der Hauttransplantation. In der Konfrontation mit seiner Hinfälligkeit ist der Kontakt mit Chirurgin Chloé ausschlaggebend: "Sie war die unvollkommene Fee, die mir, über meine Wiege gebeugt, ein zweites Leben geschenkt hatte." Chloé ist die einzige Heldenfigur von "Der Fetzen", ihre "heitere Strenge" beherrscht Lançons Leben.
So genau die Etappen des Heilungsprozesses, die Fortschritte und Rückschläge beschrieben werden: Lançon erzählt keine Fallgeschichte. Jedes der zwanzig Kapitel ruht in sich, hat seinen eigenen Schwerpunkt. Das können Menschen und Erinnerungen sein, die Exfrau, seine Freundin Gabriela, die Großmütter und Onkel, seine Wahlheimat Kuba, das Dorf der Kindheit im Nivernais. Oft sind die Gravitationszentren jedoch Werke der Literatur, der Malerei oder der Musik. Lançons Umgang mit Kulturgut hat nichts Frivoles oder Beflissenes, er ist direkt und von Notwendigkeit getrieben. Er sucht zwei Dinge: Erleichterung vom Leid oder eine Spiegelung seiner Situation, wobei Letztere indirekt auch zu Ersterer verhilft.
In den Büchern findet er das Echo: "Ich lese kaum noch. Nur noch die Passage vom Tod der Großmutter, ein paar Briefe von Kafka an Milena, den Anfang vom Zauberberg." Die erste Passage bezieht sich auf Marcel Prousts "Suche nach der verlorenen Zeit". Wenn Lançon schreibt: "Ich lebte weder die verlorene noch die wiedergefundene Zeit; ich lebte die unterbrochene Zeit", dann ist klar, was Proust ihm geben kann - und wo der Vergleich hinkt. Lançon hat keine Madeleine-Erlebnisse, seine Erinnerungen treiben "nach und nach, ungeordnet und aus unterschiedlichen Gründen, leichenartig wieder an die Oberfläche". Schriftsteller wie Houellebecq, Góngora und Kafka sind ähnlich präsent, andere diskreter, etwa Ernst Jünger, der bei der Attentatsbeschreibung stilistisch durchscheint, aber in einem anderen Kontext zitiert wird.
Bach dagegen steht für "Erleichterung" und "Friede", laut Lançon eine Art Morphiumersatz. Eine Velázquez-Ausstellung schenkt dem Genesenden einen Moment grandioser Lebensbejahung: "Ich sabberte ein bisschen, meine Nerven versetzten das Kinn in Alarmbereitschaft, und trotzdem fühlte ich mich beinahe wohl, als wollten mir all die seit Langem verstorbenen Männer, Frauen und Tiere mit ihren oft dornigen Schicksalen zurufen: ,Du wirst leben.' Sie waren da, ich war da, ich schaute sie an, und sie schauten mich an, vier Jahrhunderte entsprachen einer Minute, und wir lebten."
Vor diesem Hintergrund überrascht nicht, dass das eigene Schreiben Lançons Weg der Wahl ist, sich aus dem Attentat zu befreien: "Schreiben ist das beste Mittel, um aus sich herauszutreten, selbst wenn nur von einem selbst die Rede ist. Damit wurde auch die Trennung zwischen Fiktion und Nichtfiktion müßig: Alles war Fiktion, denn alles war Erzählung - Auswahl der Begebenheiten, Szenenausschnitte, Schreibstil, Aufbau. Was zählte, war die Empfindung von Wahrhaftigkeit und das Gefühl von Freiheit für den Schreibenden wie für den Lesenden." Was fast pathetisch klingt, ist fundamental: Diese Freiheit ist so banal wie die Luft zum Atmen - und die Literatur ein Überlebensdispositiv.
NIKLAS BENDER
Philippe Lançon: "Der Fetzen".
Aus dem Französischen von Nicola Denis. Tropen, Stuttgart 2019. 552 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Philippe Lançons Roman "Der Fetzen" erzählt wie sich sein Autor, schwer verletzt nach dem Attentat auf "Charlie Hebdo", zurück ins Leben kämpft.
Der Anschlag auf "Charlie Hebdo" am 7. Januar 2015, bei dem zwölf Menschen ihr Leben verloren, zielte auf das kreative Herz der Meinungsfreiheit. Zwei glücklicherweise an jenem Morgen zu spät Gekommene haben schon künstlerisch auf das Massaker reagiert: Luz mit "Katharsis" (2015) und Catherine Meurisse mit "Die Leichtigkeit" (2016), zwei Comics, die das Geschehen auf eindringliche Weise verarbeiten. Nun erscheint auf Deutsch der zentrale Roman zum Thema, geschrieben von einem, der es am eigenen Leibe erlebt hat: "Der Fetzen" von Philippe Lançon. Er wurde in Frankreich mit zahlreichen Preisen bedacht, vorneweg dem Prix Femina 2018. Mögen die Ehrungen mitunter Symbolpolitik betreiben: Der Roman verdient sie alle, und zwar aus den richtigen, das heißt literarischen Gründen.
"Le lambeau", "Der Fetzen", ist zunächst ein chirurgischer Begriff: "Die Transplantation wurde auch noch anders genannt, und eines Abends hörte ich zum ersten Mal aus Chloés Mund das Wort, das mich künftig weitgehend charakterisieren sollte, Fetzen. Man würde mir einen Lappen, einen Hautfetzen, transplantieren." Genauer bezeichnet der Fachterminus eine Technik, die Gewebe mitsamt Blut- und Nervenbahnen verpflanzt; man grenzt sie ab von der "greffe" (Transplantation von Knochen oder Hornhaut).
