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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Im letzten Buch spitzt der welterfahrene Journalist noch einmal seine Thesen zu
Hände weg vom Orient! Diese Botschaft hat der unlängst verstorbene Peter Scholl-Latour seit vielen Jahren immer wieder verbreitet und damit in der Öffentlichkeit viel Zuspruch gefunden. Seiner Ansicht nach sind alle Versuche, die islamische Welt durch westliche Interventionen zu befrieden und, vor allem, auf den "rechten", sprich westlichen Weg zu bringen, gescheitert. Und sie werden auch weiterhin scheitern, selbst wenn sie weniger eigensüchtigen Interessen folgen sollten als bisher. Hätte er das jüngste Eingreifen, die Bombardements Amerikas gegen den "Islamischen Staat" (IS) auf syrischem Territorium, noch erlebt, er hätte es gewiss als nutzlos - und moralisch zutiefst widersprüchlich - verurteilt.
In seinem nun postum erschienenen letzten Buch "Der Fluch der bösen Tat. Das Scheitern des Westens im Orient", an dem er bis fast zuletzt gearbeitet haben muss, wiederholt Scholl-Latour seine Thesen und spitzt sie zu. Der Titel ist Schillers Wallenstein entnommen, in dem es heißt: "Das eben ist der Fluch der bösen Tat, dass sie, fortzeugend, immer Böses muss gebären." Unter diesem Motto entfaltet Scholl nun ein Tableau der modernen Geschichte Nordafrikas und des "Fruchtbaren Halbmondes" sowie Irans, die er als ein zutiefst von Widersprüchen gekennzeichnetes Wechselspiel zwischen europäisch-amerikanischen militärischen Interventionen und/oder politischen Machenschaften mit den ihrerseits eigensüchtigen Machtspielen orientalischer Potentaten, Diktatoren und Despoten beschreibt. Schwerpunkte seiner Betrachtungen sind Ägypten, Syrien, der Irak, die Türkei und Iran, doch Scholl-Latour wäre nicht der gewesen, der er war, wenn er nicht auch auf Algerien und andere ihm lange vertraute Schauplätze, wie den Kaukasus, zurückgegriffen hätte.
In seiner erprobten Mischung aus Reportage-Elementen, historischen Rückblicken und Analysen ist dieses Buch ein echter Scholl. Am stärksten ist es dort, wo der Autor durch das Schildern des persönlich auf seinen zahllosen Reisen Erlebten genau beschreiben und nur informieren will. "Ich will nur informieren", hatte Scholl-Latour noch in einem seiner letzten Interviews im deutschen Fernsehen gesagt. Bis zuletzt hatte der fast Neunzigjährige sich auch selbst an Ort und Stelle informiert - etwa im Gebiet der türkischen Provinz Hatay bei Reyhanli und Cilvegözü, von dem aus er dann den blutigen Bürgerkrieg in Syrien in der Region von Aleppo in Augenschein nahm.
Wer die Lage dort einigermaßen einzuschätzen vermag, erstarrt in Ehrfurcht vor dem Mut und der Kraft dieses welt- und krisenerfahrenen Journalisten, dessen Leben offenkundig auch von seinem durch christliche Erziehung gewonnenen Gottvertrauen getragen war. Auch aus diesem Buch Scholls wird deutlich, wie sträflich der immer agnostischer werdende Westen, der nur noch Daten und Fakten, vor allem ökonomische, kennt, die Bedeutung der Religion im Orient wie anderswo außerhalb Europas unterschätzt hat. Das war eines von Scholls Lieblingsthemen.
In der für ihn typischen Weise verknüpft Scholl auch in diesem Buch die Beschreibung der chaotischen Gegenwart mit seinem großen Wissen über die nahöstliche Geschichte und Kulturgeschichte. Man hat ihm manchmal vorgeworfen, da tue er des Guten zu viel. Nicht jeder Rückgriff auf die Terrortaten der ismailitischen Assassinen vor tausend Jahren oder die Traditionen der Mameluken im mittelalterlichen Ägypten könne die Gegenwart erhellen. Dem hielt Scholl jedoch entgegen, gerade dies sei eben für den Orient charakteristisch: der unmittelbare Bezug auf die Vergangenheit, der nicht - wie im säkularisierten, weitgehend entchristlichten Westen - durch den Historismus gebrochen sei, sondern nach wie vor weiterwirke. Niemals - so Scholl auch in diesem Buch - habe der Westen, vor allem Amerika, das Geringste davon begriffen, sondern wolle alle Kulturen über einen Kamm scheren. Eklatantestes Beispiel seien die euphorischen Fehleinschätzungen gewesen, die der "Arabische Frühling" allenthalben hervorgerufen habe. Dessen vorläufiges Scheitern, vor allem in Ägypten, wird im Buch nur gestreift, hatte Scholl doch zuvor der Arabellion eine eigene Publikation gewidmet.
