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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
auf Osteuropa
Martin Schulze Wessel erzählt meisterhaft
von der russischen Geschichte. Und wagt eine
kühne Prognose. Von Andreii Portnov
Die Geschichtsschreibung muss immer wieder in der Vergangenheit nach Antworten auf Fragen und Herausforderungen der Gegenwart suchen. Russlands umfassende militärische Aggression gegen die Ukraine zwingt uns nun auf blutige Weise, Grundfragen der jüngsten internationalen Politik, die globale Sicherheitsarchitektur und nicht zuletzt die deutschen Stereotype über Osteuropa und die besondere Beziehung Deutschlands zu Russland zu überdenken. Wie jede Prüfung etablierter Denkmuster ist es ein schwieriger, mühevoller Prozess, der noch lange nicht abgeschlossen ist.
Das neue Buch des Osteuropa-Historikers Martin Schulze Wessel zielt auf die Kernfragen. Sein Anspruch ist zu erklären, „was die tieferen Bedingungsfaktoren sind, die zum russischen Krieg gegen die Ukraine geführt haben“, und er fragt, was „das Studium von Russlands imperialer Geschichte und Ideologie zur Erklärung des russischen Angriffs auf die Ukraine beitragen“ kann.
Der Autor zeigt eindringlich, materialreich und mit vielen Zitaten aus den Quellen, dass ohne die Kenntnis historischer Mythen und Obsessionen ein angemessenes Verständnis des von Russland entfesselten Angriffskrieges nicht möglich ist. Der Münchner Historiker schlägt vor, das neuzeitliche Russländische Imperium, das mit der Herrschaft Peters I. begann, neu zu verstehen – er konzentriert sich also auf die vergangenen 300 Jahre der russischen Geschichte. Zugleich erweitert er sein Untersuchungsfeld auf die Geschichte Polens und der ukrainischen Gebiete, die Russland Schritt für Schritt annektierte und seinem Imperium einverleibte.
Schulze Wessel schreibt dabei politische Geschichte, als Abfolge von Weichenstellungen mit Fehlern und Vorurteilen, die sich immer wieder erneuern, zwar nicht zwangsläufig, aber in der „Pfadabhängigkeit“ wiederkehrender Muster. Das Ergebnis ist eine prägnante, analytische Darstellung von etwas mehr als drei Jahrhunderten Geschichte, von den Kriegen von Zar Peter I. (dem „Großen“). und den Teilungen Polen-Litauens seit 1772 bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion und dem aktuellen Krieg in Europa. Diese Darstellung ist ein Musterbeispiel für eine sorgfältige, differenziert argumentierende Politikgeschichte, die sowohl für Fachleute als auch für ein allgemeines deutsches Publikum von Interesse sein wird.
Vor allem dieser erhält nun – vielleicht zum ersten Mal – einen Überblick über die historischen Prozesse in Osteuropa, in denen der russische Nationalismus den ihm gebührenden Rang einnimmt. So zeigt etwa schon die Annexion der Krim durch die Zarin Katharina II. im späten 18. Jahrhundert spezifische koloniale Muster der russischen Politik, die sich über alle Brüche in Verfassungs- und Gesellschaftsordnungen konstant durchgehalten haben.
Doch Schulze Wessel schreibt gleichzeitig auch eine Literatur- und Ideengeschichte der konkurrierenden nationalen Ideologien und Selbstbilder. Der filigrane Vergleich der Weltanschauungen der drei klassischen Nationaldichter Russlands, Polens und der Ukraine ist besonders gewichtig und erschließt für die meisten deutschen Leser Neuland. Am ausführlichsten analysiert der Autor das antieuropäische Ressentiment und die polenfeindlichen Aussagen Alexander Puschkins und vergleicht sie mit den antiimperialen Haltungen des Polen Adam Mickiewicz und des Ukrainers Taras Schewtschenko. Die Zitate aus den Quellen werden zur Anthologie konkurrierender Nationalismen mit Wiederkennungseffekten bis heute.
