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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
So ein Erbe willst du keinem mitgeben: Louis-Karl Picard-Sioui beschreibt in "Der große Absturz" die Zerrissenheit zwischen Stadt und Reservat in Kanadas kolonialer Gegenwart.
Wer morgens verkatert aufwacht, tut gut daran, die Welt erst einmal zu sortieren. Im Fall von Pierre Wabush, Protagonist im Roman "Der große Absturz" von Louis-Karl Picard-Sioui und Ich-Erzähler von dessen Prolog, richtet sich dieses Ordnen auf eine in konzentrischen Kreisen strukturierte Umgebung: Was ist das für ein Bett? Liegt sonst jemand darin? Wessen Wohnung ist das? Und was ist gestern Abend nur geschehen? Der allmähliche Erkenntniszuwachs speist sich aus der Erinnerung und aus den ringsum wahrnehmbaren Zeichen bis hin zu einem seiner Strümpfe, den Lydia, in deren Wohnung er sich offenbar befindet, im Kühlschank plaziert hat, bevor sie zur Arbeit ging - aus Bosheit, als Rache gar wegen eines Fehlverhaltens, oder (darauf kommt Pierre allerdings nicht) um sein unvermeidliches Verschwinden aus ihrer Wohnung noch etwas hinauszuzögern?
Pierres Erinnerung fördert dann ein Fest zutage, abgehalten am Vorabend im First-Nations-Reservat Kitchike in der kanadischen Provinz Québec. Für den Leser des Romans sind die kurzen Passagen über die anderen Teilnehmer wie eine Vorstellungsrunde derer, die in den kommenden Kapiteln auftreten werden: Der undurchsichtige Jakob Paul, der alte Außenseiter Noé, der junge Musiker Teandishru', der Tankstellenbesitzer Max Yaskawish, der lethargische Jean-Paul Paul Jean-Pierre samt Freundin, der Schamane Roméo - eigentlich fehlen nur der ehemalige Priester Albin Pinault und vor allem der Reservats-Chef Jack Saint-Ours. Ihn wird am Ende des Romans ein Manöver seiner Gegner, an dem auch Pierre Wabush beteiligt ist, aus dem Amt und ins Exil nach Florida bringen. Nur dass sich unter einem neuen Anführer nichts an den Zuständen im Reservat ändern wird, die der verkaterte Wabush so beschreibt: "Kitchike ist tote Hose, mausetot, das ist keinem Nachwuchs zumutbar. So ein Erbe willst du keinem mitgeben: zerrissen zwischen der Stadt und dem Reservat, der glorreichen Vergangenheit und der kolonialen Gegenwart, keine Träume, keine Hoffnungen, gefangen in bescheuerten Kleinkriegen, umzingelt von rassistischen Frenchies, regiert von Möchtegernmafiosi von Kanadas Gnaden."
In diesem Rahmen zwischen Kater und Umsturz, in einer erzählten Zeit von wohl nur einigen Tagen, spielen sich die Ereignisse ab, die jeweils als Kurzgeschichte und aus unterschiedlichen Perspektiven geschildert werden - dieser Struktur verdankt das Buch seinen Untertitel "Stories aus Kitchike". Davon profitiert der Text durchaus, weil er auf diese Weise dazu einlädt, Wabushs brüske Einschätzung der Zustände in Kitchike in Frage zu stellen, vor allem aber den Blick auf die Ursache des Elends zu richten. Der jetzige Reservats-Chef etwa ist seinerzeit ausdrücklich als Reformer angetreten, um die Diktatur seines Vorgängers zu beenden, und auch den wenig hilfreichen Einfluss der - als Stereotype wahrgenommenen - europäischstämmigen Einwohner der nahen Stadt auf das Reservat beleuchtet der Roman. Im Nachwort der Übersetzer finden sich interessante Überlegungen zum Hintergrund der Handlung und zu den speziellen Aufgaben beim Übersetzen gerade dieses Romans; allerdings hätte man sich noch etwas mehr zu seinem 1976 geborenen Verfasser gewünscht, den der Verlag als "Autor, Dichter, Performer und Visual-Arts-Künstler" vorstellt.
Die Frage, ob es nicht auch einen anderen Weg für die Angehörigen der First Nations in Kanada gegeben hätte, beantwortet eine Episode um den gefeierten Künstler Teandishru', der Besuch von Yawendara, einer Göttin seines Volkes, bekommt und mit ihr das Weite sucht - nicht ohne allerdings durch sie Einblick in ein System paralleler Welten zu erhalten, in denen das Reservat nicht vorkommt und ein weit besseres Leben möglich ist.
Von solchen Sehnsüchten, von Fluchtgedanken und einer enttäuschenden Realität ist ein großer Teil der Geschichten durchzogen, am eindrucksvollsten sicherlich das Kapitel "Der Käfig", in dem eine Elizabeth den gepackten Koffer in die Hand nimmt, einen Blick auf den schlafenden Geliebten wirft und das Haus verlassen will, wozu es aber nie kommt. Bis sie am Ende in den Spiegel blickt und das Gesicht einer alten Frau erblickt, die keine Kraft mehr zur Flucht hat. Ob es von Anfang an zu spät war, ob sich ihr das Haus in ihrem Ausbruchsversuch entgegenstemmt oder ob der surreal geschilderte Moment ein ganzes Leben in sich birgt - der Autor lässt es klugerweise offen, so wie er auch andere Passagen gern zwischen Realismus und Magie ansiedelt. Und noch die letzten Seiten des Romans handeln von zwei Ausbruchsphantasien: zum einen von Pierre Wabushs Beschluss, auch weiterhin das Reservatssystem als eine Art "Batman für Arme" zu attackieren, zum anderen vom Traum seiner Affäre Lydia Yaskawish, die als Autorin über Kitchike berichten möchte: "Wenn ich das alles aufschreibe, wird vielleicht sogar ne Art Roman draus." Die Hoffnung ist berechtigt.
TILMAN SPRECKELSEN
Louis-Karl Picard-Sioui:
"Der große Absturz".
Stories aus Kitchike.
Aus dem Französischen (Québec) von Sonja Finck und Frank Heibert. Secession Verlag für Literatur, Basel 2020. 184 S., geb., 20,- [Euro].
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