Ein "Fetzen" muss bei Lançon vorgenommen werden: Die Kugeln haben ihm nicht nur die Arme, sondern auch das untere Drittel des Gesichts zerschossen. Vom Unterkiefer ist wenig zu retten, aus dem rechten Wadenbein und der Haut des Oberschenkels formt die Chirurgin Chloé Bertolus einen neuen. Zum Zeitpunkt der Niederschrift im August 2017 liegen 17 Eingriffe hinter dem Patienten.
Freilich, man ahnt es, der Titel meint weit mehr als eine Transplantationstechnik: Zerfetzt sind das Gesicht, ja die Existenz des Opfers. Davon berichtet Lançon mit dem Drang, einerseits den biographischen Bruch zu begreifen, ihn andererseits nicht einfach stehen zu lassen. "Der Fetzen" beginnt am Vorabend des Attentats und geht in zwanzig Kapiteln und einem Epilog meist chronologisch vor; er endet wenig erbaulich mit dem Anschlag auf das "Bataclan" am 13. November 2015. Die großen Stationen sind das Krankenhaus Pitié-Salpêtrière (zwei Monate) und das Hôtel des Invalides (sieben Monate), wo Lançon die Rehabilitation durchläuft - zwei Ökosysteme außerhalb der Zeit und fern des Lebens, geschützt durch Mauern und Polizisten.
Als der Anschlag ihn aus dem Leben hinauskatapultiert, ist Lançon 51 Jahre alt. Er arbeitet als Kulturkritiker bei "Libération" und als Kolumnist bei "Charlie Hebdo", deshalb nimmt er an der Redaktionssitzung teil, die zum Ziel der Brüder Kouachi wird. Von seinem Angreifer sieht Lançon nur schwarzgekleidete Beine: Er wird kaum Worte zu den Tätern, ihren Motiven, seinem Urteil darüber verlieren - eine fast verstörende Leerstelle des Buches. Das Attentat aber beschreibt er luzide und erschütternd, besonders den Moment, in dem er, am Boden liegend, den Körper des Ökonomen Bernard Maris vor ihm genauer betrachtet. Angesichts des hervorquellenden Gehirns begreift Lançon, "dass etwas nicht rückgängig zu Machendes geschehen war". Nach und nach entdeckt er die eigenen Wunden, Blut an den Armen, Knochenstücke und Zähne im Mund - grausige Details, die der Autor so genau beschreibt wie den Eindruck von Unwirklichkeit.
Die Attentatsszene markiert das entscheidende Erlebnis, das "Der Fetzen" zu fassen sucht: Schlagartig fühlt Lançon sich von seinem bisherigen Leben abgeschnitten. Er hat keinen Zugang mehr zu seinem früheren Ich, seinen Empfindungen, Vorlieben, Urteilen. An diesem Paradox einer "Erfahrung der unterbrochenen Erfahrung" arbeitet sich der Roman ab: beim Versuch, sie zu beschreiben, im Verlangen, sie zu überwinden.
Es geht nicht um den Ehrgeiz, etwas literarisch einzufangen, sondern um die existentielle Dringlichkeit, ein Leben zu flicken. Schon die Heilung des Körpers fordert ihren Preis. Der Lädierte verwandelt sich in einen "Patienten-Prinzen" in seinem "Kokon", der alles auf sein eigenes Wohl ausrichtet. Lançon wird zum Egoisten, wie er am Beispiel von Toinette erläutert, die ihn am 8. Januar besuchen kommt - zu früh und in der vermessenen Erwartung, ihr Gegenüber könne auf sie eingehen: "Habe sie dem geopfert, der künftig alles vereinfachen musste. Ohne zu zögern und fast ohne nachzudenken. Später sah ich Toinette mit einer Freude wieder, die durch keine Scham und kein Bedauern getrübt wurde. Schuldgefühle haben das Attentat kaum überlebt."
Es ist die Schonungslosigkeit mit sich und anderen sowie das stete Wechselspiel von Verletzlichkeit und Distanz, welche den "Fetzen" so wertvoll machen. Das ist primär eine Frage des ausgewogenen Tons, auch wenn sich amüsante Szenen finden, etwa die Visite des damaligen Präsidenten François Hollande. Vor Drastik schreckt Lançon ebenfalls nicht zurück, sieht sich als "feuchte, abgemagerte Mumie mit dunkel umrandeten Augen", erwähnt Beinhaare, die ihm im Mund sprießen, ein Nebeneffekt der Hauttransplantation. In der Konfrontation mit seiner Hinfälligkeit ist der Kontakt mit Chirurgin Chloé ausschlaggebend: "Sie war die unvollkommene Fee, die mir, über meine Wiege gebeugt, ein zweites Leben geschenkt hatte." Chloé ist die einzige Heldenfigur von "Der Fetzen", ihre "heitere Strenge" beherrscht Lançons Leben.
