Als F. Scott Fitzgeralds famoser Roman »The Great Gatsby« 1925 erschien, erntete sein Autor von zahlreichen Schriftstellerkollegen hymnische Kritiken, doch erst die Nachkriegsjahrzehnte bescherten seinem Meisterwerk die weltweite Anerkennung, die es verdient. Ergreifend und mit subtiler Finesse erzählt Fitzgerald die Geschichte des schillernden Emporkömmlings Jay Gatsby, der auf seinem Anwesen rauschende Feste feiert, um seine einst verlorene Liebe zurückzugewinnen – eine Geschichte über die Macht großer Gefühle und das schmerzhafte Scheitern eines romantischen Traums. Diese Ausgabe präsentiert den grandiosen Klassiker der amerikanischen Literatur in neuer Übersetzung.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2011Fünf Dollar, zehn Cent langfristig angelegt
Fast gleichzeitig erscheinen vier neue Übersetzungen des "Großen Gatsby". Auch wenn die Flut urheberrechtliche Gründe hat, enthält sie doch eine Botschaft: F. Scott Fitzgeralds Meisterwerk ist der Roman unseres materialistischen Zeitalters.
F. Scott Fitzgerald hat mit seinem bedeutendsten Roman kein Geld verdient. "Der große Gatsby", erschienen 1925 in New York, verbreitete sich in den darauffolgenden fünfzehn Jahren in weniger als 23 000 Exemplaren. Wir wissen das, weil 1940, als Fitzgerald an seinem dritten Herzinfarkt starb, noch einige Stück der zweiten Auflage am Lager waren. Die Nachrufe fielen entsprechend herablassend aus, sie galten einem ehemaligen Star, dessen Ruhm längst verblasst war.
Niemand ahnte, dass "Gatsby" sich schon kurz darauf in den Jahrhundertklassiker der amerikanischen Literatur verwandeln würde. Die erste deutsche Übersetzung war 1928 erschienen, die zweite, von Walter Schürenberg, folgte 1953 und blieb die nächsten fünfzig Jahre der maßgebliche Text. Dann warfen sich plötzlich vier Verlage in den Wettbewerb um die attraktivste Neufassung. Schon 2006 legte Bettina Abarbanell bei Diogenes die erste Neuübersetzung vor. (Der Unterzeichnete hatte das Vergnügen, dazu ein Nachwort beizusteuern.) Letztes Frühjahr erschien bei dtv "Der große Gatsby" in der Version von Lutz-W. Wolff, in wenigen Tagen folgt der neue "Gatsby" von Reinhard Kaiser (Insel), und für nächsten Januar ist beim Reclam Verlag die Übersetzung von Hans-Christian Oeser angekündigt: renommierte Namen im Wettbewerb um ein neues Publikum.
Mit dem Erlöschen des Urheberrechts im Jahr 2010 ist das vierfache Angebot dieses modernen Klassikers kaum ausreichend erklärt. Es lohnt sich, den "Großen Gatsby" als Bewusstseinsbild einer krisengefährdeten Epoche zu lesen, und weil solche Begriffe im Roman selbst nicht zu finden sind, braucht man sich nur durch seine schwelgerischen Bilder treiben zu lassen und den Klängen seiner nostalgischen, trunken machenden Prosa zu lauschen. Und man spürt: Der Sprache dieses Romans ist ein süßes Gift beigemischt. Denn all der poetische Aufwand gilt einer durch und durch verkommenen Scheinwelt.
Nur einer ist davon ausgenommen, Gatsby selbst, ein zwielichtiger Charakter, den eine einzige Qualität rettet: Er kann noch träumen. Dass sein Bild von einer schönen Frau die Wirklichkeit verkennt, ja dass der Gegenstand von Gatsbys Anbetung unwürdig ist, tut nichts zur Sache. Fitzgerald untersucht sein Zeitalter und diagnostiziert, dass außer romantischem Sehnen nichts mehr übrig ist - kein Gott, keine Werte, kein Staat. Es gelingt ihm das Kunststück, die zerstobene Hoffnung eines Gauners in große Tragödie zu verwandeln und an der Nichtigkeit seines Traums zugleich die Größe seines Traums zu beweisen. Mehr ist aus der moralischen Konkursmasse nicht zu retten.
"Der große Gatsby" predigt oder moralisiert nicht. Im Gegenteil, seitenlang feiert er die flüchtigsten Sehnsuchtsmomente. Die Musik der Sprache ist dabei so echt, wie die geschilderten Gegenstände trügerisch sind. Dahinter steht ein künstlerisches Programm. Nicht nur, weil der jugendliche Bestsellerautor von "Diesseits vom Paradies" den Aufstieg zum hochbezahlten Starschreiber und den Sturz in Alkohol und Depression selbst erlebt hat, also jedes Wort beglaubigen kann. Sondern weil er sich als Schriftsteller immer in einer Doppelrolle sah: im Ballsaal das schönste Mädchen zu erwischen und sich zugleich draußen an der Fensterscheibe die Nase plattzudrücken. Ausgelassener Tänzer und distanzierter Beobachter, Fitzgerald war beides in einer Person.