Einem anderen bedeutenden – und in Deutschland wenig bekannten – ukrainischen Theoretiker des Sozialismus und Föderalismus, Mychajlo Drahomanow, dessen Lebenswerk der Verteidigung der Freiheit aller Völker auf dem europäischen Kontinent galt, widmet Schulze glanzvolle Seiten. Seine Darstellung zwängt die im 19. Jahrhundert entstehende ukrainische Nationalbewegung nicht ins enge Schema des ethnischen Nationalismus, sondern zeigt, dass sie ein emanzipatorisches, antiimperiales Projekt war, das sich auf universelle demokratische Werte beruft.
Das Buch behandelt auch die Geschichte der Sowjetunion besonnen und ausgewogen. Der Autor rekapituliert umfassend die Verbrechen des stalinistischen Regimes, insbesondere den Holodomor, die große Hungersnot von 1932/33. Dabei zeigt er, dass eine Gleichsetzung dieser Verbrechen mit der völkermörderischen Rassenpolitik der Nationalsozialisten unangemessen ist. Vor allem die deutschen Themen des Buches zeigen die Fähigkeit Schulze Wessels zur historischen Differenzierung. So bezeichnet er das deutsch-sowjetische Abkommen von Rapallo vom 16. April 1922 treffend als „vernichtete Chance Europas“. In seiner meisterhaften Analyse von Willy Brandts neuer Ostpolitik seit 1970 zeigt er die Nachwirkungen von „Spuren der imperialen Vergangenheit“, die zur Bereitschaft der westdeutschen Seite beitrugen, Osteuropa vor allem aus der Moskauer Perspektive zu betrachten.
Eines der zentralen Anliegen von Schulze Wessels Buch ist es, die Ukraine in Deutschland endlich „als eigenständiges historisches Subjekt“ sichtbar zu machen. Ein äußeres Zeichen dafür ist die konsequente Verwendung ukrainischer Schreibweisen bei den geografischen Namen: Kyiv statt Kiew, Odesa statt Odessa.
In der imperial geprägten Dreiecksgeschichte zwischen Russland, Polen und der Ukraine, die das Buch entwirft, „übernahm die ukrainische Frage im 20. Jahrhundert die Rolle, die im 19. Jahrhundert die polnische Frage gespielt hatte, nämlich die der größten Herausforderung des Imperiums“, resümiert Schulze Wessel. Die aggressive Brutalität des gegenwärtigen Krieges sei „vergleichbar mit der brutalen Niederschlagung der polnischen Aufstände im 19. Jahrhundert“. Ähnlich sind auch die Auswirkungen dieser imperialen Politik auf die Beziehungen zum Rest Europas: Die Unterdrückung Polens beschränkte die Bündnismöglichkeiten Russlands im europäischen Mächtesystem jahrzehntelang auf die anderen beiden Teilungsmächte, Preußen und Österreich, ähnlich wie der Krieg gegen die Ukraine Russland heute in Europa isoliert. Darüber hinaus legte das imperiale Projekt Russland im Inneren auf einen autokratischen Regierungsstil fest – auch das eine aktuelle Parallele. Das Imperium mit seinem Zwang zu innerer Repression und äußerer Selbstisolation war tatsächlich ein „Fluch“ für Russland, wie es der Titel des Buches anzeigt.
So zeigt es, dass „der entscheidende Bezugsrahmen des Krieges russische Kulturmuster sind“, die auch in Deutschland die Wahrnehmung prägten und bis heute oft unkritisch übernommen werden. Schulze Wessels Blick in die Zukunft ist kategorisch: „Eine Zeitenwende in Russland könnte nur eine Niederlage und eine fundamentale Neubesinnung Russlands als postimperiale Nation herbeiführen.“ Und wäre es nicht für Russland selbst besser, ein friedliches wohlhabendes Land mit riesiger, wenig bevölkerter Natur wie Kanada zu werden? So Schulze Wessel in einem kühnen Ausblick.
Für die dringend zu wünschende Zeitenwende in der deutschen Historiografie ist Martin Schulze Wessels Buch ein Ereignis. Ein Ereignis, von dem ich hoffe, dass es der Beginn einer sinnvollen wissenschaftlichen Diskussion über den etablierten Rahmen der Osteuropageschichte sein wird, über die Bedeutung einer vollständigen Institutionalisierung der Ukrainistik als Wissenschaft in Deutschland, über die Suche nach einer neuen Sprache und neuen methodischen Ansätzen, um sowohl das Russländische Imperium als auch die Sowjetunion zu analysieren.