So genau die Etappen des Heilungsprozesses, die Fortschritte und Rückschläge beschrieben werden: Lançon erzählt keine Fallgeschichte. Jedes der zwanzig Kapitel ruht in sich, hat seinen eigenen Schwerpunkt. Das können Menschen und Erinnerungen sein, die Exfrau, seine Freundin Gabriela, die Großmütter und Onkel, seine Wahlheimat Kuba, das Dorf der Kindheit im Nivernais. Oft sind die Gravitationszentren jedoch Werke der Literatur, der Malerei oder der Musik. Lançons Umgang mit Kulturgut hat nichts Frivoles oder Beflissenes, er ist direkt und von Notwendigkeit getrieben. Er sucht zwei Dinge: Erleichterung vom Leid oder eine Spiegelung seiner Situation, wobei Letztere indirekt auch zu Ersterer verhilft.
In den Büchern findet er das Echo: "Ich lese kaum noch. Nur noch die Passage vom Tod der Großmutter, ein paar Briefe von Kafka an Milena, den Anfang vom Zauberberg." Die erste Passage bezieht sich auf Marcel Prousts "Suche nach der verlorenen Zeit". Wenn Lançon schreibt: "Ich lebte weder die verlorene noch die wiedergefundene Zeit; ich lebte die unterbrochene Zeit", dann ist klar, was Proust ihm geben kann - und wo der Vergleich hinkt. Lançon hat keine Madeleine-Erlebnisse, seine Erinnerungen treiben "nach und nach, ungeordnet und aus unterschiedlichen Gründen, leichenartig wieder an die Oberfläche". Schriftsteller wie Houellebecq, Góngora und Kafka sind ähnlich präsent, andere diskreter, etwa Ernst Jünger, der bei der Attentatsbeschreibung stilistisch durchscheint, aber in einem anderen Kontext zitiert wird.
Bach dagegen steht für "Erleichterung" und "Friede", laut Lançon eine Art Morphiumersatz. Eine Velázquez-Ausstellung schenkt dem Genesenden einen Moment grandioser Lebensbejahung: "Ich sabberte ein bisschen, meine Nerven versetzten das Kinn in Alarmbereitschaft, und trotzdem fühlte ich mich beinahe wohl, als wollten mir all die seit Langem verstorbenen Männer, Frauen und Tiere mit ihren oft dornigen Schicksalen zurufen: ,Du wirst leben.' Sie waren da, ich war da, ich schaute sie an, und sie schauten mich an, vier Jahrhunderte entsprachen einer Minute, und wir lebten."
Vor diesem Hintergrund überrascht nicht, dass das eigene Schreiben Lançons Weg der Wahl ist, sich aus dem Attentat zu befreien: "Schreiben ist das beste Mittel, um aus sich herauszutreten, selbst wenn nur von einem selbst die Rede ist. Damit wurde auch die Trennung zwischen Fiktion und Nichtfiktion müßig: Alles war Fiktion, denn alles war Erzählung - Auswahl der Begebenheiten, Szenenausschnitte, Schreibstil, Aufbau. Was zählte, war die Empfindung von Wahrhaftigkeit und das Gefühl von Freiheit für den Schreibenden wie für den Lesenden." Was fast pathetisch klingt, ist fundamental: Diese Freiheit ist so banal wie die Luft zum Atmen - und die Literatur ein Überlebensdispositiv.
NIKLAS BENDER
Philippe Lançon: "Der Fetzen".
Aus dem Französischen von Nicola Denis. Tropen, Stuttgart 2019. 552 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.03.2019„Ich bin.“
Philippe Lançon wurde beim Attentat auf „Charlie Hebdo“ der Unterkiefer weggeschossen.
Jetzt erscheint sein Buch über die ersten Monate seiner Heilung. Eine Begegnung in Berlin
VON ALEX RÜHLE
Unglaublich, was Chirurgie alles kann. Ein kleiner Spalt in der Unterlippe, ansonsten wirken Mund- und Kinnpartie fast ebenmäßig. Gut, Philippe Lançon hat sich einen grau melierten Bart wachsen lassen, der die transplantierte Hautpartie verdeckt, die seinem Buch den Titel gab: „Der Fetzen“. Trotzdem ist kaum vorstellbar, wie dasselbe Gesicht am 7. Januar 2015 aussah: „Anstelle des Kinns und der rechten Seite meiner Unterlippe klaffte nicht etwa ein Loch, sondern ein Krater aus zerstörtem, herabhängendem Fleisch.“
Philippe Lançon saß inmitten von Blut und Leichen, entdeckte sein Gesicht im spiegelnden Display seines Handys und wunderte sich, warum ihn die weinende Sigolène nicht verstand, eine Kollegin, „die erste lebendige und unversehrte Person, die vor mir auftauchte, die erste, die mich spüren ließ, wie sehr alle, die sich mir künftig näherten, von einem anderen Stern kamen – dem Stern, auf dem das Leben einfach weitergeht.“
Mittlerweile musste Philippe Lançon selbst wieder heimisch werden auf diesem Stern. Er ist vor einem Jahr Vater geworden, er arbeitet wieder und hat dieses Buch veröffentlicht, das in Frankreich mehrere große Preise gewonnen hat. Aber ein Leben, das einfach weitergeht? Lançon sitzt hoch über Berlin, nippt an dem Tee, den er vor einer halben Stunde bestellt hat und sagt: „Man gewöhnt sich an alles – aber das bedeutet im Grunde: Man gewöhnt sich daran, sich an nichts gewöhnen zu können.“ Nach dem Satz klackt Lançon hart die Kiefer aufeinander, als würde er einen hörbaren Punkt setzen wollen. Dann sagt er ganz nüchtern: „Mein Leben von vorher gibt es nicht mehr.“ Und wieder die klackenden Kiefer, es klingt wie ein Holzbein, jeder Satz ein Schritt mit der neuen Prothese, den elf künstlichen Zähnen.