Nie wurden Hedonismus und Langeweile schöner beschrieben als bei ihm. "Her voice is full of money." Dieser wunderbare englische Satz ist berühmt geworden. Gatsby, der damit seine frühere Freundin Daisy beschreibt, die inzwischen einem anderen gehört, deutet an, dass er die Regeln der Tauschgesellschaft begriffen hat, auch wenn ihn das nicht davor bewahrt, einer Täuschung zu erliegen. Als er für seine Angebetete in einem Anfall von Warenfetischismus seine gefalteten Hemden aus dem Schrank holt und ihr triumphierend die verschwenderisch edlen Stoffe hinwirft, schluchzt Daisy vor Glück: So schöne Hemden hat sie noch nie gesehen. Es ist die literarische Vorwegnahme des Werbefernsehens.
Keine einzige Figur des Romans, das darf nicht unerwähnt bleiben, ist "gut". Und ob der Erzähler, ein kleiner Börsenberater namens Nick Carraway, überhaupt begreift, welch ungeheuerliche Geschichte er uns da erzählt, ist fraglich. Am Ende haben wir Aufstieg und Fall eines unermesslich reichen und moralisch dubiosen Mannes erlebt, Jay Gatsby, dessen eigentliches Ziel, die Eroberung seiner Jugendliebe, an einer korrupten Welt zerbricht und uns mit einem sonderbaren Gefühl von Untröstlichkeit zurücklässt.
Fitzgerald hat für diese desillusionierte Ära Bilder gefunden, die wir noch heute als zeitgenössisch empfinden. Die frühen Kapitel beschreiben in glühenden Farben Gatsbys aufwendige Feste auf seinem Anwesen in Long Island, zu denen man einfach hingeht, ohne eingeladen zu sein, ganz wie die überlaufenen Facebook-Partys von heute, nur fünfzigmal so teuer. Doch so wie hier wurden Partys in der Literatur noch nie beschrieben: so ostentativ wie richtungslos, der vollkommene Ausdruck eines Reichs ohne Zentrum und Urheber. So sehr schnurrt in diesem Ambiente alles zu narzisstischen Gesten zusammen, dass die meisten ungeladenen Gäste wieder gehen, ohne den Gastgeber Gatsby je zu Gesicht bekommen zu haben. Sein Begräbnis bald darauf wird zur einsamsten Veranstaltung der Welt.
Das Nachleben eines Romans hängt nicht so sehr davon ab, ob seine Themen sich krampfhaft "aktualisieren" lassen oder mit dem heutigen Geschmack kompatibel sind. Es steht und fällt mit der literarischen Qualität. "Der große Gatsby" reifte zu einem Werk heran, mit dem F. Scott Fitzgerald aus dem Rollenklischee des frivolen Wunderkinds der Jazz-Ära heraustreten und sich als ernsthafter Künstler beweisen wollte. Die Absicht ist nicht nur in den Briefen an seinen Lektor Max Perkins dokumentiert, sie lässt sich aus gewissenhaften Überarbeitungen schließen. Dass wir diesen Roman noch heute lesen, beruht auf seiner Dichte, Spannung, poetischen Qualität und der reflektierten Ausgestaltung seiner Motive. Nur in dieser Form konnte der Gatsby-Stoff sein Leben bewahren und symptomatisch für seine (und unsere) Zeit werden.
Man kann das nicht deutlich genug betonen, denn neun von zehn Romanen, die im Jahre 1925 auf der amerikanischen Bestsellerliste standen, sind heute vergessen; "Der große Gatsby" nicht. Wie kein anderer amerikanischer Roman des zwanzigsten Jahrhunderts zieht er den gewöhnlichen Leser ebenso an wie Scharen von Philologen, wird unermüdlich gedeutet, zerlegt, veropert, verfilmt (demnächst mit Leonardo DiCaprio), und seit dem Jahr 2000 gibt es in der Cambridge Edition unter dem Titel "Trimalchio" sogar die unlektorierte Vorstufe des Romans zu kaufen - alles, um zu beweisen, dass für die minutiöse Untersuchung von Fitzgeralds Genie bei der Schaffung seiner mythischen Romanfigur kein Aufwand übertrieben ist.
"Der große Gatsby" ist aber auch der Roman der "Gefällt mir"-Generation, des allgegenwärtigen Geredes und der Macht des Plebiszits. Oft sind Geschichten von Aufstieg und Fall ja mit einer moralisierenden Lehre verbunden. "Die Gesellschaft" erweist sich darin als Machtfaktor, der den Einzelnen aus der Menge heraushebt und mit derselben Leichtigkeit wieder überrollt. Im "Großen Gatsby" lässt sich diese Unterscheidung nicht mehr treffen. Dem Parvenü Jay Gatsby, der sich elternlos neu erfindet, um seinem romantischen Traum nachzujagen, steht keine definierte Gesellschaft gegenüber, sondern ein materialistisches, wie rasend beschleunigtes Zeitalter, in dem jeder nach den Rettungsringen greift.
