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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Da hilft nur Umkehr: Amitav Ghosh zieht alle Register entschiedener Zivilisationskritik
Wenn die Menschheit auf eine um drei Grad wärmere Welt zusteuert, ist daran die Muskatnuss schuld? Nicht unmittelbar, aber sie kann, so findet Amitav Ghosh, als Emblem für ein geradezu kosmisches Verhängnis dienen. Der weltweit gelesene und geehrte Romanautor und Essayist bewegt sich mit diesem Buch tiefer denn je in den Bereich von "non-fiction" hinein. Mit sechshundert Anmerkungen, einer Bibliographie von beinahe fünfhundert Titeln (die in der deutschen Ausgabe ebenso fehlt wie ein Register) und ausführlichen Zitaten aus einem breiten Spektrum gut ausgewählter Literatur erhebt Ghosh den Anspruch, mehr zu bieten als ein Schreckensbild und eine Bußpredigt. Er will erklären, wie und warum wir in einem Schlamassel gelandet sind, der noch viel umfassender ist als der beschleunigte Klimawandel, in einer unentrinnbaren "planetarischen Krise", zu der auch Umweltzerstörung, Massenentwurzelung, politische Regression, Pandemien, Rassismus und skandalöse innergesellschaftliche wie internationale Ungleichheiten gehören.
Was hat das mit der Muskatnuss zu tun? Auf der Banda-Insel Lonthor (heute: Banda Besar), etwa zweitausend Kilometer östlich von Jakarta (das zwei Jahre zuvor als niederländische Festung "Batavia" gegründet worden war), taten im April 1621 europäische Soldaten und Kolonialagenten dasselbe wie gleichzeitig in anderen Teilen Südostasiens und in den beiden Amerikas: Sie enteigneten, vertrieben, versklavten, folterten und ermordeten die einheimische Bevölkerung. Der Konquistador und Generalgouverneur Jan Pieterszoon Coen ordnete eine solche "Endlösung" (Ghosh) einerseits aus paranoider Furcht vor Aufständen an, und andererseits, um das menschenleere Land für Muskatnussplantagen nutzen zu können, die von importierten Sklaven bearbeitet werden sollten. Der Banda-Archipel wurde durch "Terraforming" - die Übersetzerin hat dieses englische Kunstwort unverändert übernommen - in die berühmten "Gewürzinseln" verwandelt, eine der Quellen des niederländischen Reichtums im Goldenen Zeitalter.
Viel mehr erfährt man über die spätere lokale Entwicklung im Rest des Buches nicht. Amitav Ghosh, der versierte Romancier, will keine länger ausgesponnenen Geschichten erzählen, nicht der jahrhundertelangen Kolonialherrschaft in Niederländisch-Ostindien, nicht der überlebenden und geflüchteten Bandanesen, nicht der Muskatnuss als globaler Handelsware, nicht der europäischen "Unterwerfung der Welt", von der Wolfgang Reinhard gesprochen hat. Lonthor 1621 dient ihm als Urszene eines destruktiven Verhältnisses zur Welt, an dem sich seither wenig geändert habe. Die Ereignisse dort wiederholten sich ganz ähnlich 1636 bis 1638 im Krieg zwischen englischen Kolonisten und den Pequot im südlichen Neuengland und dann immer wieder bis hin zu heutigen Massakern und ethnischen Säuberungen. Lonthor war nicht der Anfang einer kontinuierlichen historischen Entwicklung. Es dient Ghosh über die Zeiten hinweg als ein "Modell für die Gegenwart". Der gute Kenner der historischen Literatur hat kein Interesse an Geschichte, also an Nuance und Veränderung. Deshalb kann er unvermittelt zwischen Coens Soldateska von 1621, in der sich übrigens japanische Söldner durch besondere Brutalität hervortaten, zu rassistischen Mördern in den USA der Gegenwart springen. Denn die Ursache all dieser Schreckenstaten ist in seiner Sicht dieselbe.
