ERZÄHLUNGEN DES INTERNATIONAL AUSGEZEICHNETEN AUTORS, VERLEGERS UND ÜBERSETZERS In den Geschichten von MICHAEL KRÜGER geht es nicht ganz geheuer zu: Ein Mann hinter dem Fenster bildet sich ein, alle Menschen seines Viertels am Gang und an ihren Gesten zu erkennen - bis auf einen, der regelmäßig im Zwielicht kommt und sich beharrlich den gierigen Blicken des Beobachters entzieht. Dem Wanderer in den Schweizer Bergen ergeht es nicht besser - nicht genug, dass er auf Spuren von Wölfen stößt, hat er bald einen Weggenossen, der aus dem Nichts auftaucht und versucht, den einsamen Spaziergänger in seine Gewalt zu bringen. Und auch das Mädchen auf der Haustreppe erscheint ohne Vorwarnung und zieht in das Leben des perplexen Bewohners ein, in dem kein Stein auf dem anderen bleibt. HERZBEWEGENDE KOMIK UND SANFTE MELANCHOLIE So frohgemut und selbstsicher die Figuren in Michael Krügers Erzählungen auftreten, scheitern sie letztlich an ihrem Glauben, die Welt sei eine geordnete. Sie alle finden sich früher oder später an dem Punkt wieder, an dem die Wirklichkeit den Blick freigibt auf ihre Bodenlosigkeit. Was dann zum Vorschein kommt, bringt Krüger atmosphärisch dicht zur Sprache. Mit herzbewegender Komik und sanfter Melancholie erzählt er von Zuwendung und Abkehr, von Widersprüchen und Harmonie, von Nähe und Distanz. Und über allem schweift der Blick eines unbestechlichen Beobachters, der auch die hintersten Winkel der Seele durchdringt - und den Leser direkt in seinem Innersten berührt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.08.2015Ist Vergangenheit ohne Zukunft denkbar?
Ironisch-melancholisch: Michael Krüger befasst sich in seinen neuen Erzählungen mit Grundsatzfragen
Geplaudert wird hier nicht. Michael Krüger, als Lyriker und Essayist ein Meister dichter Formen, erweist sich auch in seinem ersten eigenständigen Erzählband als nachdenklicher, konzentrierter, skeptischer Autor. Dreizehn Geschichten, alle aus der Ich-Perspektive gestaltet, handeln von den unterschiedlichsten Themen, stimmen aber in einem Kern existentieller Fragen überein: Schreiben als Lebensform, Altern und Tod, Identität, Einsamkeit und Erinnerung, die Undurchschaubarkeit des Menschen.
Krüger erzählt sparsam, direkt, gern mit offenem Ende. Kürze liegt ihm. "Post" ist etwa der Titel eines kaum zwei Seiten umfassenden Textes, der Rätsel aufgibt: Ein Mann erhält korrekt adressierte, aber nicht unterzeichnete Briefe in großer Zahl, die ihn mit vielen fremden Namen ansprechen und zugleich intimstes Wissen über sein Leben verraten. Woher kommen sie und warum? Aus Träumen, dem Unterbewussten, der Phantasie? Dann ein kafkaesker Schluss: "Dennoch muss ich mich damit abfinden, dass nur ich der Briefschreiber sein kann." Oder die ebenso kurze Legende "Zukunft", die sich in einen Satz fassen lässt: "Sie ging hinaus und ward nicht mehr gesehen." "Sie", eine junge Frau, behauptet in einer Runde, Vergangenheit ohne Zukunft sei nicht denkbar. Der Erzähler entgegnet, er könne sich eine Zukunft mit ihr vorstellen, doch angesichts seines Alters entspreche der dann wenig Vergangenheit. Er sieht "sie" entschwinden, erblickt sie am Ende seines Lebens aber wieder - winkend. Schlusssatz: "Mit letzter Kraft hob ich die Hand und winkte zurück."
