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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Subversives Schaudern: Bora Chungs engagierte Horrorgeschichten sind intelligente Sozialkommentare zur südkoreanischen Gesellschaft
"Ich schließe die Tür und stehe allein in völliger Dunkelheit. In dieser verdrehten Welt ist das mein einziger Trost." Die 1976 geborene Koreanerin Bora Chung dekonstruiert mit monströs schöner Schauerprosa zwischen europäischem Märchengut und K-Horror, magischem Realismus und virtueller Realität den ganz normalen Alltagshorror unserer Zeit. Ihr Buch, das 2022 in englischer Übersetzung auf der Shortlist des International Booker Prize stand, vereint zehn Kurzgeschichten als Sozialkommentare und Spiegel kapitalistischer und patriarchaler Irrwege und Selbsttäuschungen. Es sind Rache- und Selbstermächtigungserzählungen von Randständigen und Unterprivilegierten.
Die Titelgeschichte, "Der Fluch des Hasen", aus der das Eingangszitat dieser Rezension stammt, handelt von der Anfertigung verfluchter Dinge als Geschäftszweig. Rahmenhandlung ist die unheimliche Gutenachtgeschichte des Großvaters des Erzählers. Er berichtet, wie er der Konkurrenz seines Freundes, die dessen Schnapsbrennerei durch Verleumdung in den Ruin getrieben hatte, eine Unglück bringende Lampe in Hasenform zuspielte, woraufhin dokumentenknabbernde weiße Hasen sich ungebremst vermehrten. An Kafka erinnert die Verwandlung des in die Lampe vernarrten Enkels des Generaldirektors der Konkurrenzfirma, der wie ein Kaninchen mit den Ohren zuckt und an dessen Hirn sich in Traumsequenzen ein weißer Hase "gütlich tat", sowie die genüsslich gesteigerte Katastrophe.
Chung schildert Einbrüche des Unheimlichen und Surrealen in ein von Konfuzianismus und Konventionen geprägtes Land. Ihre Figuren, wie in "Der Eisfinger", sind Antihelden, die "auf trügerischem Untergrund mit unbekanntem Ziel durch die pechschwarze Nacht" laufen. Nach einem Verkehrsunfall bei der Rückfahrt von einer Einweihungsparty verwischen sich Dies- und Jenseits, Wahrheit und Lüge in einem beängstigenden Zwischenreich. Das blinde Vertrauen der Heldin in eine "dünne Stimme" und den "Eisfinger", der sie vermeintlich aus dem Schlamm, in dem das Auto feststeckt, leitet, das Unheil aber nur verstärkt, evoziert die menschliche Anfälligkeit für autoritäre Systeme.
Heiratsdruck und Stigmata bei Alleinerziehenden erörtert die in einer sterilen Poliklinik spielende Erzählung "Monatsblutung". Die Heldin wird paradoxerweise durch übermäßige Einnahme von Antibabypillen schwanger. Die Gynäkologin erklärt ihr, dass "die Zellen des Fötus sich nicht angemessen teilen und nicht richtig wachsen, wenn Sie keinen männlichen Partner finden". Woraufhin die Familie Blind Dates initiiert, was zu Intrigen führt, die das Schema von K-Dramen persiflieren: Ein unfruchtbarer Kandidat schickt seinen Schwiegervater, einen Firmenbonzen, vor, dem die Heldin als "Zweitfrau" einen Sohn zwecks Fortsetzung des Familienstammbaums gebären soll. Die erfolglose Partnersuche mündet in der Geburt eines warmen Blutklumpens.
"Ciao, meine Liebe" wirft einen Blick auf das "Uncanny Valley" der KI und die Anonymität der modernen Gesellschaft: Die "erste Liebe" einer Ingenieurin ist hier eine elektronische - zu einem Roboter. Die Parabel schildert die sentimentale Karriere des Androiden ("Nummer 1 war mein Geschöpf und mein Gefährte") bis zu dessen geplanter Entsorgung als "herzzerreißendes Stück Schrott". Das Schauerstück endet in einer Messerattacke von Nummer 1, die er gemeinsam mit zwei anderen Hausrobotern der Heldin ausführt, nachdem die drei ihre Stromquellen und Zentraleinheiten miteinander verbunden hatten: So haben sich die künstlichen Gefährten in etwas "völlig Fremdes" verwandelt.
"Mein glückliches Zuhause" wiederum erzählt tiefenscharf über die Zerstörung der Sicherheitsmythen von Ehe und Existenz. Eine sparsame Frau kauft mit ihrem Mann ein Mehrfamilienhaus als "einzige Trophäe aus ihrem jahrelangen Kampf gegen die Welt". Doch bald umgibt es eine spukhausähnliche Atmosphäre. Streitigkeiten mit Mietern, der Vorbesitzerin und Alteingesessenen, aber auch die Ratten nehmen zu, der Gatte hat eine Affäre mit der Innenarchitektin. Die makabre Lösung dieser Probleme - der Mann verunglückt mit seiner geliebten tödlich - scheint mit einem im Keller zwischen Schaufensterpuppen hausenden Kind im Zusammenhang zu stehen, mit dem die Frau Freundschaft geschlossen hat. Das Motiv des rächend-renitenten Kindes, das schon in der Titelgeschichte anklang, wird hier durch ein der Heldin fatalistisch folgendes "Schattenkind" fortgeführt, das von ihr adoptiert wird.
Die programmatisch traurige Schlussepisode "Das Wiedersehen" spielt in Polen. Sie erzählt von geisterhaften Wiedergängern des Kriegs und nicht ablegbaren Traumata der Vergangenheit. Der Großvater des Geliebten der Icherzählerin fand seinen Lebenszweck nach Befreiung aus dem Konzentrationslager weiterhin im Überleben, verließ nie das Haus und hielt stets gepackte Koffer bereit. Chung schildert Traumatisierungen als einzigen Moment, "in dem sich diese Menschen ganz sicher waren, am Leben zu sein". Wie ein an den Großvater erinnernder Geist, der jeden Sommer hinkend den Hauptmarkt von Krakau überquert, seien die Menschen in der Vergangenheit gefangen, während sie "in sinnlosen Wiederholungen nach der Bestätigung suchen, überlebt zu haben": Bora Chung ist mit ihren ebenso sogkräftigen wie trugbilderreichen Storys eine originelle neue literarische Stimme aus Korea. STEFFEN GNAM
Bora Chung: "Der Fluch des Hasen". Storys.
Aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee. Culturbooks Verlag, Hamburg 2023.
264 S., geb., 24,- Euro.
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