Dass der Roman wenige Jahre vor dem Schwarzen Freitag des Börsencrashs von 1929 spielt, sollte uns nicht täuschen. Das "alte Geld", das es damals noch gab, kommt im Roman kaum vor. Als hätte Fitzgerald den Aufstieg einer neuen Klasse in der Luft gewittert, bevölkert er seinen Roman mit Neureichen, Trickkünstlern und Finanzschwindlern, darunter auch ein gewisser Meyer Wolfshiem, ein unverhülltes Abbild des mutmaßlichen Wettbetrügers Arnold Rothstein. Fitzgerald selbst übrigens zerrann das Geld zwischen den Fingern, obwohl er 1929 für jede verkaufte Story Spitzenpreise von mehreren tausend Dollar kassierte. Für den "Großen Gatsby" verzeichnet das Haushaltsbuch jenes Jahres eine andere Einnahme: fünf Dollar und zehn Cent.
PAUL INGENDAAY
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Fast gleichzeitig erscheinen vier neue Übersetzungen des "Großen Gatsby". Auch wenn die Flut urheberrechtliche Gründe hat, enthält sie doch eine Botschaft: F. Scott Fitzgeralds Meisterwerk ist der Roman unseres materialistischen Zeitalters.
F. Scott Fitzgerald hat mit seinem bedeutendsten Roman kein Geld verdient. "Der große Gatsby", erschienen 1925 in New York, verbreitete sich in den darauffolgenden fünfzehn Jahren in weniger als 23 000 Exemplaren. Wir wissen das, weil 1940, als Fitzgerald an seinem dritten Herzinfarkt starb, noch einige Stück der zweiten Auflage am Lager waren. Die Nachrufe fielen entsprechend herablassend aus, sie galten einem ehemaligen Star, dessen Ruhm längst verblasst war.
Niemand ahnte, dass "Gatsby" sich schon kurz darauf in den Jahrhundertklassiker der amerikanischen Literatur verwandeln würde. Die erste deutsche Übersetzung war 1928 erschienen, die zweite, von Walter Schürenberg, folgte 1953 und blieb die nächsten fünfzig Jahre der maßgebliche Text. Dann warfen sich plötzlich vier Verlage in den Wettbewerb um die attraktivste Neufassung. Schon 2006 legte Bettina Abarbanell bei Diogenes die erste Neuübersetzung vor. (Der Unterzeichnete hatte das Vergnügen, dazu ein Nachwort beizusteuern.) Letztes Frühjahr erschien bei dtv "Der große Gatsby" in der Version von Lutz-W. Wolff, in wenigen Tagen folgt der neue "Gatsby" von Reinhard Kaiser (Insel), und für nächsten Januar ist beim Reclam Verlag die Übersetzung von Hans-Christian Oeser angekündigt: renommierte Namen im Wettbewerb um ein neues Publikum.
Mit dem Erlöschen des Urheberrechts im Jahr 2010 ist das vierfache Angebot dieses modernen Klassikers kaum ausreichend erklärt. Es lohnt sich, den "Großen Gatsby" als Bewusstseinsbild einer krisengefährdeten Epoche zu lesen, und weil solche Begriffe im Roman selbst nicht zu finden sind, braucht man sich nur durch seine schwelgerischen Bilder treiben zu lassen und den Klängen seiner nostalgischen, trunken machenden Prosa zu lauschen. Und man spürt: Der Sprache dieses Romans ist ein süßes Gift beigemischt. Denn all der poetische Aufwand gilt einer durch und durch verkommenen Scheinwelt.
Nur einer ist davon ausgenommen, Gatsby selbst, ein zwielichtiger Charakter, den eine einzige Qualität rettet: Er kann noch träumen. Dass sein Bild von einer schönen Frau die Wirklichkeit verkennt, ja dass der Gegenstand von Gatsbys Anbetung unwürdig ist, tut nichts zur Sache. Fitzgerald untersucht sein Zeitalter und diagnostiziert, dass außer romantischem Sehnen nichts mehr übrig ist - kein Gott, keine Werte, kein Staat. Es gelingt ihm das Kunststück, die zerstobene Hoffnung eines Gauners in große Tragödie zu verwandeln und an der Nichtigkeit seines Traums zugleich die Größe seines Traums zu beweisen. Mehr ist aus der moralischen Konkursmasse nicht zu retten.