Andere Geschichten sind weniger rätselhaft, keiner fehlt es aber an Tiefe. Ihre Protagonisten sind in aller Regel Suchende. Durchaus als in Georg Lukács' Sinn moderne, also problematische Romanfiguren leiden sie alle an einer gewissen Verunsicherung, Haltlosigkeit, Unentschiedenheit, Orientierungsschwäche, mangelnder Tatkraft in Bezug auf ihre eigenen Geschicke. Sie tun wenig und sinnieren viel - vor allem begeben sie sich gern auf eine Suche nach der verlorenen Zeit, geraten in Abgründe ihrer Familiengeschichten, scheitern an der Undurchschaubarkeit anderer, besonders von Frauen, fahren ins Beliebige hinaus und überlassen lieber Trampern die Bestimmung ihres Reiseziels. Kafkas Aphorismus "Wer sucht, findet nicht, aber wer nicht sucht, wird gefunden", kommt einem da mehr als einmal in den Sinn.
Besonders erhellend sind einige der Schriftstellerfiguren. In der Erzählung "Aus dem Leben eines Schriftstellers" ist es ein über siebzigjähriger Autor, der seinen größten Erfolg - "Der Patriarch", erschienen vor vier Jahrzehnten und inzwischen Schullektüre - neu fassen soll. Statt aber diese Lieblingsidee seines Verlegers zu verwirklichen, lenkt sich dieser "Arbeiter des Kopfes" mit Essays und Nachworten ab. Ansonsten beschäftigt er sich mit seiner Lektorin, die in sein Gartenhaus gezogen ist und über die Lektüre seiner Tagebücher immer tiefer in sein Leben vordringt. Diesem einsamen Grübler mit ausgeprägter Abneigung gegen Theorie, der "allergisch gegen Originalität" ist, vermittelt die junge Frau so etwas wie einen Weltbezug. Vor allem in dieser Geschichte voll feiner Ironie und sanfter Melancholie ist der Ton Michael Krügers, wie man ihn aus Reden und Laudationes kennt, am stärksten ausgeprägt. Als Leiter des Hanser Verlags kam er ein Leben lang täglich mit allen möglichen Typen von Literaten zusammen. Ein Wort seines erzählerisch porträtierten Autors wirkt da wie ein Aperçu, das alle denkbaren Schrullen und Empfindlichkeiten parodiert: "Ein Schriftsteller, der nicht schreibt, schien mir nun endgültig das höchste Ziel des Schreibens zu sein."
ALEXANDER KOSENINA.
Michael Krüger: "Der Gott hinter dem Fenster".
Erzählungen.
Haymon Verlag, Innsbruck, Wien 2015. 224 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ironisch-melancholisch: Michael Krüger befasst sich in seinen neuen Erzählungen mit Grundsatzfragen
Geplaudert wird hier nicht. Michael Krüger, als Lyriker und Essayist ein Meister dichter Formen, erweist sich auch in seinem ersten eigenständigen Erzählband als nachdenklicher, konzentrierter, skeptischer Autor. Dreizehn Geschichten, alle aus der Ich-Perspektive gestaltet, handeln von den unterschiedlichsten Themen, stimmen aber in einem Kern existentieller Fragen überein: Schreiben als Lebensform, Altern und Tod, Identität, Einsamkeit und Erinnerung, die Undurchschaubarkeit des Menschen.
