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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Die Stimme erheben: Der türkische Autor Zülfü Livaneli schreibt im Roman "Der Fischer und der Sohn" über das Drama der Flüchtlinge im Mittelmeer
Nun wird nicht mehr eintreten, auf was Zülfü Livaneli, eine der großen Stimmen der türkischen Kultur, vor den Schicksalswahlen im Mai gehofft hatte. "Wenn es zu einem radikalen Regierungswechsel kommt, werden wir natürlich auch Veränderungen im Kulturbereich erleben", hatte er geschrieben. Dann würde der kreativen Kultur wieder ein Weg geebnet. Wirklichkeit werden dürfte eher wieder ein Bonmot aus früheren Zeiten, bei dem ein Häftling aus der Gefängnisbibliothek ein Buch bestellt und ihm geantwortet wird, das Buch sei nicht da, wohl aber sein Autor.
Viele türkische Intellektuelle und Schriftsteller leben bereits im Exil. Livaneli, geboren 1946, harrt indessen weiter in Istanbul aus. Jahre in der Fremde hat er hinter sich. 1971 steckten ihn die Militärputschisten ins Gefängnis. Abermaligen Verfolgungen entzog er sich durch Aufenthalte in Stockholm und Paris, später in Athen, wo er Freundschaft mit Mikis Theodorakis schloss und sein Einsatz für die türkisch-griechische Aussöhnung begann. 1984 kehrte er, nach einem weiteren Militärputsch, mit einem legendär gewordenen Konzert in die Türkei zurück.
Mit Livanelis Liedern sind Generationen aufgewachsen, als Regisseur wurde er international ausgezeichnet, seine Bücher verarbeiten aktuelle politische Themen. In seinem 2018 erschienenen, aufwühlenden Roman "Unruhe" trifft ein junger Istanbuler Journalist auf junge Jesidinnen, die dem IS entkommen sind. Davor hatten sein Roman "Glückseligkeit" und der Film dazu die Türkei mit der engstirnigen Welt der Ehrenmorde und dem sinnlosen Krieg im Südosten des Landes konfrontiert. Sein Roman "Der Eunuch von Konstantinopel" spielt zwar im 17. Jahrhundert, ist jedoch eine zeitlose Schilderung von Macht und Gewalt in totalitären Systemen.
In seinem jüngsten Roman "Der Fischer und der Sohn", der nun auf Deutsch erschienen ist, steht das Flüchtlingsdrama in der Ägäis zwischen dem türkischen Festland und den griechischen Inseln im Mittelpunkt. Livaneli verlegt den Ort der Handlung in ein Fischerdorf, das nach und nach seine idyllische Ruhe verliert. Es könnte Gümüslük bei Bodrum sein, wo am 2. September 2015 der zweijährige Aylan Kurdi tot an den Strand gespült worden ist. Von dort wären es nur wenige Kilometer bis zu einer der griechischen Inseln Kalymnos oder Kos gewesen.
Der Fischer, das ist der Eigenbrötler Mustafa, der wortkarg ist, seit an einem stürmischen Tag das Meer seinen sieben Jahre alten Sohn Deniz zu sich genommen hatte. Er fährt jeden Morgen auf das Meer hinaus. Einmal erzählt ihm ein Tourist von Ernest Hemingway und dessen Roman "Der alte Mann und das Meer" und wie dieser alte Mann den Kampf um einen riesigen Schwertfisch gegen die Haie verlor. Mustafa erwidert ihm ungerührt, ein guter Fischer könne der nicht gewesen sein. Wenn der Schwertfisch tage- und nächtelang um sein Leben gekämpft hat, dann hätte er die Leine durchschneiden und sagen sollen: "Du hast dir dein Leben verdient, ab zurück ins Meer mit dir."
Eines Morgens findet Mustafa zwei im Meer treibende Leichname. Als er sie an Land bringt, seufzt der diensthabende Unteroffizier: "Das nimmt ja kein Ende. Das Meer ist zur Todeszone geworden." Wenig später hört Mustafa in den Fernsehnachrichten: "Im Mittelmeer haben damit nun mehr als sechzehntausend Migranten ihr Leben verloren."
Der Sohn, das ist ein zwei Monate altes Baby, das Mustafa am selben Morgen wie die beiden Leichen in einem kleinen Schlauchboot findet, das ihm ein Delphin entgegentreibt. Er nimmt es an Bord, versteckt es vor der Dorfbevölkerung und bringt es in sein Haus. Er und seine Frau Mesude nennen es, wie ihren ersten Sohn, Deniz, also Meer. Gemeinsam hecken sie aus, wie sie es behalten können, geraten aber rasch ins Visier der Justiz, nachdem eine afghanische Frau im Krankenhaus aus dem Koma erwacht ist und nach ihrem Baby ruft. Mustafa wird wegen Kindesentführung und Freiheitsberaubung angeklagt.
In der Gefängniszelle lernt Mustafa einen Schlepper kennen, der ihm kühl erklärt, wie sein Wirtschaftszweig funktioniert: "Das ist ein riesiges internationales Geschäft. Es geht um jede Menge Geld." Und es geht um Politik. Es geht darum, dass die türkischen Behörden mal mit den Schleppern zusammenarbeiten und dann wieder nicht. Es geht auch um ziemlich robuste Pushbacks der griechischen Küstenwache.
Auch für diesen Roman hat Livaneli sehr genau recherchiert. Er beschreibt, wie die türkischen Behörden alle Flüchtlinge außer den syrischen, selbst diese Mutter aus Afghanistan, in Rückführungszentren überstellen, von denen sie in ihre Heimat abgeschoben werden. "Sie wird dort mit größter Wahrscheinlichkeit ebenfalls getötet", sagt der Anwalt der verzweifelten Frau. Ebenso wie die Taliban ihren Mann und ihre Eltern und Geschwister getötet haben.
Nie klagt Livaneli direkt an. Der Kämpfer für Menschenrechte lässt aber keinen Zweifel daran, was er für richtig hält und was für inhuman. Er belässt es nicht bei dieser menschlichen Tragödie. Er baut in seinen Roman viel Geschichte ein. So sind Mustafa und Mesude Nachkommen von Muslimen, die im Bevölkerungsaustausch 1923 mit Griechenland von Kreta in die Türkei gebracht worden sind. Die Zwangsumsiedlung ist auch eine Geschichte von Vertreibung aus der Heimat.
Eindringlich beschreibt Livaneli neben der Haupthandlung, wie menschliche Gier das Idyll um das Fischerdorf Schritt für Schritt zerstört. Mit dem Roden der Wälder, dem illegalen Bau großer Hotels, dem Abbau von Gold mittels Zyanid, riesigen Fischfarmen. Dagegen erhebt sich Protest. Studenten ketten sich an Olivenbäume, und der trainierte Taucher Mustafa zerschneidet die Netze einer Fischfarm.
Die Welt, die Livaneli uns nahebringt, hat ihr Gleichgewicht, hat ihre Menschlichkeit verloren. Ermutigend ist, dass Autoren wie er dagegen ihre Stimme erheben. RAINER HERMANN
Zülfü Livaneli: "Der Fischer und der Sohn". Roman.
Aus dem Türkischen von Johannes Neuner. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2023. 190 S., geb.,
20,- Euro.
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