Wer Peru literarisch kennenlernen will, muss Arguedas lesen: Sein Meisterwerk "Die tiefen Flüsse" ist ein interkultureller Bildungsroman, ebenso indianisch wie westlich geprägt. Jahrelang ist Ernesto mit seinem Vater, einem mittellosen Anwalt, von einem Dorf zum nächsten gereist. Dem Kindesalter entwachsen, kommt er schließlich auf ein katholisches Internat in der Provinzhauptstadt Abancay, hoch oben in den Anden. Dort ist zum Beispiel Añuco, der Sohn des verarmten Großgrundbesitzers, der zusammen mit dem Kraftprotz Lleras die jüngeren Schüler malträtiert; Palacitos, ein scheuer, kaum des Spanischen mächtiger Indio; Gerardo, der Sohn des Militärkommandeurs; Ántero, der Ernesto mit der Magie eines Kreisels verzaubert, dessen sphärischer Klang den Schulhof erfüllt und zum letzten Mal unbeschwerte Kindheit vorgaukelt. Denn des Nachts wird derselbe Schulhof zu einem düsteren, unheimlichen Ort, wo sich die schwachsinnige Küchenmagd den älteren Schülern hingibt. Arguedas zeichnet sie als Vorbotin der Katastrophe, die über Abancay und das Internat hereinbricht – und in der allein Ernesto einen kühlen Kopf bewahrt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.11.2019Zwei Füchse, Peru und der Untergang einer Kultur
José María Arguedas letzter Roman
Als sich José María Arguedas am 27. November 1969 eine Kugel in den Kopf jagte, war sein Tod damit noch nicht besiegelt. Fünf Tage kämpfte er zwischen Leben und Tod, bevor er am 2. Dezember starb. Jahre zuvor hatte Arguedas über Selbstmord nachgedacht und vor allem auch über dieses Leben in unmittelbarer Nähe zum Tode geschrieben. Davon zeugt das Tagebuch, das den ersten Teil seines letzten Romans "Der Fuchs von oben und der Fuchs von unten" bildet.
In der deutschsprachigen Literatur gilt Wolfgang Herrndorfs digitales Tagebuch "Arbeit und Struktur" als die eindringlichste literarische Arbeit dieser Art. Im spanischsprachigen Raum sind es die Aufzeichnungen des Peruaners José María Arguedas. Sein letzter Roman geht allerdings nicht vollständig in diesen Aufzeichnungen auf. Vielmehr wird er eng geführt mit der Erzählung vom Fischereistädtchen Chimbote, das unter der aufstrebenden Fischindustrie einen gewaltigen Strukturwandel erlebt.
In der lateinamerikanischen Literatur gilt Arguedas als der Autor, der sich wie kein zweiter mit der Kultur der indigenen Quechuas auseinandergesetzt hat. Im Hauptberuf Ethnologe, verdankt die Wissenschaft ihm zahlreiche Aufschlüsse und Dokumentenfunde über die Kulturen, Rituale und Lebensgewohnheiten vor der Ankunft der spanischen Eroberer.
Aus heutiger Sicht würde man Arguedas als einen Literaten des Hybrids bezeichnen. Ihn faszinierte die Kultur der Quechua, er schrieb aber über die Überlagerung und Verschränkung der indigenen mit der westeuropäischen Kultur, welche Länder wie Peru bis in unsere Gegenwart prägt. "Der Fuchs von oben und der Fuchs von unten" bildet ein eindrückliches Beispiel für diese Arbeitsweise. Der Roman basiert auf einem Mythos der Quechua, der in den Dokumenten des Predigers Francisco de Ávila überliefert wurde. Der Missionar hatte im Übergang zum 17. Jahrhundert die mündlichen Geschichten der indigenen Bevölkerung verschriftlicht, um sie auf diesem Wissen erfolgreicher zum christlichen Glauben bekehren zu können. Arguedas selbst hat den betreffenden Mythos als Erster ins Spanische übersetzt.
Die Geschichte erzählt von zwei Füchsen, höhere, weissagende Wesen, die über zwei Länder herrschen. Das eine oben, das andere unten. Über das eigene Land wissen sie alles, über das des anderen nichts. Und treffen sie sich immer wieder zum Gespräch, um ihr Wissen auszutauschen. Huarichiri, ein junger Quechua, belauscht sie dabei, indem er sich schlafend stellt, und spielt danach sein gewonnenes Wissen erfolgreich aus. Der Fuchs von oben und der Fuchs von unten, das ist das Bild für das Land Peru, das sich einerseits über die Hochebene erstreckt, während es sich andererseits an den Pazifik schmiegt. In der Höhe bereitet sich der tagebuchschreibende Autor auf seinen Tod vor, direkt am Meer erlebt und erleidet Chimbote seinen ökonomisch getriebenen Kulturwandel. Für Arguedas strukturiert die Vorstellung des getrennten Oben und Unten aber auch den eigenen Körper: Die Geistes- und Verstandeskräfte oben, die Sexualtriebe unten. Auch sie wissen nichts vom Land des anderen und müssen miteinander ins Gespräch kommen.
Damit nicht genug. Arguedas ordnet auch die Geschlechtertrennung in dieses Muster ein, und zwar in Anspielung auf die vulgäre Metaphorik von Zorro (Fuchs) und Zorra (Füchsin) als geläufige Metapher für das weibliche Geschlecht wie für Prostituierte. Das ist der Ausgangspunkt für die vielfältigen Hybridbildungen und Überlagerungen dieses Romans, für den Reigen aus Bordell-Besuchen und hochintellektuellen Schriftstellergesprächen ebenso wie die Erzählung vom Niedergang des eigenen Lebens und des kulturellen Umbruchs Perus.