Krüger erzählt sparsam, direkt, gern mit offenem Ende. Kürze liegt ihm. "Post" ist etwa der Titel eines kaum zwei Seiten umfassenden Textes, der Rätsel aufgibt: Ein Mann erhält korrekt adressierte, aber nicht unterzeichnete Briefe in großer Zahl, die ihn mit vielen fremden Namen ansprechen und zugleich intimstes Wissen über sein Leben verraten. Woher kommen sie und warum? Aus Träumen, dem Unterbewussten, der Phantasie? Dann ein kafkaesker Schluss: "Dennoch muss ich mich damit abfinden, dass nur ich der Briefschreiber sein kann." Oder die ebenso kurze Legende "Zukunft", die sich in einen Satz fassen lässt: "Sie ging hinaus und ward nicht mehr gesehen." "Sie", eine junge Frau, behauptet in einer Runde, Vergangenheit ohne Zukunft sei nicht denkbar. Der Erzähler entgegnet, er könne sich eine Zukunft mit ihr vorstellen, doch angesichts seines Alters entspreche der dann wenig Vergangenheit. Er sieht "sie" entschwinden, erblickt sie am Ende seines Lebens aber wieder - winkend. Schlusssatz: "Mit letzter Kraft hob ich die Hand und winkte zurück."
Andere Geschichten sind weniger rätselhaft, keiner fehlt es aber an Tiefe. Ihre Protagonisten sind in aller Regel Suchende. Durchaus als in Georg Lukács' Sinn moderne, also problematische Romanfiguren leiden sie alle an einer gewissen Verunsicherung, Haltlosigkeit, Unentschiedenheit, Orientierungsschwäche, mangelnder Tatkraft in Bezug auf ihre eigenen Geschicke. Sie tun wenig und sinnieren viel - vor allem begeben sie sich gern auf eine Suche nach der verlorenen Zeit, geraten in Abgründe ihrer Familiengeschichten, scheitern an der Undurchschaubarkeit anderer, besonders von Frauen, fahren ins Beliebige hinaus und überlassen lieber Trampern die Bestimmung ihres Reiseziels. Kafkas Aphorismus "Wer sucht, findet nicht, aber wer nicht sucht, wird gefunden", kommt einem da mehr als einmal in den Sinn.
Besonders erhellend sind einige der Schriftstellerfiguren. In der Erzählung "Aus dem Leben eines Schriftstellers" ist es ein über siebzigjähriger Autor, der seinen größten Erfolg - "Der Patriarch", erschienen vor vier Jahrzehnten und inzwischen Schullektüre - neu fassen soll. Statt aber diese Lieblingsidee seines Verlegers zu verwirklichen, lenkt sich dieser "Arbeiter des Kopfes" mit Essays und Nachworten ab. Ansonsten beschäftigt er sich mit seiner Lektorin, die in sein Gartenhaus gezogen ist und über die Lektüre seiner Tagebücher immer tiefer in sein Leben vordringt. Diesem einsamen Grübler mit ausgeprägter Abneigung gegen Theorie, der "allergisch gegen Originalität" ist, vermittelt die junge Frau so etwas wie einen Weltbezug. Vor allem in dieser Geschichte voll feiner Ironie und sanfter Melancholie ist der Ton Michael Krügers, wie man ihn aus Reden und Laudationes kennt, am stärksten ausgeprägt. Als Leiter des Hanser Verlags kam er ein Leben lang täglich mit allen möglichen Typen von Literaten zusammen. Ein Wort seines erzählerisch porträtierten Autors wirkt da wie ein Aperçu, das alle denkbaren Schrullen und Empfindlichkeiten parodiert: "Ein Schriftsteller, der nicht schreibt, schien mir nun endgültig das höchste Ziel des Schreibens zu sein."
ALEXANDER KOSENINA.
Michael Krüger: "Der Gott hinter dem Fenster".
Erzählungen.