"Der große Gatsby" predigt oder moralisiert nicht. Im Gegenteil, seitenlang feiert er die flüchtigsten Sehnsuchtsmomente. Die Musik der Sprache ist dabei so echt, wie die geschilderten Gegenstände trügerisch sind. Dahinter steht ein künstlerisches Programm. Nicht nur, weil der jugendliche Bestsellerautor von "Diesseits vom Paradies" den Aufstieg zum hochbezahlten Starschreiber und den Sturz in Alkohol und Depression selbst erlebt hat, also jedes Wort beglaubigen kann. Sondern weil er sich als Schriftsteller immer in einer Doppelrolle sah: im Ballsaal das schönste Mädchen zu erwischen und sich zugleich draußen an der Fensterscheibe die Nase plattzudrücken. Ausgelassener Tänzer und distanzierter Beobachter, Fitzgerald war beides in einer Person.
Nie wurden Hedonismus und Langeweile schöner beschrieben als bei ihm. "Her voice is full of money." Dieser wunderbare englische Satz ist berühmt geworden. Gatsby, der damit seine frühere Freundin Daisy beschreibt, die inzwischen einem anderen gehört, deutet an, dass er die Regeln der Tauschgesellschaft begriffen hat, auch wenn ihn das nicht davor bewahrt, einer Täuschung zu erliegen. Als er für seine Angebetete in einem Anfall von Warenfetischismus seine gefalteten Hemden aus dem Schrank holt und ihr triumphierend die verschwenderisch edlen Stoffe hinwirft, schluchzt Daisy vor Glück: So schöne Hemden hat sie noch nie gesehen. Es ist die literarische Vorwegnahme des Werbefernsehens.
Keine einzige Figur des Romans, das darf nicht unerwähnt bleiben, ist "gut". Und ob der Erzähler, ein kleiner Börsenberater namens Nick Carraway, überhaupt begreift, welch ungeheuerliche Geschichte er uns da erzählt, ist fraglich. Am Ende haben wir Aufstieg und Fall eines unermesslich reichen und moralisch dubiosen Mannes erlebt, Jay Gatsby, dessen eigentliches Ziel, die Eroberung seiner Jugendliebe, an einer korrupten Welt zerbricht und uns mit einem sonderbaren Gefühl von Untröstlichkeit zurücklässt.
Fitzgerald hat für diese desillusionierte Ära Bilder gefunden, die wir noch heute als zeitgenössisch empfinden. Die frühen Kapitel beschreiben in glühenden Farben Gatsbys aufwendige Feste auf seinem Anwesen in Long Island, zu denen man einfach hingeht, ohne eingeladen zu sein, ganz wie die überlaufenen Facebook-Partys von heute, nur fünfzigmal so teuer. Doch so wie hier wurden Partys in der Literatur noch nie beschrieben: so ostentativ wie richtungslos, der vollkommene Ausdruck eines Reichs ohne Zentrum und Urheber. So sehr schnurrt in diesem Ambiente alles zu narzisstischen Gesten zusammen, dass die meisten ungeladenen Gäste wieder gehen, ohne den Gastgeber Gatsby je zu Gesicht bekommen zu haben. Sein Begräbnis bald darauf wird zur einsamsten Veranstaltung der Welt.
Das Nachleben eines Romans hängt nicht so sehr davon ab, ob seine Themen sich krampfhaft "aktualisieren" lassen oder mit dem heutigen Geschmack kompatibel sind. Es steht und fällt mit der literarischen Qualität. "Der große Gatsby" reifte zu einem Werk heran, mit dem F. Scott Fitzgerald aus dem Rollenklischee des frivolen Wunderkinds der Jazz-Ära heraustreten und sich als ernsthafter Künstler beweisen wollte. Die Absicht ist nicht nur in den Briefen an seinen Lektor Max Perkins dokumentiert, sie lässt sich aus gewissenhaften Überarbeitungen schließen. Dass wir diesen Roman noch heute lesen, beruht auf seiner Dichte, Spannung, poetischen Qualität und der reflektierten Ausgestaltung seiner Motive. Nur in dieser Form konnte der Gatsby-Stoff sein Leben bewahren und symptomatisch für seine (und unsere) Zeit werden.
Man kann das nicht deutlich genug betonen, denn neun von zehn Romanen, die im Jahre 1925 auf der amerikanischen Bestsellerliste standen, sind heute vergessen; "Der große Gatsby" nicht. Wie kein anderer amerikanischer Roman des zwanzigsten Jahrhunderts zieht er den gewöhnlichen Leser ebenso an wie Scharen von Philologen, wird unermüdlich gedeutet, zerlegt, veropert, verfilmt (demnächst mit Leonardo DiCaprio), und seit dem Jahr 2000 gibt es in der Cambridge Edition unter dem Titel "Trimalchio" sogar die unlektorierte Vorstufe des Romans zu kaufen - alles, um zu beweisen, dass für die minutiöse Untersuchung von Fitzgeralds Genie bei der Schaffung seiner mythischen Romanfigur kein Aufwand übertrieben ist.