„Der Fetzen“ ist das dritte Buch eines Charlie-Hebdo-Überlebenden, wobei Lançon da Einspruch erhebt: „Luz und Catherine Meurisse sind keine Überlebenden.“ Was insofern stimmt, als die beiden Kollegen am 7. Januar 2015 zu spät zur Konferenz gekommen waren, sie standen während des Massakers unten auf der Straße. Luz fing direkt danach wie aus Notwehr an, zu zeichnen, „Katharsis“ erschien wenige Monate nach dem Attentat, ein Schocktagebuch über den weltweiten Solidaritäts-Tsunami, schwarze Nächte ohne Schlaf, das Leben mit dem Trauma, das in seinen Bildern zu einer boshaften Beule wird, die durch seinen Körper mäandert und ihn fast zerreißt. Das erste Bild, das Luz malte, noch am Tag des Attentats, war sein eigener schockstarrer Blick: Ein Polizist hatte ihn abends gebeten zu zeichnen, was er gesehen hatte, in der Hoffnung auf Zeugenmaterial. Luz malte nur seine zitternden Riesenaugen, immer wieder, als wär sein ganzer Körper geschrumpft auf diese schreckgeweitete Wahrnehmung. Vom Cover seines Buches starren einen diese Augen an, das Selbstporträt eines Traumatisierten.
Auch bei Catherine Meurisse wurde das erste Bild, das sie, viel später als Luz, nach den Anschlägen malen konnte, zum Cover ihrer Graphic Novel „Die Leichtigkeit“. Es zeigt den Moment, als sie, nach Wochen der Gedächtnis- und Sprachlosigkeit, erstmals den Atlantik wiedersieht, eine zwergenkleine Frau in menschenleerer Natur. Ihr war dieses Bild so wichtig, wie sie mal erklärte, „weil der Anblick des Meeres ein seltsam elementares Gefühl auslöste. Ich bin auf einem Planeten. Es gibt dieses Meer, es gibt den Planeten, es gibt mich.“ Immerhin. Es gab sie wieder.
Philippe Lançon ist nicht Zeichner, sondern Autor, er arbeitet seit vielen Jahren für Libération und Charlie Hebdo und er hat in seinem früheren Leben drei Romane veröffentlicht. Auch seinen Bericht durchzieht ein ganz elementares Gefühl: Seine kubanische Ex-Frau fragte eines Abends vor einer der 17 Operationen, wie es ihm gehe: „Cómo estás?“ Seine Antwort: „Estoy.“ Ich bin. Im Sinne von: Ich bin gerade da, in diesem Bett, in diesem Zimmer. Jetzt. Mehr nicht.
Genau aus dieser freiwilligen Perspektivreduktion heraus erwächst die Schönheit dieses Buches, das in Frankreich wochenlang auf Platz eins der Bestsellerliste stand. Es berichtet zunächst von den letzten Stunden vor dem Attentat: von einem Theaterbesuch am Abend, von den Morgenritualen (Gymnastik, während im Radio Michel Houellebecq über seinen neuen Roman „Unterwerfung“ spricht, der an dem Tag in die Buchläden kam) und von dem spontanen Entschluss, kurz in der Redaktionskonferenz vorbeizuschauen. Lançon zeichnet hier kein sympathisches Bild von sich selbst, er erscheint auf diesen Seiten als unduldsam, arrogant, prätentiös. „So war ich eben“, sagt der Lançon, der jetzt in Berlin sitzt, „leider“.
Das Attentat wird dann auf vierzig Seiten mit einer Genauigkeit beschrieben, deretwegen allein schon sich die Lektüre lohnt. Wobei der Text nichts mit der Präzision eines Polizeiberichts zu tun hat. Lançon war die gesamte Zeit bei Bewusstsein, zugleich dissoziiert und mit schockgeweiteter Wahrnehmung. Alle Bilder und Empfindungen dringen unauslöschlich in sein Gedächtnis ein wie eine Salve Schrotkugeln in eine Wachsplatte: Die Hosenbeine der Attentäter. Der Allahu-Akbar-Schrei nach jeder Salve. Die Zähne, die plötzlich in seinem Mund herumschwimmen. Der Anblick von Bernard Maris’ Gehirn.
Und doch, so wird er später feststellen, stimmen seine Erinnerungen nicht mit den Berichten anderer Überlebender überein. Sigolène, die weinende Kollegin, wird die erwähnte Handyszene ganz anders zu Protokoll geben. „Ich ertrage diese Verwirrung noch immer nicht“, schreibt er drei Jahre später. „Die Tatsachen sind das einzige Gepäck, das ich auf die folgende Reise gern mitgenommen hätte; doch wie alles Übrige verformen sie sich unter dem Druck. Die Gewalt pervertierte, was sie nicht zerstört hatte. Wie ein Sturm hatte sie das Boot versenkt.“ Der entstellte Schiffbrüchige, den die Pariser Rettungskräfte aus dem Massaker ziehen, wird deshalb alles daran setzen, „nicht zu schreiben, um zu schwindeln, auszuschmücken oder das am eigenen Leib Erfahrene umzuwandeln.“ Stattdessen wird er, während seine Chirurgin sich in immer neuen Operationen daran macht, sein Gesicht zu rekonstruieren, parallel dazu versuchen, schreibend seine Identität zu rekonstruieren. Wer bin ich? Was ist noch da von mir? Was verschwindet, verformt sich, wird ausgelöscht nach solch einem Attentat?