Haymon Verlag, Innsbruck, Wien 2015. 224 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Auch wenn die Figuren dieses tragikomischen Erzählbandes allesamt Melancholiker sind, hat Rezensent Roman Bucheli Michael Krügers "Gott hinter dem Fenster" ausgesprochen gern gelesen. Mit Witz, Ironie und Sarkasmus erzähle der Autor von alten, müden und misanthropischen Männern, meist Schriftstellern, die sich ihn ihrem Kulturpessimismus ergehen, informiert der Kritiker, der insbesondere bewundert, wie brillant Krüger die Grenze zwischen Autobiografie und Fiktion auslotet. Dieses Buch ist eine ebenso einfühlsame wie amüsante Anatomie des Melancholikers, schließt der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.11.2015Zurück zu Pascal
Michael Krüger zieht in seinen Erzählungen parodistische Polterregister. Aber neben dem
Tonikum der Wut finden sich auch Liebeserklärungen an hellsichtige Idioten und komische Heilige
VON CHRISTOPH BARTMANN
Was verbindet diese zurückgezogen lebenden älteren Herren namens „Ich“ in Michael Krügers Erzählungsband? Es sind Ehemalige des Lebens, Gegenwartsskeptiker, Fortschrittsverweigerer, Geistesmenschen einer älteren Schule, die dem Hier und Heute nichts abgewinnen können – oder die das zumindest behaupten. Fast alle haben mit Büchern und Literatur zu tun gehabt, manchmal tauchen Klarnamen aus der Vergangenheit auf, Peter Rühmkorf, Wolfgang Koeppen oder Wolf Vostell. Sie haben als Katalogtexter, als Korrektor oder auch als „Geschäftsführer eines Zeitschriftenvertriebs“ ein Auskommen gehabt, aber nun sind sie aus der Welt gefallen, die von ihnen nichts mehr wissen will und sie nicht von ihnen.
Wenn hier ab und zu in altertümlicher Formulierung von Dingen wie „EDV“ oder „Privatfernsehen“ die Rede ist, dann soll damit nur angedeutet sein, dass die Ich-Figuren mit solchen Phänomenen nicht belästigt werden wollen. Einmal, in der ersten Erzählung, wirft der Erzähler „mit innerer Freude“ seinen Computer „samt Festplatte und Drucker“ aus dem Fenster. Nachdem er das Gerät eine Weile im Regen hat einweichen lassen, hat er es „zwischen zwei dicken Placken Gras in der Bio-Mülltonne versenkt“. „Und mit welchem inneren Jubel bin ich zu meinem Pascal zurückgekehrt!“, heißt es dann.
Zu Blaise Pascal natürlich und nicht etwa zu der Programmiersprache gleichen Namens. Das ist in seinem geistesaristokratischen Weltverdruss zweifellos dick aufgetragen und kann nicht immer ernst gemeint sein. Laufend quellen hier Briefkästen über von unerwünschten Briefsendungen und letzten Postkarten, Ehefrauen verschwinden ohne Ankündigung, im Stammlokal werden Königsberger Klopse serviert, und sechs Kinder entsagen eines nach dem anderen der Hochkultur und wandern ab in Kommerz und Management. Als Kulturkritik trägt das nicht besonders weit, aber trägt uns beispielsweise die Weltverachtung von Thomas Bernhard kulturkritisch irgendwohin?
Mit Bernhard verbindet Krügers Erzählungen die Freude an einer Rhetorik der Verdammung. Eine Zeitungslektüre verwandelt sich dann zügig in eine Höllenfahrt, nichts als Krisen, Entführungen und Verschleppungen, und im Theater eine andauernde „Schlammschlacht“. Überhaupt das Theater: Sollte man nicht ein Stück über Müll schreiben, geht es einer der Ich-Figuren durch den Kopf. „Müll erfreut sich auf der gegenwärtigen Bühne großer Beliebtheit.“ In seinem Müllstück freilich „müsste auf der Bühne ein großer Müllhaufen liegen, ein wirklich gigantischer, stinkender Müllberg, und kein Vorgang würde heruntergehen“.