Vor exakt fünfzig Jahren lag Arguedas im Reich zwischen Leben und Tod. Mit "Der Fuchs von oben und der Fuchs von unten", der in einer feinen Übersetzung von Matthias Strobel jetzt erstmals auf Deutsch vorliegt, hat er ein ebenso erstaunliches wie erschütterndes Testament hinterlassen.
CHRISTIAN METZ
José María Arguedas: "Der Fuchs von oben und der Fuchs von unten". Roman.
Aus dem peruanischen Spanisch von Matthias Strobel. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2019. 320 S., br., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
José María Arguedas letzter Roman
Als sich José María Arguedas am 27. November 1969 eine Kugel in den Kopf jagte, war sein Tod damit noch nicht besiegelt. Fünf Tage kämpfte er zwischen Leben und Tod, bevor er am 2. Dezember starb. Jahre zuvor hatte Arguedas über Selbstmord nachgedacht und vor allem auch über dieses Leben in unmittelbarer Nähe zum Tode geschrieben. Davon zeugt das Tagebuch, das den ersten Teil seines letzten Romans "Der Fuchs von oben und der Fuchs von unten" bildet.
In der deutschsprachigen Literatur gilt Wolfgang Herrndorfs digitales Tagebuch "Arbeit und Struktur" als die eindringlichste literarische Arbeit dieser Art. Im spanischsprachigen Raum sind es die Aufzeichnungen des Peruaners José María Arguedas. Sein letzter Roman geht allerdings nicht vollständig in diesen Aufzeichnungen auf. Vielmehr wird er eng geführt mit der Erzählung vom Fischereistädtchen Chimbote, das unter der aufstrebenden Fischindustrie einen gewaltigen Strukturwandel erlebt.
In der lateinamerikanischen Literatur gilt Arguedas als der Autor, der sich wie kein zweiter mit der Kultur der indigenen Quechuas auseinandergesetzt hat. Im Hauptberuf Ethnologe, verdankt die Wissenschaft ihm zahlreiche Aufschlüsse und Dokumentenfunde über die Kulturen, Rituale und Lebensgewohnheiten vor der Ankunft der spanischen Eroberer.
Aus heutiger Sicht würde man Arguedas als einen Literaten des Hybrids bezeichnen. Ihn faszinierte die Kultur der Quechua, er schrieb aber über die Überlagerung und Verschränkung der indigenen mit der westeuropäischen Kultur, welche Länder wie Peru bis in unsere Gegenwart prägt. "Der Fuchs von oben und der Fuchs von unten" bildet ein eindrückliches Beispiel für diese Arbeitsweise. Der Roman basiert auf einem Mythos der Quechua, der in den Dokumenten des Predigers Francisco de Ávila überliefert wurde. Der Missionar hatte im Übergang zum 17. Jahrhundert die mündlichen Geschichten der indigenen Bevölkerung verschriftlicht, um sie auf diesem Wissen erfolgreicher zum christlichen Glauben bekehren zu können. Arguedas selbst hat den betreffenden Mythos als Erster ins Spanische übersetzt.
Die Geschichte erzählt von zwei Füchsen, höhere, weissagende Wesen, die über zwei Länder herrschen. Das eine oben, das andere unten. Über das eigene Land wissen sie alles, über das des anderen nichts. Und treffen sie sich immer wieder zum Gespräch, um ihr Wissen auszutauschen. Huarichiri, ein junger Quechua, belauscht sie dabei, indem er sich schlafend stellt, und spielt danach sein gewonnenes Wissen erfolgreich aus. Der Fuchs von oben und der Fuchs von unten, das ist das Bild für das Land Peru, das sich einerseits über die Hochebene erstreckt, während es sich andererseits an den Pazifik schmiegt. In der Höhe bereitet sich der tagebuchschreibende Autor auf seinen Tod vor, direkt am Meer erlebt und erleidet Chimbote seinen ökonomisch getriebenen Kulturwandel. Für Arguedas strukturiert die Vorstellung des getrennten Oben und Unten aber auch den eigenen Körper: Die Geistes- und Verstandeskräfte oben, die Sexualtriebe unten. Auch sie wissen nichts vom Land des anderen und müssen miteinander ins Gespräch kommen.
Damit nicht genug. Arguedas ordnet auch die Geschlechtertrennung in dieses Muster ein, und zwar in Anspielung auf die vulgäre Metaphorik von Zorro (Fuchs) und Zorra (Füchsin) als geläufige Metapher für das weibliche Geschlecht wie für Prostituierte. Das ist der Ausgangspunkt für die vielfältigen Hybridbildungen und Überlagerungen dieses Romans, für den Reigen aus Bordell-Besuchen und hochintellektuellen Schriftstellergesprächen ebenso wie die Erzählung vom Niedergang des eigenen Lebens und des kulturellen Umbruchs Perus.
Vor exakt fünfzig Jahren lag Arguedas im Reich zwischen Leben und Tod. Mit "Der Fuchs von oben und der Fuchs von unten", der in einer feinen Übersetzung von Matthias Strobel jetzt erstmals auf Deutsch vorliegt, hat er ein ebenso erstaunliches wie erschütterndes Testament hinterlassen.
CHRISTIAN METZ
José María Arguedas: "Der Fuchs von oben und der Fuchs von unten". Roman.
Aus dem peruanischen Spanisch von Matthias Strobel. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2019. 320 S., br., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main