Der ukrainische Historiker Andrii Portnov, geboren 1979 in Dnipro, ist Professor für Entangled History of Ukraine an der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder.
Die Ukraine soll endlich
„als eigenständiges historisches
Subjekt“ sichtbar werden
Die Deutung des Krieges erfolgt
mit russischen Kulturmustern, die
oft unkritisch verwendet werden
Martin Schulze Wessel ist Professor für Geschichte Osteuropas an der LMU München.
Foto: pöstges
„Eine Zeitenwende“, schreibt Schulze Wessel, „könnte nur eine fundamentale Neubesinnung Russlands als postimperiale Nation herbeiführen.“ Werk des Kölner Künstlers Thomas Baumgärtel auf dem Maidan in Kiew.
Foto: dpa
Martin Schulze Wessel: Der Fluch des Imperiums – Die Ukraine, Polen und der Irrweg in der russischen Geschichte. C. H. Beck, München 2023.
352 Seiten, 28 Euro.
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Aporien eines imperialen Geltungsdrangs: Martin Schulze Wessel zeichnet die lange Geschichte russischer Polen- und Ukrainepolitik nach
Die polnisch-ukrainische Übereinkunft des Jahres 2022 hat Europa von Grund auf verändert. Sie hat ermöglicht, dass die Europäische Union eine gemeinsame Antwort auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine findet. Und sie hat gezeigt, wie realitätsfern die Wahrnehmung russischer Politik in Berlin über Jahrzehnte war. Martin Schulze Wessel hat nun eine umfassende historische Kontextualisierung des Verhältnisses zwischen Berlin und Moskau sowie Warschau und Kiew vorgelegt.
Der Münchener Osteuropa-Historiker zeigt, wie nach und nach aus dem Großfürstentum Moskau das russische Reich mit einem politischen, religiösen und kulturellen Geltungsanspruch über den gesamten Raum zwischen Ostsee und Schwarzem Meer entstand. Dieser Prozess war von Anfang an geprägt von der Suche nach Antworten auf die polnische Frage. So war der Aufstieg von Russland und Preußen zu europäischen Imperien auf Kosten des polnisch-litauischen Reichs erfolgt, das im Zuge von drei Teilungen im letzten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts aufhörte zu existieren. Ein Großteil ukrainischer Territorien geriet so unter russische Herrschaft, nur Galizien wurde von Wien annektiert. Das russische Reich zahlte einen hohen Preis für der Einverleibung Polens, denn das Selbstbewusstsein des mehrheitlich römisch-katholischen Adels und sein Beharren auf dem Recht auf Selbstbestimmung wurden zum wiederkehrenden Ausgangspunkt für Aufstände. Trotz ihrer militärischen Niederschlagung wurden sie zu einer ideologischen Bedrohung für das russische Reich.
Um die langfristigen Folgen des Strebens nach hegemonialer Herrschaft von Peter I., Katharina II. und ihren Nachfolgern auf dem Thron zu zeigen, spinnt der Autor Fäden aus der Diplomatie-, Ideen- und Kulturgeschichte. Der daraus gewebte Stoff zeigt anschaulich, wie russische Geschichtsbilder im langen neunzehnten Jahrhundert und nach der Oktoberrevolution auch in der Sowjetunion hergestellt wurden und stets eine Antwort auf die Frage nach der Zukunft der Herrschaft in der Region enthielten.
Der rote Faden im Buch ist jener "Fluch des Imperiums", der vordergründig in der Notwendigkeit zur Integration neu eroberter Gebiete im Westen und Süden lag. Doch Schulze Wessel zeigt mehr: Er erklärt, wie sich gerade in der Auseinandersetzung mit Polen und später auch mit der Ukraine unter den Eliten des russischen Reichs ein Konglomerat ideologischer Vorstellungen herausbildete, in dem sich Russland selbst eine heilige Mission zuschrieb, die sich gegen den Westen richtete und von der Annahme einer europäischen Russophobie ausging. Als Ergebnis dieser messianischen Selbsterhöhung verortete sich Russland bereits im neunzehnten Jahrhundert auf einem Sonderweg. Fundament war die Vorstellung von der Dreieinigkeit von Russen, Ukrainern und Belarussen, die Moskau einsetzte, um gegen Emanzipierungstendenzen von Ukrainern vorzugehen. Die Unlösbarkeit der dabei selbst geschaffenen Probleme bezeichnet Schulze Wessel als Aporie des Imperiums.