Manchmal steigern sich die Erzähler auch ohne konkreten Gegenwartsanlass in ein parodistisches Polterregister, so etwa wenn die Bevölkerung der Provinz Bozen als ein „Menschenschlag“ geschildert wird, „der aus abgrundtiefer Verzweiflung zu den brutalsten Ausfällen neigt“. Das ist, nach Geografie und Wortwahl, reinster Bernhard, und man sieht hier und anderswo, dass es dem ehemaligen Hanser-Verleger Krüger weniger um die konkreten Objekte der Erregung geht als darum, sich die Wut als Tonikum literarisch zunutze zu machen und sie zu kontrastieren mit zarten, lyrischen Momenten. Das sind dann die Momente, in denen die Figuren sich von der Menschenwelt absondern und in die Betrachtung der Natur versenken. Ein Apfelbaum etwa, Bäume überhaupt, auch sie sind Gegenstände der Melancholie, aber es gibt an ihnen wenigstens nichts auszusetzen.
Eine forcierte, immer auch humoristische Endzeitlichkeit durchzieht diese Geschichten, in denen, in nur leichten Variationen, Abschieds-Szenarien entfaltet werden. „Der Gott hinter dem Fenster“ heißt Krügers Buch, und der Titel beschreibt auch die Versuchsanordnung dieser Erzählungen: hinter dem eigenen Fenster bleiben, aus Krankheits- und Verdrussgründen, mit niemandem reden, Anrufe nicht beantworten, allenfalls Musik hören („Ich darf behaupten, alle bedeutenden Stücke der Musik schon mehrere Male gehört zu haben.“), das sind die Voraussetzungen für die „göttliche Fähigkeit“, das Leben der Menschen da draußen zu lesen wie ein Buch, oder mehr noch, aus den so gelesenen Gedanken und Gefühlen das ideale, alles umfassende, nie geschriebene Buch zu schreiben, das „Buch meiner Einbildungskraft“. Nur einen Menschen, sagt der Erzähler, könne er nicht lesen, auch er ein älterer Herr, mit schütterem Haar, ein „Unglücksvogel“. Es ist der Baumumarmer. „Als hätte er gerade eine Wüste durchquert, lässt er sich gleichsam in die Arme des Baumes fallen, wobei er seine Hände mit den langen, mageren Fingern seitlich über die Borke des Baumes wandern lässt, als wollte er ihn, abtastend erkennen.“
An solchen liebenden Idioten und komischen Heiligen findet Krügers Einbildungskraft ihre Bestimmung. Den Gott hinter dem Fenster stellt der Baumumarmer auf eine ernste Probe: Alles und alle glaubt er lesen zu können, was aber gibt ihm dieser Narr zu deuten? Er bringe seine „Theorie über die Durchschaubarkeit des Menschen“ durcheinander, sagt der Erzähler. Er lehre ihn Bescheidenheit, man könnte auch sagen, unverstandene, unabgeschlossene Diesseitigkeit. Solange man sich auf die Ereignisse vor dem Fenster keinen finalen Reim machen kann, lohnt sich für die Götter dahinter die Beobachtung ihrer Geschöpfe.
CHRISTOPH BARTMANN
Michael Krüger: Der Gott hinter dem Fenster. Erzählungen. Haymon Verlag, Innsbruck 2015. 224 Seiten, 19,90 Euro. E-Book 9,99 Euro.
Das Stammlokal serviert
Königsberger Klopse, und die
Kinder entsagen der Hochkultur
Neustart: Im ersten Kapitel wirft der Erzähler „mit innerer Freude“ seinen Computer „samt Festplatte und Drucker“ aus dem Fenster.
Foto: imago
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Michael Krüger zieht in seinen Erzählungen parodistische Polterregister. Aber neben dem
Tonikum der Wut finden sich auch Liebeserklärungen an hellsichtige Idioten und komische Heilige
VON CHRISTOPH BARTMANN
Was verbindet diese zurückgezogen lebenden älteren Herren namens „Ich“ in Michael Krügers Erzählungsband? Es sind Ehemalige des Lebens, Gegenwartsskeptiker, Fortschrittsverweigerer, Geistesmenschen einer älteren Schule, die dem Hier und Heute nichts abgewinnen können – oder die das zumindest behaupten. Fast alle haben mit Büchern und Literatur zu tun gehabt, manchmal tauchen Klarnamen aus der Vergangenheit auf, Peter Rühmkorf, Wolfgang Koeppen oder Wolf Vostell. Sie haben als Katalogtexter, als Korrektor oder auch als „Geschäftsführer eines Zeitschriftenvertriebs“ ein Auskommen gehabt, aber nun sind sie aus der Welt gefallen, die von ihnen nichts mehr wissen will und sie nicht von ihnen.