Die folgenden 400 Seiten spielen denn auch ausschließlich in den Krankenhausräumen, erst in der Gesichtschirurgie des Hôpital de la Pitié-Salpêtrière, dann im Hôpital des Invalides. Estoy. Das, was jeweils erlebt wird, Tag für Tag, aus der Perspektive des Schwerverletzten. Kein Radio und kein Fernsehen. Nichts über die Attentäter oder das Land da draußen, kaum Zeitung oder Internet, nur das Zimmer und die Pfeiler seines neuen Alltags: die Operationen und die sorgsame Arbeit der Schwestern, Pfleger und seiner Chirurgin Chloé, einer in ihrem humanen Stoizismus zutiefst beeindruckenden Frau. Die Besuche und Mails der Freunde, der Geliebten, der 81-jährigen Eltern. Und die Kunst, wobei Lançon da widerspricht: „Es war nicht ,die Kunst‘“, sagt er und malt Anführungszeichen in die Berliner Luft, zwischen denen die Kunst jetzt baumelt wie in einem Plastiktütchen, „es waren Stellen aus einzelnen Werken, Kafkas Briefe an Milena, die Seite aus Prousts ,Recherche‘, in der die Großmutter stirbt, eine ,Zauberberg‘-Passage.“ Diese Texte liest er wieder und wieder, wie Mantras, Sprachmedizin, eine eiserne Ration. Vielleicht noch wichtiger war – okay, nein, nicht „die Musik“. Bill Evans. Und immer wieder Bach. Goldberg-Variationen. Kunst der Fuge. Lindernd, ruhig, klar wie Wasser. Als ein Priester kommt und den Atheisten Lançon fragt, ob er nicht beten wolle, erklärt der ihm, „dass ich derzeit mit Bach und Kafkas Hilfe betete: Der eine schenke mir Frieden, der andere eine Form der Bescheidenheit und ironischen Unterwerfung unter die Angst“.
Es gibt diese Werke, die rings vom Tod umstellt sind, aus denen aber gerade deshalb das Leben viel heller leuchtet als wir alltagsverfilzten Trottel es meist wahrnehmen: Wolfgang Herrndorfs „Arbeit und Struktur“. Oder „Schmetterling und Taucherglocke“, der Film von Julian Schnabel, in dem das Schicksal des französischen Journalisten Jean-Dominique Bauby erzählt wird, der nach einem Schlaganfall nur noch mit dem linken Augenlid kommunizieren konnte. Wobei Bauby und Herrndorf am Ende gestorben sind. „Ich bin nicht auf den Tod zugegangen“, sagt Lançon. „Ich kam mitten aus dem Tod und bin langsam ins Leben zurückgekehrt.“
Seine Strahlkraft gewinnt „Der Fetzen“ auch aus einer so instinktiven wie fundamentalen Einwilligung des Patienten Lançon in alles, was ihm widerfahren sollte. „Ich habe von Anfang an die Notwendigkeit erkannt, alles zu akzeptieren“, sagt Lançon, ein Satz, der fast wörtlich so im Buch steht und dort so weitergeht: „und die Pflicht, es mit möglichst großer, ja mit eiserner Leichtigkeit und Dankbarkeit zu akzeptieren. Ich durfte dem erfahrenen Grauen nicht die Ehre einer Wut oder Schwermut erweisen, die ich in leichteren, künftig vergangenen Tagen so gern an den Tag gelegt hatte.“ Weinen muss er, der seine eigenen Schmerzen, Operationen, Rückschläge geduldig erträgt, nur jedes mal dann, wenn er die Namen seiner ermordeten Kollegen sagt oder schreibt.
Am Ende des Gesprächs fragt Philippe Lançon noch, ob wir nicht gemeinsam in eine Buchhandlung gehen können, er möchte seiner einjährigen Tochter etwas aus Berlin mitbringen. Eine Viertelstunde später kauft er Rotraut Susanne Berners Wimmelbuch über den Frühling, ein Alltagsreigen ohne Text, 15 Personen, denen man auf ihrem Weg in die Stadt und ihren Tag folgt, an einem ganz normalen Morgen, auf einem Stern, auf dem das Leben weitergeht. Schöne Schlussszene einer beeindruckenden Begegnung. Aber zu kitschig als Ende.