Seit Bonapartes Einfall in Ägypten im Jahre 1798 bis zum unseligen Irak-Krieg versuche der Westen, die islamische Welt zu manipulieren, zunächst durch die Schaffung von Kolonien (Algerien) und später Mandaten und Protektoraten (Syrien, Palästina, Irak), dann durch seine Politik der Interventionen. Doch je mehr dies stattfinde, desto eigensinniger verharre der Islam in seinem Eigen-Sein und reagiere aggressiv, nationalistisch, wie unter Nasser, oder religiös wie heutzutage. Schon immer hat Scholl die Meinung vertreten, der Islam trage wehrhaften Charakter; seine Sympathien für die quietistischen und mystischen Regungen und Strömungen innerhalb dieser Weltreligion - dies zeigen auch die Beschreibungen der verschiedenen Bruderschaften in diesem Buch - waren bei ihm nie besonders ausgeprägt. Hier geht er leider und überflüssigerweise mit "bestimmten Orientalisten" ins Gericht - was unschwer als Affront gegen die 2003 verstorbene Annemarie Schimmel zu erkennen ist. Die Lehre der türkischen Aleviten und der syrischen Alawiten ist ihm vertraut, doch sagen diese "Häresien" ihm wenig.
Tatsächlich ist indessen nicht zu leugnen, dass ein großer Teil der heutigen Wirren und gewalttätigen Aktionen auf die Eingriffe zurückgeht, welche Engländer und Franzosen nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches, etwa durch das Sykes-Picot-Abkommen von 1916 oder die doppelzüngige Politik gegenüber den Arabern im Ersten Weltkrieg unter dem berühmten "Lawrence von Arabien", in der Region vorgenommen haben. Im Augenblick sieht es so aus, als werde die daraus entstandene nahöstliche Staatenwelt mit ihren überwiegend künstlichen Grenzen zumindest teilweise in Frage gestellt, etwa in Syrien und im Irak. Kaum widersprechen können wird man Scholl auch bei seiner Behauptung, dass der Irak-Krieg der Amerikaner 2003 eine Büchse der Pandora geöffnet hat, die sich in die Kette vieler unseliger westlicher Interventionen fügt. Dies hat den sunnitisch-schiitischen Gegensatz vollends entflammt. Francis Fukuyamas hanebüchene Theorie vom Ende der Geschichte nach dem Zusammenbruch des Ostblocks habe Washington dazu verführt, Saddam Hussein gewaltsam zu stürzen in der Hoffnung auf einen Domino-Effekt in der übrigen arabischen Welt. Doch westliches Denken, so Scholls Grundüberzeugung, hat wenig Chancen, im Islam Platz zu greifen, erst recht, wenn Demokratie und Menschenrechte in dieser Region von Mächten herbeigeführt werden sollen, die zu gleicher Zeit - siehe Saudi-Arabien - mit den schlimmsten Verächtern der Menschenrechte im Bunde waren oder sind oder gar selbst die Menschenrechte mit Füßen treten.
Zu den besten Passagen des Buches gehören Scholls Reminiszenzen an frühere Aufenthalte in der Türkei, die deutlich machen, dass ihn der Aufstieg Recep Tayyip Erdogans und seiner AKP nicht im geringsten überraschte (er publizierte darüber schon 1999 das Buch "Allahs Schatten über Atatürk"), und seine Erinnerungen an den Ajatollah Chomeini, den er 1979 persönlich auf seiner Rückkehr nach Teheran begleitete. Iran, so sein Vorwurf, verdiene bei aller Kritik der Mullah-Herrschaft nicht jene Dämonisierung, die ihm durch Washington und Israel zuteilwerde.
Auch wer Scholls Philippika gegen den Westen nicht in allen Einzelheiten folgen und bisweilen Differenzierungen vermissen mag, wird doch der Grundtendenz zustimmen können: Viele Muslime, die jeglichen religiösen Eiferertums abhold sind, beharren, wie er, darauf, dass ihre Religion und Kultur das Recht habe, ihren eigenen Weg in die Moderne zu suchen und zu finden, ohne Fremdbestimmung und Besserwisserei. Man hat Peter Scholl-Latour oft den Ruf eines Pessimisten, einer Kassandra gar angeheftet; doch es ist kaum zu leugnen, dass seine düsteren Vorhersagen oft eingetroffen sind. Viele Fragen bleiben, die er jetzt nicht mehr beantworten kann. War es falsch, die Opposition gegen das totalitäre Regime in Damaskus zu unterstützen, das nun fatalerweise fast als das geringere Übel erscheint? War es falsch, Saddam Hussein 1991 seine kuweitische Beute wieder abzujagen? Gehört der Orient zu jenen Regionen, in denen man immer nur das Falsche tun kann, oder ist eine stimmigere Politik möglich? Durch seinen Tod ist dieses Buch zu Peter Scholl-Latours Vermächtnis geworden, auch wenn es uns in einer gewissen Ratlosigkeit darüber, was denn angesichts der neuerlichen Bedrohungen zu tun sei, zurücklässt.
WOLFGANG GÜNTER LERCH
Peter Scholl-Latour: Der Fluch der bösen Tat. Das Scheitern des Westens im Orient. Propyläen Verlag, Berlin 2014. 352 S., 24,99 [Euro].
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