Wenn hier ab und zu in altertümlicher Formulierung von Dingen wie „EDV“ oder „Privatfernsehen“ die Rede ist, dann soll damit nur angedeutet sein, dass die Ich-Figuren mit solchen Phänomenen nicht belästigt werden wollen. Einmal, in der ersten Erzählung, wirft der Erzähler „mit innerer Freude“ seinen Computer „samt Festplatte und Drucker“ aus dem Fenster. Nachdem er das Gerät eine Weile im Regen hat einweichen lassen, hat er es „zwischen zwei dicken Placken Gras in der Bio-Mülltonne versenkt“. „Und mit welchem inneren Jubel bin ich zu meinem Pascal zurückgekehrt!“, heißt es dann.
Zu Blaise Pascal natürlich und nicht etwa zu der Programmiersprache gleichen Namens. Das ist in seinem geistesaristokratischen Weltverdruss zweifellos dick aufgetragen und kann nicht immer ernst gemeint sein. Laufend quellen hier Briefkästen über von unerwünschten Briefsendungen und letzten Postkarten, Ehefrauen verschwinden ohne Ankündigung, im Stammlokal werden Königsberger Klopse serviert, und sechs Kinder entsagen eines nach dem anderen der Hochkultur und wandern ab in Kommerz und Management. Als Kulturkritik trägt das nicht besonders weit, aber trägt uns beispielsweise die Weltverachtung von Thomas Bernhard kulturkritisch irgendwohin?
Mit Bernhard verbindet Krügers Erzählungen die Freude an einer Rhetorik der Verdammung. Eine Zeitungslektüre verwandelt sich dann zügig in eine Höllenfahrt, nichts als Krisen, Entführungen und Verschleppungen, und im Theater eine andauernde „Schlammschlacht“. Überhaupt das Theater: Sollte man nicht ein Stück über Müll schreiben, geht es einer der Ich-Figuren durch den Kopf. „Müll erfreut sich auf der gegenwärtigen Bühne großer Beliebtheit.“ In seinem Müllstück freilich „müsste auf der Bühne ein großer Müllhaufen liegen, ein wirklich gigantischer, stinkender Müllberg, und kein Vorgang würde heruntergehen“.
Manchmal steigern sich die Erzähler auch ohne konkreten Gegenwartsanlass in ein parodistisches Polterregister, so etwa wenn die Bevölkerung der Provinz Bozen als ein „Menschenschlag“ geschildert wird, „der aus abgrundtiefer Verzweiflung zu den brutalsten Ausfällen neigt“. Das ist, nach Geografie und Wortwahl, reinster Bernhard, und man sieht hier und anderswo, dass es dem ehemaligen Hanser-Verleger Krüger weniger um die konkreten Objekte der Erregung geht als darum, sich die Wut als Tonikum literarisch zunutze zu machen und sie zu kontrastieren mit zarten, lyrischen Momenten. Das sind dann die Momente, in denen die Figuren sich von der Menschenwelt absondern und in die Betrachtung der Natur versenken. Ein Apfelbaum etwa, Bäume überhaupt, auch sie sind Gegenstände der Melancholie, aber es gibt an ihnen wenigstens nichts auszusetzen.