Um den Verweis auf die Aporien zu verdeutlichen, wäre es möglich gewesen, die Unterscheidung zwischen "russisch" für den Bezug auf einen ethnischen Kern der Nation und "russländisch" für den imperialen Staat beizubehalten. So fällte Zar Alexander III. in den 1880er-Jahren die Entscheidung, eine symbolische Einheit zwischen Herrscher und Volk herzustellen und den Kern des russischen Reichs als ethnisch russisch zu definieren und damit anderen nichtrussischen Gruppen einen marginalen Status zuzuweisen. Schulze Wessel verweist zu Recht auf das Nachwirken des historischen russischen Imperialismus in der Gegenwart, wenn er betont, dass Wladimir Putin 2017 auf der völkerrechtswidrig besetzten Krim ein Denkmal für Alexander III. einweihte.
Die Grundanlage des Buches überzeugt, weil deutlich wird, wie Ende des neunzehnten Jahrhunderts die polnische Frage zunehmend von einer ukrainischen überlagert wird. Zwar hatten die ukrainischen Gouvernements im russischen Reich anders als das polnische Kernland keinen Sonderstatus. Lange bestand ein wichtiger Unterschied zu Polen darin, dass die Anhänger der modernen ukrainischen Nationalbewegung zwar die kulturelle Eigenständigkeit durch die Sprache und Literatur betonten, aber nicht nach Eigenstaatlichkeit strebten. Schulze Wessel zeigt langfristige Parallelen zwischen Polen und Ukrainern, aus denen schon früh Formen der Zusammenarbeit im Ringen um eigene Positionen resultierten. In Galizien, dem Teil der Ukraine, der als Folge der Teilungen zum Habsburger Reich gehörte, kristallisierte sich hingegen die Konkurrenz um kulturelle und politische Vorherrschaft heraus.
Die Stärke von Schulze Wessels Ansatz liegt daran, dass Russlands Entwicklung nie als vorgezeichnet erscheint. Auch das historische Imperium erhielt seine Prägung durch politisch wirksame Entscheidungen. Mit ihnen setzten Historiker, Schriftsteller und Geistliche ebenso wie Zaren, Politiker und Aktivisten das russische Kernland mit einer mehrheitlich russischsprachigen, russisch-orthodoxen Bevölkerung immer wieder neu in ein Verhältnis zu den Gebieten, in denen es keine russisch-orthodoxe Mehrheit gab. Schulze Wessel zeigt anhand einzelner Lebensläufe, zentraler Debatten und der Dilemmata der Herrscher, wie sich diese Frage in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts immer mehr auf das Verhältnis zwischen Nation und Imperium zuspitzte.
Die Geschichte russischer Polen- und Ukrainepolitik war lange ermöglicht durch die enge Abstimmung mit Preußen und später mit dem Deutschen Reich. Der historische Rückblick des Autors bis ins siebzehnte Jahrhundert macht deutlich, warum die deutsch-russische Übereinkunft in Sachen Nord Stream 1 und 2 selbst auf einen "Fluch" zurückgeht. Er kam in der bis 2022 eingeübten Gewohnheit Berlins zum Ausdruck, zentrale europäische Fragen gemeinsam mit Moskau über die Köpfe der Menschen in Polen, der Ukraine, aber auch Belarus und Litauen zu entscheiden.
Statt die These einer linearen Geschichte innereuropäischer Kolonisation an das historische Material anzupassen, zeigt Schulze Wessel, wie dynamisch die unterschiedlichen Konzepte für ein russisches Imperium und im zwanzigsten Jahrhundert für eine föderative Sowjetunion an die politische Gesamtlage angepasst wurden und wie einschneidend die Folgen für die slawische, aber nicht russisch-orthodoxe Bevölkerung waren. Die Aporien russischen Hegemonialstrebens prägen auch noch die jüngste Gegenwart. FELIX ACKERMANN
Martin Schulze Wessel: "Der Fluch des Imperiums". Die Ukraine, Polen und der Irrweg in der russischen Geschichte.
C. H. Beck Verlag, München 2023. 352 S., Abb., geb., 28,- Euro.
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