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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Mit "Der Fluch der Aurelia" setzt Cornelia Funke ihren "Drachenreiter" fort.
Manche Geschichten lassen sich hervorragend auf verschiedenen Ebenen verstehen. Es geht dann nicht um Perspektiven oder um das Rätsel, wer darin gut oder schlecht ist. Sondern um die Fragen: Nehme ich die Erzählung wortwörtlich? Welche Bedeutung messe ich ihr bei? Was will sie mir tatsächlich sagen, was ist überinterpretiert? Und gibt es so was wie "Überinterpretation" überhaupt?
Im dritten Band von Cornelia Funkes "Drachenreiter" zeigt sich die Kinderbuchautorin als Meisterin im Erfinden von Geschichten, die all diese Fragen aufwerfen. Das deckt sich nicht unbedingt mit den bisherigen Werken der Autorin, die mit "Herr der Diebe", den "Wilden Hühnern" und der "Tintenherz"-Trilogie berühmt geworden ist und die ohne Scheu in einem Satz mit J. K. Rowling genannt werden kann. Cornelia Funke ist eine phantastische Erzählerin magischer Welten, daran gibt es auch nach diesem Buch keinen Zweifel. In "Der Fluch der Aurelia" reicht ihr das aber nicht mehr. Sie will auch eine Meisterin von Geschichten sein, die politische Interpretation zulassen. Sie will auch über die Welt schreiben, die uns allen ohne Phantasie zugänglich ist.
Die Rollen im dritten Drachenreiter-Band sind, wie in ihren Büchern üblich, klar verteilt: Der 14 Jahre alte Menschenjunge Ben und sein Drache Lung, die schon in den ersten beiden Bänden gegen das Böse kämpfen, tun dies abermals. Dieses Mal lautet der Feind Cadoc Aalstrom, der frühere Klassenkamerad und Erzfeind von Barnabas Wiesengrund, Bens Adoptivvater. An ihrer Seite stehen aus den anderen Bänden bekannte und neue Fabelwesen wie Schwefelfell, das schottische Koboldmädchen, und Lola Grauschwanz, eine Ratte mit Propellerflugzeug. Wie in den vorherigen Bänden wimmelt es nur so von Fabelwesen: Es gibt Drachenbabys und Zopfnixen, verzauberte Tintenfische und Himmelsschlangen. Ben und Cadoc Aalstrom wären sich eigentlich nicht in die Quere gekommen, doch sie haben aus unterschiedlichen Beweggründen das gleiche Ziel: Die unter Wasser lebende "Aurelia", das wohl größte aller magischen Wesen, bewegt sich auf die kalifornische Küste zu - mit Kapseln, die neue Fabelwesen erschaffen. Wird die Aurelia bei diesem sagenumwobenen Vorgang gestört oder verärgert, reißt sie die Kapsel wieder an sich und alle anderen Fabelwesen auf der Welt mit sich, sie werden vernichtet. Cadoc Aalstrom will die Kapseln stehlen, weil er sich davon ewiges Leben erhofft, Drachenreiter Ben will dagegen Aurelia vor Aalstrom beschützen und dafür sorgen, dass die Kapseln an einen sicheren Ort gelangen.
Die Geschichte orientiert sich an der klassischen Heldenreise, es gibt rückhaltlose Freundschaften und Zusammenhalt, es gibt Rückschläge und Enttäuschungen. So weit, so gewöhnlich: Eine solide zweite Fortsetzung eines Buches, das ursprünglich vor 25 Jahren erschienen ist und in seiner erzählerischen Stärke eigentlich keine Fortsetzung nötig hat.
Funkes Anspruch ist dieses Mal aber ein anderer. Eine magische Meeresbewohnerin fragt sich an einer Stelle etwa, wer genau der Aurelia denn zum Opfer fallen würde, wenn man ihr die Kapsel stiehlt, etwa ihr Laternenfisch namens Koo: "War Koo ein Fabelwesen? Vermutlich. Und die Wale, die in der Tiefe sangen? Würde überhaupt jemand übrig bleiben außer den Menschen?" An anderer Stelle geht es um mögliche Konsequenzen für Cadoc Aalstrom, der gerne Fabelwesen einsperrt, um ihre Magie für sich zu nutzen. Feenstaub gegen Gesichtsfalten etwa. Diese Taten "würden so oder so nicht als Verbrechen gewertet, weil sein Opfer keine Menschen sind", sagt ein Homunkulus dazu. "Die Moosfeen würden vor euren Gerichten wohl kaum als Zeugen seiner Grausamkeit angehört werden."
In Cornelia Funkes Kindergeschichte liest sich das alles schlüssig. In Cornelia Funkes Geschichte über eine Erde, die Jahr für Jahr mehr von Klimaveränderungen mitgenommen wird, in der Fabelwesen schlicht all jene Leben sind, die nicht menschlich sind, in der die Menschen und ihre Gier die Artenvielfalt und das Sagenhafte der Natur vernichten, in dieser Geschichte lesen sich solche Sätze noch viel schlüssiger.
Funke hat sich im vergangenen Herbst bei jungen Menschen für den Klimawandel entschuldigt, ihre Generation sei verantwortungslos und selbstsüchtig gewesen. Der Klimawandel ist ein Grund, warum die Autorin jüngst weggezogen ist von der von Dürre und Feuer bedrohten kalifornischen Westküste und nun wieder in Europa lebt. Dass sie ihre Sorgen in das Buch aufnimmt und die Aurelia an ihrem ehemaligen Wohnort auftauchen lässt, macht es authentisch.
Interessant dabei ist auch: Die Welt um sich herum als fabelhaft zu begreifen, das dürfte dieses Kinderbuch besser schaffen als wissenschaftliche Studien, die vor der Zerstörung warnen. Denn das Magische, das die Menschheit gerade zerstört, das ist, so Funkes Perspektive, gar nicht in Zahlen zu messen. Dass es uns am Ende selbst trifft, dass wir das Ausmaß unserer Bequemlichkeit erst verstehen werden, wenn sie nicht mehr möglich ist, dass Nehmen nie ohne Geben funktioniert, das alles liegt auf der Hand. Überinterpretation kann es da gar nicht geben.
Das Buch hat dabei natürlich einen entscheidenden Vorteil: Es gibt nur einen Feind und viele herzensgute Menschen, die alles füreinander tun würden. Das Böse im echten Leben ist leider häufig viel subtiler. KIM MAURUS
Cornelia Funke: "Drachenreiter. Der Fluch der Aurelia". Roman.
Dressler Verlag, Hamburg 2021. 432 S., geb., 20,- Euro.
Ab 10 J.
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