"Der große Gatsby" ist aber auch der Roman der "Gefällt mir"-Generation, des allgegenwärtigen Geredes und der Macht des Plebiszits. Oft sind Geschichten von Aufstieg und Fall ja mit einer moralisierenden Lehre verbunden. "Die Gesellschaft" erweist sich darin als Machtfaktor, der den Einzelnen aus der Menge heraushebt und mit derselben Leichtigkeit wieder überrollt. Im "Großen Gatsby" lässt sich diese Unterscheidung nicht mehr treffen. Dem Parvenü Jay Gatsby, der sich elternlos neu erfindet, um seinem romantischen Traum nachzujagen, steht keine definierte Gesellschaft gegenüber, sondern ein materialistisches, wie rasend beschleunigtes Zeitalter, in dem jeder nach den Rettungsringen greift.
Dass der Roman wenige Jahre vor dem Schwarzen Freitag des Börsencrashs von 1929 spielt, sollte uns nicht täuschen. Das "alte Geld", das es damals noch gab, kommt im Roman kaum vor. Als hätte Fitzgerald den Aufstieg einer neuen Klasse in der Luft gewittert, bevölkert er seinen Roman mit Neureichen, Trickkünstlern und Finanzschwindlern, darunter auch ein gewisser Meyer Wolfshiem, ein unverhülltes Abbild des mutmaßlichen Wettbetrügers Arnold Rothstein. Fitzgerald selbst übrigens zerrann das Geld zwischen den Fingern, obwohl er 1929 für jede verkaufte Story Spitzenpreise von mehreren tausend Dollar kassierte. Für den "Großen Gatsby" verzeichnet das Haushaltsbuch jenes Jahres eine andere Einnahme: fünf Dollar und zehn Cent.
PAUL INGENDAAY
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.12.2011Er meint weit mehr
als bloß dies!
Ohne Abstriche geht es nicht: „Der Große Gatsby“ von
F. Scott Fitzgerald im Wettstreit neuer Übersetzungen
Es gibt Bücher, die drohen unter ihrem Ruhm zu verschwinden. Auch wer sie nie gelesen hat, hat sie doch auf gewissermaßen osmotischem Weg aufgenommen, indem ein zentrales Motiv daraus völlig in den kulturellen Allgemeinbesitz übergegangen ist. Beispiele wären Don Quixote in seinem Kampf gegen die Windmühlen, „1984“ mit der Figur des Großen Bruders, das kakerlakenhafte Ungeziefer in Kafkas „Verwandlung“. Und eben „Der große Gatsby“. Auch dieses Buch, das alle anderen des doch außerordentlich produktiven Francis Scott Fitzgerald in den Schatten gestellt hat, ist in einer einzelnen Szene gewissermaßen eingefroren – der Gartenparty, der der mysteriöse Gastgeber selbst sich entzieht.
Warum und wie, das wüssten wenige auf Anhieb zu sagen. Stattdessen ist eine gewisse Atmosphäre, ein Air oder Flair im Gedächtnis haften geblieben: der Geist der Roaring Twenties, die rauschhafte Verschwendung, deren mitreißender Vulgarität ein mäßigendes Moment der Melancholie beigemischt ist. „Roman“ heißt das Buch und umfasst auch wirklich mehr als zweihundert Seiten; aber seinem ganzen Wesen nach muss man es eher als eine Novelle bezeichnen. Mit großer Konsequenz wird der erzählerische Rahmen für die eine unerhörte Begebenheit errichtet, um die es in Wahrheit geht und für die der Bilderbogen einer wild zum Amüsement entschlossenen Society nur die Folie liefert.
Die formalen Erfordernisse der Novelle hat Fitzgerald (und man muss ihn wirklich bewundern dafür) in den Charakter seines Erzählers Nick Carraway eingesenkt, der von sich selbst sagt, er habe gelernt, sich mit dem Urteilen über Menschen zurückzuhalten. Das dient zugleich als eine Warnung an den Leser: Was geschieht, ist klar genug – aber was es zu bedeuten hat und wie es zu bewerten sei, darüber erhält er keine verlässliche Auskunft.
Dem Ruhm des Buchs hat es nicht geschadet, im Gegenteil. Man kann es auf mindestens drei verschiedene Arten lesen und kommt immer auf seine Kosten: als groteskes Sittenbild; als bittersüße Liebesgeschichte (also den blanken Kitsch, der sich jedoch über den Zynismus der Partygäste erhaben dünkt, bestimmt die beliebteste Lesart); oder als eine Studie über den Zusammenhang von Geld und Seelenleben. Die novelleske Begebenheit besteht in Folgendem: Gatsby (bürgerlich James Gatz) hat sich, als er noch ein armer Junge war, unsterblich in die reiche Daisy verliebt, wurde aber von ihr getrennt; jetzt, wo er durch undurchsichtige Geschäfte noch reicher als sie damals geworden ist und er sie endlich wiederfindet, stellt sich nachträglich (und gegen seinen heftigen Widerstand) heraus, dass er eigentlich gar nicht sie gemeint hat, sondern die ganze Sphäre, der sie angehört, ihren Reichtum also.