Ein wichtiges Erlebnis gibt es, das Lançon in seinem Buch verschwiegen und erst in einem späteren Text erzählt hat. Seine Freunde haben ein Überraschungskonzert für ihn organisiert, fünf Monate nach dem Attentat spielte der Pianist Alexandre Tharaud einen Nachmittag lang für Lançon. Alle Freunde fragten später, warum er dieses Konzert ausgelassen hat. „Es war ein so außergewöhnlich schöner Tag, dass ich damit hätte enden müssen“, sagt er und reibt sich über den Kiefer, der früher Teil seines Wadenbeinknochens war. „Aber das hätte alles verfälscht. Es gab kein Happy End.“
Und so endet dieses große Buch stattdessen am 13. November 2015 in New York, er spaziert gerade mit seiner Freundin in der Nähe des 9/11-Memorial durch den Spätnachmittag, als sie die ersten Grauensnachrichten erreichen, Stade de France, Bataclan, „der blutige Schluckauf der Geschichte“ und er, der im New Yorker Sonnenuntergang wieder in seinen eigenen Schreckensbildern vom Januar verschwindet. „Ich zwischen diesen beiden Attentaten“ sagt er jetzt ruhig wie jemand, der GPS-Daten abliest. „Ich im Schatten der nicht mehr vorhandenen Türme, mit deren Zerstörung der Wahnsinn anfing. Das ist nun mal die Welt, in der ich lebe.“
Zu Beginn berichtet Lançon
von den letzten Stunden
vor dem Attentat
Im Krankenhaus liest der
Schwerverletzte immer wieder
dieselben Texte, wie Mantras
Das Buch endet in New York,
am 13. November 2015, als in Paris
das Bataclan überfallen wird
„Ich durfte dem erfahrenen Grauen nicht die Ehre einer Wut oder Schwermut erweisen“: Philippe Lançon.
Foto: Annette Hauschild / Ostkreuz
Philippe Lançon:
Der Fetzen. Aus dem Französischen von Nicola Denis. Tropen, Stuttgart 2019.
551 Seiten, 25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Philippe Lançon wurde beim Attentat auf „Charlie Hebdo“ der Unterkiefer weggeschossen.
Jetzt erscheint sein Buch über die ersten Monate seiner Heilung. Eine Begegnung in Berlin
VON ALEX RÜHLE
Unglaublich, was Chirurgie alles kann. Ein kleiner Spalt in der Unterlippe, ansonsten wirken Mund- und Kinnpartie fast ebenmäßig. Gut, Philippe Lançon hat sich einen grau melierten Bart wachsen lassen, der die transplantierte Hautpartie verdeckt, die seinem Buch den Titel gab: „Der Fetzen“. Trotzdem ist kaum vorstellbar, wie dasselbe Gesicht am 7. Januar 2015 aussah: „Anstelle des Kinns und der rechten Seite meiner Unterlippe klaffte nicht etwa ein Loch, sondern ein Krater aus zerstörtem, herabhängendem Fleisch.“
Philippe Lançon saß inmitten von Blut und Leichen, entdeckte sein Gesicht im spiegelnden Display seines Handys und wunderte sich, warum ihn die weinende Sigolène nicht verstand, eine Kollegin, „die erste lebendige und unversehrte Person, die vor mir auftauchte, die erste, die mich spüren ließ, wie sehr alle, die sich mir künftig näherten, von einem anderen Stern kamen – dem Stern, auf dem das Leben einfach weitergeht.“
Mittlerweile musste Philippe Lançon selbst wieder heimisch werden auf diesem Stern. Er ist vor einem Jahr Vater geworden, er arbeitet wieder und hat dieses Buch veröffentlicht, das in Frankreich mehrere große Preise gewonnen hat. Aber ein Leben, das einfach weitergeht? Lançon sitzt hoch über Berlin, nippt an dem Tee, den er vor einer halben Stunde bestellt hat und sagt: „Man gewöhnt sich an alles – aber das bedeutet im Grunde: Man gewöhnt sich daran, sich an nichts gewöhnen zu können.“ Nach dem Satz klackt Lançon hart die Kiefer aufeinander, als würde er einen hörbaren Punkt setzen wollen. Dann sagt er ganz nüchtern: „Mein Leben von vorher gibt es nicht mehr.“ Und wieder die klackenden Kiefer, es klingt wie ein Holzbein, jeder Satz ein Schritt mit der neuen Prothese, den elf künstlichen Zähnen.
„Der Fetzen“ ist das dritte Buch eines Charlie-Hebdo-Überlebenden, wobei Lançon da Einspruch erhebt: „Luz und Catherine Meurisse sind keine Überlebenden.“ Was insofern stimmt, als die beiden Kollegen am 7. Januar 2015 zu spät zur Konferenz gekommen waren, sie standen während des Massakers unten auf der Straße. Luz fing direkt danach wie aus Notwehr an, zu zeichnen, „Katharsis“ erschien wenige Monate nach dem Attentat, ein Schocktagebuch über den weltweiten Solidaritäts-Tsunami, schwarze Nächte ohne Schlaf, das Leben mit dem Trauma, das in seinen Bildern zu einer boshaften Beule wird, die durch seinen Körper mäandert und ihn fast zerreißt. Das erste Bild, das Luz malte, noch am Tag des Attentats, war sein eigener schockstarrer Blick: Ein Polizist hatte ihn abends gebeten zu zeichnen, was er gesehen hatte, in der Hoffnung auf Zeugenmaterial. Luz malte nur seine zitternden Riesenaugen, immer wieder, als wär sein ganzer Körper geschrumpft auf diese schreckgeweitete Wahrnehmung. Vom Cover seines Buches starren einen diese Augen an, das Selbstporträt eines Traumatisierten.
Auch bei Catherine Meurisse wurde das erste Bild, das sie, viel später als Luz, nach den Anschlägen malen konnte, zum Cover ihrer Graphic Novel „Die Leichtigkeit“. Es zeigt den Moment, als sie, nach Wochen der Gedächtnis- und Sprachlosigkeit, erstmals den Atlantik wiedersieht, eine zwergenkleine Frau in menschenleerer Natur. Ihr war dieses Bild so wichtig, wie sie mal erklärte, „weil der Anblick des Meeres ein seltsam elementares Gefühl auslöste. Ich bin auf einem Planeten. Es gibt dieses Meer, es gibt den Planeten, es gibt mich.“ Immerhin. Es gab sie wieder.
