Mein Lese-Eindruck:
Der Autor versetzt uns in die 50er Jahre, in eine ländliche Kleinstadt in den Appalachen. Das Leben dort ist geprägt von bürgerlich-konservativen Vorstellungen. Dazu gehören auch die sozialen Unterschiede zwischen Arm und Reich, zwischen den Kaufleuten im Ort und den Farmern
im Umland. Aus dieser Diskrepanz bezieht der Roman einen seiner Impulse.
Jacob Hampton, der…mehrMein Lese-Eindruck:
Der Autor versetzt uns in die 50er Jahre, in eine ländliche Kleinstadt in den Appalachen. Das Leben dort ist geprägt von bürgerlich-konservativen Vorstellungen. Dazu gehören auch die sozialen Unterschiede zwischen Arm und Reich, zwischen den Kaufleuten im Ort und den Farmern im Umland. Aus dieser Diskrepanz bezieht der Roman einen seiner Impulse.
Jacob Hampton, der Sohn reicher und dominanter Eltern, überschreitet die Grenzen in zweierlei Hinsicht. Einmal dadurch, dass er an seiner Kinderfreundschaft mit Blackburn Gant festhält, einem Jungen, der durch Polio entstellt wurde und der daher mit Hingabe und Sorgsamkeit der eher einsamen Tätigkeit eines Friedhofwärters nachgeht. Zum anderen widersetzt er sich den konkreten Zukunftsplanungen seiner Eltern und brennt mit Naomi durch, Tochter eines armen Kleinbauern. Und da Jacobs Eltern diese Aufsässigkeit nicht tatenlos hinnehmen wollen, entwickeln sie eine abenteuerliche und nicht recht glaubwürdige Intrige, die langfristig nicht funktionieren kann und auch nicht wird. Dank Blackburn Gant.
So bündeln sich in diesem Roman mehrere Konflikte: ein Generationen-Konflikt, die positiven und negativen Auswirkungen von wirtschaftlich-finanzieller Überlegenheit, soziale Kontrolle, soziale Ausgrenzung von benachteiligten Menschen, das Schicksal von Veteranen des Korea-Kriegs, die ambivalente Liebe von Eltern und vor allem die Frage der Belastbarkeit einer Freundschaft.
Wie Ron Rash das alles erzählt, ist ein Erlebnis. Ron Rash kann einfach wunderbar erzählen, und es ist eine Freude, dass der Verlag ars vivendi endlich eine deutsche Übersetzung herausbringt.
Schon die erste Szene zeigt Rashs Erzählkunst, wenn er Jacobs Angst schildert, wie er als Soldat im Korea-Krieg Wache steht, nachts in der Kälte, nur durch einen Fluss vom Feind getrennt und sich dem plötzlichen Angriff eines Partisanen ausgesetzt sieht. Rash scheut auch nicht davor zurück, die Traumatisierung der heimgekehrten Soldaten zu erzählen.
Seine Figuren sind lebendig, mit Ecken und Kanten. Z. B. die Eltern Jacobs: sie wollen ihrem Sohn mit Enterbung und Betrug ihre eigenen Vorstellungen aufzwingen und bedrohen dazu auch andere Menschen; andererseits aber pflegen sie aufopfernd ihren traumatisierten und schwer verletzten Sohn und helfen anderen Menschen aus finanziellen Engpässen. Auch Naomi ist nicht nur die selbstlos Liebende; sie sieht in der Verbindung mit dem reichen Erben auch die Möglichkeit, endlich ihre Eitelkeit ausleben zu können. Nur Blackburn ist eindeutig gezeichnet, der einzig Aufrechte, der sich nicht auf Dauer korrumpieren lässt. Er ist und bleibt der treue Freund, der sich schließlich auch über Drohungen hinwegsetzt und die Wahrheit buchstäblich ans Licht bringt. Ihm hätten einige Ecken und Kanten auch gutgetan.
Rash erzählt langsam und eindringlich. Jedes Wort ist mit Bedacht gewählt, jeder Satz sitzt. Der reduzierte Stil bringt es mit sich, dass der Leser seine Einschätzung der Figuren ausschließlich aus deren Handeln gewinnt. Dazu verwebt der Autor immer wieder sehr kunstvoll und ohne jeden Bruch die Gegenwart mit der Vergangenheit. Dieses konzentrierte und trotzdem anschauliche Erzählen zieht den Leser so sehr in die Geschichte hinein, dass er manche Unglaubwürdigkeiten und Trivialitäten der Handlung verschmerzen kann.
Es ist mir unbegreiflich, dass ein so begnadeter Erzähler am deutschen Publikum bisher vorbeiging!
4,5/5*