„,Daisys Stimme klingt so indiskret‘. Sagte ich. ,Sie ist so . . .‘. ‚Ihre Stimme klingt nach Geld‘, sagte er (Gatsby) plötzlich. Das war es. Ich hatte es nie verstanden. Sie klang nach Geld – darin lag der unerschöpfliche Charme, der in ihr an- und abschwoll, das Klimpern, der silbrige Zimbelklang. Hoch oben in einem weißen Palast, die Königstochter, das goldene Mädchen . . . .“ Hier kulminiert in unaufdringlicher Weise die hohe Ironie des Buchs: dass das Persönlichste, als welches man Liebreiz und Liebe gern reklamiert, geradewegs vom Allerallgemeinsten gezeitigt worden ist. Aber der Erzähler bringt das Geld zum Tanzen. Und er verwirft seine Figuren nicht. Sie tun sehr hässliche Dinge, was indes so beiläufig erwähnt wird, dass man die Stelle noch einmal liest, um wirklich zu glauben, was dasteht. Es ist, mit einem Wort, trotz seines klaren Handlungsgangs ein schlechthin unerschöpfliches Buch.
Ein solches kommt in seiner Ursprungssprache gar nicht recht zu sich selbst. Das Paradox, dass das Werk eine Einheit darstellt, seine Bedeutung aber eine vielfache sein muss, erlangt sichtbare Gestalt erst dort, wo die Übersetzung sich seiner annimmt. Die Übersetzung löst sich vom manifesten Leib des Texts wie die Seele vom sterbenden Körper und flattert in nervösen Gesten um ihn herum; erst jetzt wird sie, die sich bisher im Körper versteckt hielt, als Seele eigentlich sichtbar. Reine Bequemlichkeit ist es, die kanonische Übersetzung zu fordern, die ein für alle Mal gälte und an der man dann nicht mehr zu zweifeln und herumzukritteln braucht; gerade als multiple und daher spürbar stets unvollkommene erweist sie dem Werk ihre größte Huldigung. Und so ist es zu begrüßen, dass es vom großen Gatsby gegenwärtig nicht weniger als vier lieferbare deutsche Versionen gibt, darunter zwei nagelneue (Francis Scott Fitzgerald: Der große Gatsby. Roman. Aus dem Englischen von Reinhard Kaiser. Insel Verlag, Berlin 2011, 213 S., 22,90 Euro, und F. Scott Fitzgerald: Der große Gatsby. Roman. Neu übersetzt, mit einem Nachwort und Anmerkungen von Lutz-W. Wolff. dtv, München 2011, 256 S., 9,90 Euro).
Das Buch beginnt: „In my younger and more vulnerable years my father gave me some advice that I’ve been turning over in my mind ever since. ,Whenever you feel like criticizing any one‘, he told me, ,just remember that all the people in this world haven’t had the advantages that you have had.‘ He didn’t say any more, but we’ve always been unusually communicative in a reserved way, and I understood that he meant a great deal more than that.“
So führt sich der Erzähler ein, dessen Naturell, wie gesagt, sich ganz in den Dienst der novellistischen Aufgabe gestellt hat. Die Einfachheit dieser Sprache täuscht, indem sie den Hinweis darauf verbirgt, dass auch die Einfachheit dieser Geschichte täuschen wird. Das implizite Einverständnis zwischen Erzähler und Hörer, in dem das Geheimnis einer guten Geschichte liegt, hat hier das Gleichnis der gelingenden Beziehung von Vater und Sohn gefunden: Sie lieben einander, aber zu dieser Liebe gehört es unverbrüchlich, dass sie sich nicht direkt äußert, sondern in einer Spurensprache, die nur die beiden selbst dekodieren können. Dies ist das Formgesetz ihrer Liebe. So ergibt sich der scheinbare Widerspruch, dass die beiden „in a reserved way“ „unusually communicative“ waren, und „he meant a great deal more than that“. Das Gemeinte ist also im Text zugleich da und weg – eine echte Herausforderung für den Übersetzer!
Auch die „more vulnerable years“ stellen ein nicht geringes Problem dar. Wolff will am Original möglichst dicht dranbleiben und spricht von den „verletzlicheren Jahren“. Ähnlich halten es Johanna Ellsworth (Nikol Verlag, Hamburg 2011. 159 S., 4,95 Euro) und Bettina Abarbanell (Diogenes Verlag, Zürich 2001. 249 S., 9,90 Euro), die für „verwundbarer“ optieren. Aber das schießt im Deutschen übers Ziel hinaus, denn es sollen hier gerade keine Wunden gezeigt, sondern eine Verständigung auf Basis des Understatements vorgeführt werden.