Philippe Lançon ist nicht Zeichner, sondern Autor, er arbeitet seit vielen Jahren für Libération und Charlie Hebdo und er hat in seinem früheren Leben drei Romane veröffentlicht. Auch seinen Bericht durchzieht ein ganz elementares Gefühl: Seine kubanische Ex-Frau fragte eines Abends vor einer der 17 Operationen, wie es ihm gehe: „Cómo estás?“ Seine Antwort: „Estoy.“ Ich bin. Im Sinne von: Ich bin gerade da, in diesem Bett, in diesem Zimmer. Jetzt. Mehr nicht.
Genau aus dieser freiwilligen Perspektivreduktion heraus erwächst die Schönheit dieses Buches, das in Frankreich wochenlang auf Platz eins der Bestsellerliste stand. Es berichtet zunächst von den letzten Stunden vor dem Attentat: von einem Theaterbesuch am Abend, von den Morgenritualen (Gymnastik, während im Radio Michel Houellebecq über seinen neuen Roman „Unterwerfung“ spricht, der an dem Tag in die Buchläden kam) und von dem spontanen Entschluss, kurz in der Redaktionskonferenz vorbeizuschauen. Lançon zeichnet hier kein sympathisches Bild von sich selbst, er erscheint auf diesen Seiten als unduldsam, arrogant, prätentiös. „So war ich eben“, sagt der Lançon, der jetzt in Berlin sitzt, „leider“.
Das Attentat wird dann auf vierzig Seiten mit einer Genauigkeit beschrieben, deretwegen allein schon sich die Lektüre lohnt. Wobei der Text nichts mit der Präzision eines Polizeiberichts zu tun hat. Lançon war die gesamte Zeit bei Bewusstsein, zugleich dissoziiert und mit schockgeweiteter Wahrnehmung. Alle Bilder und Empfindungen dringen unauslöschlich in sein Gedächtnis ein wie eine Salve Schrotkugeln in eine Wachsplatte: Die Hosenbeine der Attentäter. Der Allahu-Akbar-Schrei nach jeder Salve. Die Zähne, die plötzlich in seinem Mund herumschwimmen. Der Anblick von Bernard Maris’ Gehirn.
Und doch, so wird er später feststellen, stimmen seine Erinnerungen nicht mit den Berichten anderer Überlebender überein. Sigolène, die weinende Kollegin, wird die erwähnte Handyszene ganz anders zu Protokoll geben. „Ich ertrage diese Verwirrung noch immer nicht“, schreibt er drei Jahre später. „Die Tatsachen sind das einzige Gepäck, das ich auf die folgende Reise gern mitgenommen hätte; doch wie alles Übrige verformen sie sich unter dem Druck. Die Gewalt pervertierte, was sie nicht zerstört hatte. Wie ein Sturm hatte sie das Boot versenkt.“ Der entstellte Schiffbrüchige, den die Pariser Rettungskräfte aus dem Massaker ziehen, wird deshalb alles daran setzen, „nicht zu schreiben, um zu schwindeln, auszuschmücken oder das am eigenen Leib Erfahrene umzuwandeln.“ Stattdessen wird er, während seine Chirurgin sich in immer neuen Operationen daran macht, sein Gesicht zu rekonstruieren, parallel dazu versuchen, schreibend seine Identität zu rekonstruieren. Wer bin ich? Was ist noch da von mir? Was verschwindet, verformt sich, wird ausgelöscht nach solch einem Attentat?
Die folgenden 400 Seiten spielen denn auch ausschließlich in den Krankenhausräumen, erst in der Gesichtschirurgie des Hôpital de la Pitié-Salpêtrière, dann im Hôpital des Invalides. Estoy. Das, was jeweils erlebt wird, Tag für Tag, aus der Perspektive des Schwerverletzten. Kein Radio und kein Fernsehen. Nichts über die Attentäter oder das Land da draußen, kaum Zeitung oder Internet, nur das Zimmer und die Pfeiler seines neuen Alltags: die Operationen und die sorgsame Arbeit der Schwestern, Pfleger und seiner Chirurgin Chloé, einer in ihrem humanen Stoizismus zutiefst beeindruckenden Frau. Die Besuche und Mails der Freunde, der Geliebten, der 81-jährigen Eltern. Und die Kunst, wobei Lançon da widerspricht: „Es war nicht ,die Kunst‘“, sagt er und malt Anführungszeichen in die Berliner Luft, zwischen denen die Kunst jetzt baumelt wie in einem Plastiktütchen, „es waren Stellen aus einzelnen Werken, Kafkas Briefe an Milena, die Seite aus Prousts ,Recherche‘, in der die Großmutter stirbt, eine ,Zauberberg‘-Passage.“ Diese Texte liest er wieder und wieder, wie Mantras, Sprachmedizin, eine eiserne Ration. Vielleicht noch wichtiger war – okay, nein, nicht „die Musik“. Bill Evans. Und immer wieder Bach. Goldberg-Variationen. Kunst der Fuge. Lindernd, ruhig, klar wie Wasser. Als ein Priester kommt und den Atheisten Lançon fragt, ob er nicht beten wolle, erklärt der ihm, „dass ich derzeit mit Bach und Kafkas Hilfe betete: Der eine schenke mir Frieden, der andere eine Form der Bescheidenheit und ironischen Unterwerfung unter die Angst“.
