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Pierre Wabush ist verkatert. Nicht bloß vom Suff, den Pillen, der heißen Nacht, an die er sich nur vage erinnert. Ihn macht das Reservat fertig, sein Zuhause: "Kitchike hat es drauf, alles Schöne und Gute kaputt zu machen." Keine Perspektive - was ebenso am Rassismus der Weißen liegt wie an der Korruption der eigenen Führungsriege. Das muss anders werden, und er muss den Hintern hochkriegen. Dabei erscheint Kitchike zunächst wie eine ganz normale Kleinstadt. Jeder kennt jeden, man tratscht, man wurschtelt sich durch, man lebt. Wenn Lydia, die die örtliche Tankstelle schmeißt, sonntags nach dem…mehr

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Produktbeschreibung
Pierre Wabush ist verkatert. Nicht bloß vom Suff, den Pillen, der heißen Nacht, an die er sich nur vage erinnert. Ihn macht das Reservat fertig, sein Zuhause: "Kitchike hat es drauf, alles Schöne und Gute kaputt zu machen." Keine Perspektive - was ebenso am Rassismus der Weißen liegt wie an der Korruption der eigenen Führungsriege. Das muss anders werden, und er muss den Hintern hochkriegen. Dabei erscheint Kitchike zunächst wie eine ganz normale Kleinstadt. Jeder kennt jeden, man tratscht, man wurschtelt sich durch, man lebt. Wenn Lydia, die die örtliche Tankstelle schmeißt, sonntags nach dem Kirchgang das halbe Kaff beobachtet und spitzzungig kommentiert, könnten wir überall auf der Welt sein. Sind wir aber nicht. In Kitchike kann es passieren, dass die Göttin aus einer indigenen Legende einem Konzert lauscht und nachher mit dem Sänger flirtet ... Während der Reservatschef Polizei und Mafia gegen sich hat, so dass er nun vor dem "großen Absturz" steht. Panisch sucht er nach Verbündeten, doch ganz Kitchike hat die Schnauze voll. Louis-Karl Picard-Sioui katapultiert uns mitten in die Lebenswirklichkeit eines heutigen Reservats in Québec. Ein Dutzend Stimmen fügen sich zu einem Panorama, einem Chor der Aufbegehrenden voller lebendiger Töne, mal poetisch, mal derb, immer direkt. Picard-Sioui steht für eine indigene Generation, die die Opferstarre abschüttelt und politische Wut in Kraft zum Handeln ummünzt.

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Autorenporträt
Louis-Karl Picard-Sioui wurde 1976 geboren. Er lebt in Wendake, Kanada, und ist Autor, Dichter, Performer und Visual-Arts-Künstler. Seit 2005 schreibt er Romane, Jugendbücher und Gedichte. Er hat Geschichte und Anthropologie studiert und leitet Kwahiatonhk!, eine Non-Profit-Organisation zur Förderung französischsprachiger indigener Literatur.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Ein wenig verhalten betrachtet Rezensent Tilman Spreckelsen dieses hier ausgebreitete Leben im Reservat kanadischer Indigener. Der Autor erzählt, so lesen wir bei ihm, aus "verschiedenen Perspektiven" und in kleinen Portionen jene Geschichten aus Kitchike, die allesamt wenig Hoffnung oder Trost bieten für die Menschen, die hier aufwachsen und leben. Es geht um Männer und Frauen, um den Kolonialismus der Weißen und die mafiösen, offenbar unreformierbaren Strukturen in der Selbstverwaltung der Indigenen, um ihre imaginäre Welt, Feste, Kunst und Götter, so der Kritiker. Ihm gefällt, wie sich der Autor mit seinen Figuren zwischen den bösen Realitäten und den schönen Träumen bewegt und lobt die Hinweise, die im Nachwort gegeben werden. Allerdings hätte er sich ein paar mehr Informationen zum Autor gewünscht.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.03.2021

Raus aus Kitchike

So ein Erbe willst du keinem mitgeben: Louis-Karl Picard-Sioui beschreibt in "Der große Absturz" die Zerrissenheit zwischen Stadt und Reservat in Kanadas kolonialer Gegenwart.

Wer morgens verkatert aufwacht, tut gut daran, die Welt erst einmal zu sortieren. Im Fall von Pierre Wabush, Protagonist im Roman "Der große Absturz" von Louis-Karl Picard-Sioui und Ich-Erzähler von dessen Prolog, richtet sich dieses Ordnen auf eine in konzentrischen Kreisen strukturierte Umgebung: Was ist das für ein Bett? Liegt sonst jemand darin? Wessen Wohnung ist das? Und was ist gestern Abend nur geschehen? Der allmähliche Erkenntniszuwachs speist sich aus der Erinnerung und aus den ringsum wahrnehmbaren Zeichen bis hin zu einem seiner Strümpfe, den Lydia, in deren Wohnung er sich offenbar befindet, im Kühlschank plaziert hat, bevor sie zur Arbeit ging - aus Bosheit, als Rache gar wegen eines Fehlverhaltens, oder (darauf kommt Pierre allerdings nicht) um sein unvermeidliches Verschwinden aus ihrer Wohnung noch etwas hinauszuzögern?