Kaiser erkennt die Gefahr; bei ihm ist Nick lediglich „leichter zu beeindrucken“. Dabei jedoch schleicht sich ein gewisser kaltschnäuziger Verdacht ein: Als ob der Erzähler es inzwischen besser wüsste, als den Morallehren seines alten Herrn auf den Leim zu gehen. Beides liegt in entgegengesetzter Richtung ungefähr gleich weit von dem, was der Text sagt, in einer unerreichbaren Mitte.
„Whenever you feel like criticizing any one“ – da erlaubt sich Kaiser mit Rücksicht auf die Üblichkeit mündlichen Sprechens ein abkürzendes Verfahren: „Wenn du an jemandem etwas auszusetzen hast“ (ähnlich Ellsworth). Die Zweiheit der Vorgänge, des „feeling“ (still) und des „criticizing“ (laut) ist damit freilich vernichtet. Abarbanell bewahrt sie in „Wann immer du jemanden kritisieren willst“, überinstrumentiert damit allerdings den mentalen Akt als einen des Wollens und haut auch mit dem „wann immer“ zu stark auf die Pauke, dem nur scheinbaren Äquivalent für „whenever“. Wulff macht aus der Zweiheit gar eine Dreiheit: „Jedes Mal, wenn du glaubst, jemanden kritisieren zu müssen“ und gerät, indem er zusätzlich „müssen“ und „glauben“ trennt, aufs Gelände der Haarspalterei.
Am schwierigsten ist natürlich „unusually communicative in a reserved way“. Hier müssen alle Übersetzer Abstriche an der Komplexität des Gedankens machen. Wulff: „aber wir haben uns schon immer auf sehr zurückhaltende Weise verstanden“ – hier ist die paradoxale Struktur des Satzes so ziemlich zerstört. Kaiser: „aber auf eine zurückhaltende Weise verstanden wir uns immer ungemein gut“. Hier ist sie teilweise erhalten, aber um den Preis einer gewissen Umständlichkeit. Abarbanell: „doch da wir uns auf eine diskrete Weise stets hervorragend verstanden haben“ – im „hervorragend“ hat sich das Verschwiegene und höchstens Andeutende, das in „unusually“ steckt, in die offene Prahlerei verwandelt. Etwas gedämpfter und darum dem Gehalt des Originals wohl am nächsten wählt Ellsworth: „doch da wir uns auf eine zurückhaltende Art immer sehr gut verstanden haben“. Warum jedoch will keiner der vier sich ernsthaft auf das „unusually“ einlassen? Denn dass diese Beziehung, unter ihrem unscheinbaren Deckmantel, in Wirklichkeit etwas Ungewöhnliches sei, macht ihr Glück und ihren geheimen Stolz aus – und, wie man hinzusetzen darf, den dieser Geschichte.
So könnte man die vier Übersetzungen Satz für Satz und Zeile für Zeile vergleichen, wäre nie zufrieden und bezöge immer neue Erleuchtungen über den umstrittenen Gegenstand. Denn dies ist das Schöne an ihrer einfallsreichen Unzulänglichkeit: Wie wenn man Ministern zuhörte, die sich um Ohr und Gunst des Monarchen zanken, gewinnt man vertieften Respekt vor dem Absoluten des Werks und zugleich erschrockene Einsicht ins immer Prekäre seines Gelingens.
BURKHARD MÜLLER
Dies ist, trotz seines klaren
Handlungsgangs, ein
schlechthin unerschöpfliches Buch
Reine Bequemlichkeit ist es, die
kanonische Übersetzung zu
fordern, die ein für alle Mal gälte
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als bloß dies!
Ohne Abstriche geht es nicht: „Der Große Gatsby“ von
F. Scott Fitzgerald im Wettstreit neuer Übersetzungen
Es gibt Bücher, die drohen unter ihrem Ruhm zu verschwinden. Auch wer sie nie gelesen hat, hat sie doch auf gewissermaßen osmotischem Weg aufgenommen, indem ein zentrales Motiv daraus völlig in den kulturellen Allgemeinbesitz übergegangen ist. Beispiele wären Don Quixote in seinem Kampf gegen die Windmühlen, „1984“ mit der Figur des Großen Bruders, das kakerlakenhafte Ungeziefer in Kafkas „Verwandlung“. Und eben „Der große Gatsby“. Auch dieses Buch, das alle anderen des doch außerordentlich produktiven Francis Scott Fitzgerald in den Schatten gestellt hat, ist in einer einzelnen Szene gewissermaßen eingefroren – der Gartenparty, der der mysteriöse Gastgeber selbst sich entzieht.