Eine forcierte, immer auch humoristische Endzeitlichkeit durchzieht diese Geschichten, in denen, in nur leichten Variationen, Abschieds-Szenarien entfaltet werden. „Der Gott hinter dem Fenster“ heißt Krügers Buch, und der Titel beschreibt auch die Versuchsanordnung dieser Erzählungen: hinter dem eigenen Fenster bleiben, aus Krankheits- und Verdrussgründen, mit niemandem reden, Anrufe nicht beantworten, allenfalls Musik hören („Ich darf behaupten, alle bedeutenden Stücke der Musik schon mehrere Male gehört zu haben.“), das sind die Voraussetzungen für die „göttliche Fähigkeit“, das Leben der Menschen da draußen zu lesen wie ein Buch, oder mehr noch, aus den so gelesenen Gedanken und Gefühlen das ideale, alles umfassende, nie geschriebene Buch zu schreiben, das „Buch meiner Einbildungskraft“. Nur einen Menschen, sagt der Erzähler, könne er nicht lesen, auch er ein älterer Herr, mit schütterem Haar, ein „Unglücksvogel“. Es ist der Baumumarmer. „Als hätte er gerade eine Wüste durchquert, lässt er sich gleichsam in die Arme des Baumes fallen, wobei er seine Hände mit den langen, mageren Fingern seitlich über die Borke des Baumes wandern lässt, als wollte er ihn, abtastend erkennen.“
An solchen liebenden Idioten und komischen Heiligen findet Krügers Einbildungskraft ihre Bestimmung. Den Gott hinter dem Fenster stellt der Baumumarmer auf eine ernste Probe: Alles und alle glaubt er lesen zu können, was aber gibt ihm dieser Narr zu deuten? Er bringe seine „Theorie über die Durchschaubarkeit des Menschen“ durcheinander, sagt der Erzähler. Er lehre ihn Bescheidenheit, man könnte auch sagen, unverstandene, unabgeschlossene Diesseitigkeit. Solange man sich auf die Ereignisse vor dem Fenster keinen finalen Reim machen kann, lohnt sich für die Götter dahinter die Beobachtung ihrer Geschöpfe.
CHRISTOPH BARTMANN
Michael Krüger: Der Gott hinter dem Fenster. Erzählungen. Haymon Verlag, Innsbruck 2015. 224 Seiten, 19,90 Euro. E-Book 9,99 Euro.
Das Stammlokal serviert
Königsberger Klopse, und die
Kinder entsagen der Hochkultur
Neustart: Im ersten Kapitel wirft der Erzähler „mit innerer Freude“ seinen Computer „samt Festplatte und Drucker“ aus dem Fenster.
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"Michael Krüger arrangiert Tempi und die Stimmungen wie ein Komponist, der ein Andante mit einem Presto unterbricht, der hellen Witz mit Schwermut mischt." DIE ZEIT, Ulrich Greiner, 14.01.2016 "Michael Krüger, als Lyriker und Essayist ein Meister dichter Formen, erweist sich auch in seinem ersten eigenständigen Erzählband als nachdenklicher, konzentrierter, skeptischer Autor." FAZ, Alexander Kosenina "zarte, lyrische Momente" Süddeutsche Zeitung, Christoph Bartmann "Da schreibt sich einer die Gespenster vom Leibe, indem er sie mit ebenso zärtlicher Empathie schildert, wie er sie spöttisch dem Gelächter preisgibt. Keiner kennt die Anatomie der Melancholiker so gut wie der Melancholiker selber." NZZ, Roman Bucheli "schöne, unaufdringliche, bewundernswert souverän in Stil und Tonfall erzählte und bei aller melancholischen Grundierung durchaus vergnüglich zu lesende Geschichten, die Elegie mit Komik paaren" Ö1, Günter Kaindlstorfer "unaufgeregt, sprach- und gefühlsspielerisch" Nürnberger Nachrichten, Bernd Noack "ein wunderbarer Erzähler" Passauer Neue Presse, Mirja-Leena Zauner "Jedes Wort ist so behutsam gewogen und gesetzt. Alles trifft ins Schwarze, ohne darauf gezielt zu haben." Oberösterreichische Nachrichten, Peter Grubmüller