Es gibt diese Werke, die rings vom Tod umstellt sind, aus denen aber gerade deshalb das Leben viel heller leuchtet als wir alltagsverfilzten Trottel es meist wahrnehmen: Wolfgang Herrndorfs „Arbeit und Struktur“. Oder „Schmetterling und Taucherglocke“, der Film von Julian Schnabel, in dem das Schicksal des französischen Journalisten Jean-Dominique Bauby erzählt wird, der nach einem Schlaganfall nur noch mit dem linken Augenlid kommunizieren konnte. Wobei Bauby und Herrndorf am Ende gestorben sind. „Ich bin nicht auf den Tod zugegangen“, sagt Lançon. „Ich kam mitten aus dem Tod und bin langsam ins Leben zurückgekehrt.“
Seine Strahlkraft gewinnt „Der Fetzen“ auch aus einer so instinktiven wie fundamentalen Einwilligung des Patienten Lançon in alles, was ihm widerfahren sollte. „Ich habe von Anfang an die Notwendigkeit erkannt, alles zu akzeptieren“, sagt Lançon, ein Satz, der fast wörtlich so im Buch steht und dort so weitergeht: „und die Pflicht, es mit möglichst großer, ja mit eiserner Leichtigkeit und Dankbarkeit zu akzeptieren. Ich durfte dem erfahrenen Grauen nicht die Ehre einer Wut oder Schwermut erweisen, die ich in leichteren, künftig vergangenen Tagen so gern an den Tag gelegt hatte.“ Weinen muss er, der seine eigenen Schmerzen, Operationen, Rückschläge geduldig erträgt, nur jedes mal dann, wenn er die Namen seiner ermordeten Kollegen sagt oder schreibt.
Am Ende des Gesprächs fragt Philippe Lançon noch, ob wir nicht gemeinsam in eine Buchhandlung gehen können, er möchte seiner einjährigen Tochter etwas aus Berlin mitbringen. Eine Viertelstunde später kauft er Rotraut Susanne Berners Wimmelbuch über den Frühling, ein Alltagsreigen ohne Text, 15 Personen, denen man auf ihrem Weg in die Stadt und ihren Tag folgt, an einem ganz normalen Morgen, auf einem Stern, auf dem das Leben weitergeht. Schöne Schlussszene einer beeindruckenden Begegnung. Aber zu kitschig als Ende.
Ein wichtiges Erlebnis gibt es, das Lançon in seinem Buch verschwiegen und erst in einem späteren Text erzählt hat. Seine Freunde haben ein Überraschungskonzert für ihn organisiert, fünf Monate nach dem Attentat spielte der Pianist Alexandre Tharaud einen Nachmittag lang für Lançon. Alle Freunde fragten später, warum er dieses Konzert ausgelassen hat. „Es war ein so außergewöhnlich schöner Tag, dass ich damit hätte enden müssen“, sagt er und reibt sich über den Kiefer, der früher Teil seines Wadenbeinknochens war. „Aber das hätte alles verfälscht. Es gab kein Happy End.“
Und so endet dieses große Buch stattdessen am 13. November 2015 in New York, er spaziert gerade mit seiner Freundin in der Nähe des 9/11-Memorial durch den Spätnachmittag, als sie die ersten Grauensnachrichten erreichen, Stade de France, Bataclan, „der blutige Schluckauf der Geschichte“ und er, der im New Yorker Sonnenuntergang wieder in seinen eigenen Schreckensbildern vom Januar verschwindet. „Ich zwischen diesen beiden Attentaten“ sagt er jetzt ruhig wie jemand, der GPS-Daten abliest. „Ich im Schatten der nicht mehr vorhandenen Türme, mit deren Zerstörung der Wahnsinn anfing. Das ist nun mal die Welt, in der ich lebe.“
Zu Beginn berichtet Lançon
von den letzten Stunden
vor dem Attentat
Im Krankenhaus liest der
Schwerverletzte immer wieder
dieselben Texte, wie Mantras
Das Buch endet in New York,
am 13. November 2015, als in Paris
das Bataclan überfallen wird
„Ich durfte dem erfahrenen Grauen nicht die Ehre einer Wut oder Schwermut erweisen“: Philippe Lançon.
Foto: Annette Hauschild / Ostkreuz
Philippe Lançon:
Der Fetzen. Aus dem Französischen von Nicola Denis. Tropen, Stuttgart 2019.
551 Seiten, 25 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur FAS-Rezension
Rezensentin Julia Encke sieht Philippe Lançons Buch über das Attentat auf Charlie Hebdo als eine doppelte Rekonstruktion: Zum einen verfolge Lançon, wie ihm seine Chirurgin Chloé das Gesicht wiederherstellte, das ihm die Attentäter zerschossen haben, zum anderen, wie der Autor und Kritiker sein eigenes Leben wiedergewinnt. Encke liest dies auch als Geschichte von Wahnsinn und Vernunft, Härte und Zärtlichkeit, und als grandiose Erzählung der Selbstbehauptung gegenüber dem Tod. Was Lançon in seinem Buch schafft, betont die Rezensentin, ist "ergreifender, dichter und literarischer" als so mancher Roman in dieser Saison.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Ein herausragender Autor« Peter Pisa, Kurier, 24.08.2019 Peter Pisa Kurier 20190824