Pierres Erinnerung fördert dann ein Fest zutage, abgehalten am Vorabend im First-Nations-Reservat Kitchike in der kanadischen Provinz Québec. Für den Leser des Romans sind die kurzen Passagen über die anderen Teilnehmer wie eine Vorstellungsrunde derer, die in den kommenden Kapiteln auftreten werden: Der undurchsichtige Jakob Paul, der alte Außenseiter Noé, der junge Musiker Teandishru', der Tankstellenbesitzer Max Yaskawish, der lethargische Jean-Paul Paul Jean-Pierre samt Freundin, der Schamane Roméo - eigentlich fehlen nur der ehemalige Priester Albin Pinault und vor allem der Reservats-Chef Jack Saint-Ours. Ihn wird am Ende des Romans ein Manöver seiner Gegner, an dem auch Pierre Wabush beteiligt ist, aus dem Amt und ins Exil nach Florida bringen. Nur dass sich unter einem neuen Anführer nichts an den Zuständen im Reservat ändern wird, die der verkaterte Wabush so beschreibt: "Kitchike ist tote Hose, mausetot, das ist keinem Nachwuchs zumutbar. So ein Erbe willst du keinem mitgeben: zerrissen zwischen der Stadt und dem Reservat, der glorreichen Vergangenheit und der kolonialen Gegenwart, keine Träume, keine Hoffnungen, gefangen in bescheuerten Kleinkriegen, umzingelt von rassistischen Frenchies, regiert von Möchtegernmafiosi von Kanadas Gnaden."

In diesem Rahmen zwischen Kater und Umsturz, in einer erzählten Zeit von wohl nur einigen Tagen, spielen sich die Ereignisse ab, die jeweils als Kurzgeschichte und aus unterschiedlichen Perspektiven geschildert werden - dieser Struktur verdankt das Buch seinen Untertitel "Stories aus Kitchike". Davon profitiert der Text durchaus, weil er auf diese Weise dazu einlädt, Wabushs brüske Einschätzung der Zustände in Kitchike in Frage zu stellen, vor allem aber den Blick auf die Ursache des Elends zu richten. Der jetzige Reservats-Chef etwa ist seinerzeit ausdrücklich als Reformer angetreten, um die Diktatur seines Vorgängers zu beenden, und auch den wenig hilfreichen Einfluss der - als Stereotype wahrgenommenen - europäischstämmigen Einwohner der nahen Stadt auf das Reservat beleuchtet der Roman. Im Nachwort der Übersetzer finden sich interessante Überlegungen zum Hintergrund der Handlung und zu den speziellen Aufgaben beim Übersetzen gerade dieses Romans; allerdings hätte man sich noch etwas mehr zu seinem 1976 geborenen Verfasser gewünscht, den der Verlag als "Autor, Dichter, Performer und Visual-Arts-Künstler" vorstellt.

Die Frage, ob es nicht auch einen anderen Weg für die Angehörigen der First Nations in Kanada gegeben hätte, beantwortet eine Episode um den gefeierten Künstler Teandishru', der Besuch von Yawendara, einer Göttin seines Volkes, bekommt und mit ihr das Weite sucht - nicht ohne allerdings durch sie Einblick in ein System paralleler Welten zu erhalten, in denen das Reservat nicht vorkommt und ein weit besseres Leben möglich ist.

Von solchen Sehnsüchten, von Fluchtgedanken und einer enttäuschenden Realität ist ein großer Teil der Geschichten durchzogen, am eindrucksvollsten sicherlich das Kapitel "Der Käfig", in dem eine Elizabeth den gepackten Koffer in die Hand nimmt, einen Blick auf den schlafenden Geliebten wirft und das Haus verlassen will, wozu es aber nie kommt. Bis sie am Ende in den Spiegel blickt und das Gesicht einer alten Frau erblickt, die keine Kraft mehr zur Flucht hat. Ob es von Anfang an zu spät war, ob sich ihr das Haus in ihrem Ausbruchsversuch entgegenstemmt oder ob der surreal geschilderte Moment ein ganzes Leben in sich birgt - der Autor lässt es klugerweise offen, so wie er auch andere Passagen gern zwischen Realismus und Magie ansiedelt. Und noch die letzten Seiten des Romans handeln von zwei Ausbruchsphantasien: zum einen von Pierre Wabushs Beschluss, auch weiterhin das Reservatssystem als eine Art "Batman für Arme" zu attackieren, zum anderen vom Traum seiner Affäre Lydia Yaskawish, die als Autorin über Kitchike berichten möchte: "Wenn ich das alles aufschreibe, wird vielleicht sogar ne Art Roman draus." Die Hoffnung ist berechtigt.

TILMAN SPRECKELSEN

Louis-Karl Picard-Sioui:

"Der große Absturz".

Stories aus Kitchike.

Aus dem Französischen (Québec) von Sonja Finck und Frank Heibert. Secession Verlag für Literatur, Basel 2020. 184 S., geb., 20,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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