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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Ned Beaumans "Der gemeine Lumpfisch" ist ein düsterer Blick in die Zukunft - und ein großer Spaß
Eine Wespe, die ihr Ei in einer Spinne ablegt, welche daraufhin zombiehaft ferngesteuertes Verhalten zeigt und ein ungewöhnliches Netz aus wenigen, dafür besonders stabilen Strängen webt, die die aus dem Hinterleib der sterbenden Spinne kriechende Wespenlarve zum Kokon umbaut: Das klingt nicht wie das Tier, an dem sich überzeugend begründen ließe, dass das Artensterben dringend aufgehalten werden muss. Die Beweisführung der Intelligenzbegutachterin Karin Resaint - solche Berufe gibt es in Ned Beaumans "Der gemeine Lumpfisch" -, warum gerade ein so bizarr- gruselig anmutendes Produkt der Evolution einen Eigenwert hat und sich der Mensch mit jeder ausgerotteten Art am Universum vergeht, ist allein schon ein Grund, diesen Roman zu lesen.
Karin Resaint ist die einzige widerständige Figur in der sehr wiedererkennbaren Welt einer nahen Zukunft, in der alles eingetreten ist, was im Moment noch düstere Prognose ist: Die Erde hat sich um über zwei Grad erwärmt, Brände, Überschwemmungen, Zoonosen sind normal geworden, Nahrungsmittel wie Kaffee dagegen selten. Das in unserer realen Welt von 2023 im Schatten des Klimawandels stehende Artensterben ist im Aufmerksamkeitslevel nach oben geschnellt, und wie mühelos Ned Beauman das plausibel macht, zeigt, wie sehr er die Krisenlagen unserer Tage durchdrungen und weitergedacht hat. Die Chinesen haben versehentlich den Großen Panda ausgerottet und der Verlust dieses pelzigen Lieblingstiers hat die Menschheit dann doch aufgeschreckt. Konferenzen wurden einberufen, eine Weltkommission zur Bekämpfung des Artensterbens eingesetzt. Zwölf Jahre später hat sich der Markt die guten Vorsätze einverleibt und als "Extinktionsindustrie" wieder ausgespuckt. Der Ablasshandel per "Auslöschungszertfikat" hatte - der CO2-Emissionshandel lässt grüßen - nie den intendierten Effekt. Global agierende Unternehmen zahlen bereitwillig den Preis, den es hat, für das Verschwinden einer Art verantwortlich zu sein. Überhaupt wird das mit dem Aussterben nicht mehr so eng gesehen, es gibt schließlich Biobanken mit Tier-DNA für eine Rückkehr, wenn die Technik soweit ist.
Etwas unangenehm, weil teuer, wird es für die Unternehmen nur, wenn sie eine besonders intelligente Art verschwinden lassen. Das festzustellen ist der Job der Biologin Karin Resaint, die überzeugt ist, im Zuge der Überprüfung eines Projekts zum Abbau von Ferromanganknollen eine der intelligentesten Spezies überhaupt entdeckt zu haben: den Gemeinen Lumpfisch, einen dicklippigen, etwas fragend dreinschauenden Vertreter der Familie der Seehasen. Dummerweise zerstören falsch programmierte Roboter, die die Knollen vom Meeresgrund sammeln, dessen letztes Habitat in der Ostsee, bevor Resaint ihr Forschungsergebnis publik machen kann. Der Umweltverträglichkeitskoordinator der verantwortlichen Tiefseebergbau-Firma wiederum, ein Mittvierziger namens Mark Halyard, hat einen ganz anderen Grund, am Fortleben des Fisches interessiert zu sein. Der hat mit einem Bereicherungsversuch seinerseits an den Auslöschungszertifikaten zu tun, der Gefahr läuft aufzufliegen.
Sie will den Fisch retten, er seinen Kopf, das ist der Ausgangspunkt für einen rasanten Roadtrip durch Nordeuropa. Stationen sind ein mit bedrohten Tierarten vollgestopftes Naturschutzgebiet in Estland, dessen Inhaber einen lukrativen Handel mit Auslöschungszertifikaten betreiben, ein finnisches Lager für Gastarbeiter aus einem Land, das nur noch Hermit Kingdom genannt wird, seit es sich durch seinen Austritt aus der EU und seine Abschottungspolitik in eine schlechte wirtschaftliche Lage gebracht hat, und eine künstliche Insel, auf der Wohlhabende komfortabel leben und Biotechnologiefirmen unbeeinträchtigt von staatlichen Regularien forschen.
Der achtundreißigjährige Brite Ned Beauman, der mit seinem Roman "Egon Loesers erstaunlicher Mechanismus zur beinahe augenblicklichen Beförderung eines Menschen von Ort zu Ort" für den Booker Prize nominiert war, hat die Gegenwart so sorgfältig studiert, dass sie weich in sein dystopisches Morgen gleitet. Darin ist Realität, was an technologieverliebten Problemlösungsideen heute so herumgeistert. Projekte zur baldigen Kolonisierung der Meere sind en vogue, praktisch dabei auch, dass man sich auf schwimmenden Inseln nicht um den steigenden Meeresspiegel sorgen muss. Künstlich erzeugte Meerwassernebel, die Wolken so beeinflussen, dass sie mehr Sonnenlicht reflektieren, gehören zum Repertoire des Geoengineering, im Roman treiben entsprechende Konstruktionen als riesige Wracks über die Meere, sie haben dann doch eher Stürme als Wolken produziert. Beauman hat seine KI-getriebene Hightech-Welt mit prallen Details angereichert, für die er verblüffende Bilder findet. Einmal gibt es aus künstlichem Gewebe erzeugtes und mit einer Diamantklinge hauchdünn gesäbeltes Carpaccio - "es war, als wollte man die Oberflächenspannung von einem Glas Wasser essen".
Entlang des gut geschnürten Plots entfaltet sich die wohl tiefgreifendste Auseinandersetzung mit der moralischen Dimension des Artensterbens, die es in einem Roman in letzter Zeit gab. Der bequeme Allerweltstyp Halyard, dessen kriminelle Energie sich sympathischerweise aus der Sehnsucht nach den unbezahlbar gewordenen Nahrungsmitteln seiner Kindheit speist - das müssten die Zwanzigerjahre des 21. Jahrhunderts gewesen sein -, lässt sich von der kühl-entschlossenen Karin Resaint gerne herausfordern, die mit einem verzweifelten Plan den Menschen die Augen öffnen will.
"Der gemeine Lumpfisch" ist zugleich ein großer Spaß und von tiefer Melancholie, die sich wie ein Schatten über die Sommerhitze legen wird, in der man dieses Buch an einem trägen Urlaubstag lesen könnte. Aufgehellt nur von dem Gefühl, dass, solange Autoren wie Beauman uns unsere selbstzerstörerischen Umtriebe so klug vor Augen führen, die Hoffnung nicht verloren ist. PETRA AHNE
Ned Beauman:
"Der gemeine Lumpfisch". Roman.
Aus dem Englischen von Marion Hertle. Liebeskind, München 2023. 368 S., geb., 24,- Euro.
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