Ghosh verstreut die negative Undialektik seiner düsteren Geschichtsphilosophie über zahlreiche Kapitel, die immer neu ansetzen. Sie sind bei einem literarischen Könner dieses Ranges abwechslungsreich geschrieben, führen jedoch immer wieder zu demselben Ergebnis: Die "herrschende Moderne" (official modernity) war und ist ein blutiger Irrweg. Sie begann um die Zeit des indonesischen Lonthor-Massakers in Europa als Sieg eines "mechanistischen" Denkens über ein älteres "vitalistisches" Weltbild. Der englische Philosoph und Staatsmann Francis Bacon (1561 - 1626) war ihr kaltherziger Prophet. Kein Wunder, dass zu seiner Zeit die Hexenverfolgung in Europa ihren ersten Höhepunkt erreichte. Das mechanistische Denken sah die Natur als passive Ressource, deren rücksichtslose Ausbeutung keiner Rechtfertigung bedurfte. Auch Menschen wurden wie Dinge behandelt.
Die größten Grausamkeiten wurden im nun beginnenden Kolonialismus begangen, der wiederum als "nachgeordneten Effekt" den mechanistisch-rational organisierten Kapitalismus hervorbrachte. Genozid und Ökozid gingen Hand in Hand. Ebenso waren physische und geistige Aggression Ausdruck derselben Entfremdung des europäischen Menschen von der Natur. Die Europäer wähnten sich als "Herrscher all dessen, auf das ihr Blick fiel". Die jetzt entstehende Wissenschaft degradierte die Welt zu einer Sammlung von Objekten. Überall brachten die Europäer seit dem siebzehnten Jahrhundert das widerständige Andere zum Schweigen, löschten unliebsamen "Sinn" aus - was andere "Entzauberung" genannt haben - und hinterließen eine Spur materieller Verwüstung. Am schlimmsten wüteten sie als Siedlungskolonialisten. Sogar "Omnizid" - die Vernichtung von allem - wurde nun denkmöglich. Wenn das herrschende Denken seines "mechanistischen" Charakters überdrüssig wurde, kippte es im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert schnell in "Ökofaschismus" um, eine Blut-und-Boden-Mystifizierung der Natur, die im Widerspruch zu einem wahren Vitalismus stand. Die Urheber des Ökofaschismus seien Ernst Moritz Arndt und Ernst Haeckel gewesen.
Ghosh zieht alle Register romantischer und neo-romantischer Zivilisations- und Modernekritik, ohne deren Motivkatalog oder Klischeesammlung Neues hinzuzufügen. Da er einen archaischen "Fluch" weiterwirken sieht, gibt er sich wenig Mühe, das Besondere der heutigen Lage zu verstehen. Deshalb sind seine Rezepte gegen die Megakrise des 21. Jahrhunderts ebenso gut gemeint wie begrenzt hilfreich. Die westliche Raub- und Unterdrückungshaltung gegenüber der Natur habe sich in der zeitgemäßen Gestalt des Konsumismus weit über den Westen hinaus verbreitet und werde heute "von der gesamten globalen Elite geteilt". Da hülfen nur Einkehr und Umkehr: eine Anerkennung der "Heiligkeit" der durch und durch belebten und in der Sprache der Katastrophen mit uns kommunizierenden Natur, Demut vor dem unterdrückten Wissen der Indigenen und überhaupt aller Nicht-Modernen sowie Aktivismus von unten.
Allein durch Gesinnungsstärke und ganz ohne moderne Wissenschaft und Technologie, denen Amitav Ghosh zutiefst misstraut, wird sich die Klimaerwärmung allerdings nicht aufhalten lassen. Beiläufig muss Ghosh auch einräumen, dass sich der rettende "Vitalismus", den er empfiehlt (Greta Thunberg als "archetypische Erlöserfigur", aber zu wissenschaftsgläubig!), nicht immer leicht von seinem sinistren Doppelgänger in der Naturmystifizierung, dem "Ökofaschismus", unterscheiden lässt.
Vielleicht wäre schon einiges gewonnen, wenn die konsumistischen globalen Eliten vor ihren nächsten Langstreckenflügen dieses Buch ins Handgepäck steckten. Sie werden nach der Lektüre nicht dauernd im Zustand moralischer Erschütterung verharren. Rationale Analyse und wissenschaftliche Aufklärung finden sie dann anderswo. JÜRGEN OSTERHAMMEL
Amitav Ghosh: "Der Fluch der Muskatnuss". Gleichnis für einen Planeten in Aufruhr.
Aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2023. 334 S., geb., 28,- Euro.
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