Warum und wie, das wüssten wenige auf Anhieb zu sagen. Stattdessen ist eine gewisse Atmosphäre, ein Air oder Flair im Gedächtnis haften geblieben: der Geist der Roaring Twenties, die rauschhafte Verschwendung, deren mitreißender Vulgarität ein mäßigendes Moment der Melancholie beigemischt ist. „Roman“ heißt das Buch und umfasst auch wirklich mehr als zweihundert Seiten; aber seinem ganzen Wesen nach muss man es eher als eine Novelle bezeichnen. Mit großer Konsequenz wird der erzählerische Rahmen für die eine unerhörte Begebenheit errichtet, um die es in Wahrheit geht und für die der Bilderbogen einer wild zum Amüsement entschlossenen Society nur die Folie liefert.
Die formalen Erfordernisse der Novelle hat Fitzgerald (und man muss ihn wirklich bewundern dafür) in den Charakter seines Erzählers Nick Carraway eingesenkt, der von sich selbst sagt, er habe gelernt, sich mit dem Urteilen über Menschen zurückzuhalten. Das dient zugleich als eine Warnung an den Leser: Was geschieht, ist klar genug – aber was es zu bedeuten hat und wie es zu bewerten sei, darüber erhält er keine verlässliche Auskunft.
Dem Ruhm des Buchs hat es nicht geschadet, im Gegenteil. Man kann es auf mindestens drei verschiedene Arten lesen und kommt immer auf seine Kosten: als groteskes Sittenbild; als bittersüße Liebesgeschichte (also den blanken Kitsch, der sich jedoch über den Zynismus der Partygäste erhaben dünkt, bestimmt die beliebteste Lesart); oder als eine Studie über den Zusammenhang von Geld und Seelenleben. Die novelleske Begebenheit besteht in Folgendem: Gatsby (bürgerlich James Gatz) hat sich, als er noch ein armer Junge war, unsterblich in die reiche Daisy verliebt, wurde aber von ihr getrennt; jetzt, wo er durch undurchsichtige Geschäfte noch reicher als sie damals geworden ist und er sie endlich wiederfindet, stellt sich nachträglich (und gegen seinen heftigen Widerstand) heraus, dass er eigentlich gar nicht sie gemeint hat, sondern die ganze Sphäre, der sie angehört, ihren Reichtum also.
„,Daisys Stimme klingt so indiskret‘. Sagte ich. ,Sie ist so . . .‘. ‚Ihre Stimme klingt nach Geld‘, sagte er (Gatsby) plötzlich. Das war es. Ich hatte es nie verstanden. Sie klang nach Geld – darin lag der unerschöpfliche Charme, der in ihr an- und abschwoll, das Klimpern, der silbrige Zimbelklang. Hoch oben in einem weißen Palast, die Königstochter, das goldene Mädchen . . . .“ Hier kulminiert in unaufdringlicher Weise die hohe Ironie des Buchs: dass das Persönlichste, als welches man Liebreiz und Liebe gern reklamiert, geradewegs vom Allerallgemeinsten gezeitigt worden ist. Aber der Erzähler bringt das Geld zum Tanzen. Und er verwirft seine Figuren nicht. Sie tun sehr hässliche Dinge, was indes so beiläufig erwähnt wird, dass man die Stelle noch einmal liest, um wirklich zu glauben, was dasteht. Es ist, mit einem Wort, trotz seines klaren Handlungsgangs ein schlechthin unerschöpfliches Buch.
Ein solches kommt in seiner Ursprungssprache gar nicht recht zu sich selbst. Das Paradox, dass das Werk eine Einheit darstellt, seine Bedeutung aber eine vielfache sein muss, erlangt sichtbare Gestalt erst dort, wo die Übersetzung sich seiner annimmt. Die Übersetzung löst sich vom manifesten Leib des Texts wie die Seele vom sterbenden Körper und flattert in nervösen Gesten um ihn herum; erst jetzt wird sie, die sich bisher im Körper versteckt hielt, als Seele eigentlich sichtbar. Reine Bequemlichkeit ist es, die kanonische Übersetzung zu fordern, die ein für alle Mal gälte und an der man dann nicht mehr zu zweifeln und herumzukritteln braucht; gerade als multiple und daher spürbar stets unvollkommene erweist sie dem Werk ihre größte Huldigung. Und so ist es zu begrüßen, dass es vom großen Gatsby gegenwärtig nicht weniger als vier lieferbare deutsche Versionen gibt, darunter zwei nagelneue (Francis Scott Fitzgerald: Der große Gatsby. Roman. Aus dem Englischen von Reinhard Kaiser. Insel Verlag, Berlin 2011, 213 S., 22,90 Euro, und F. Scott Fitzgerald: Der große Gatsby. Roman. Neu übersetzt, mit einem Nachwort und Anmerkungen von Lutz-W. Wolff. dtv, München 2011, 256 S., 9,90 Euro).
Das Buch beginnt: „In my younger and more vulnerable years my father gave me some advice that I’ve been turning over in my mind ever since. ,Whenever you feel like criticizing any one‘, he told me, ,just remember that all the people in this world haven’t had the advantages that you have had.‘ He didn’t say any more, but we’ve always been unusually communicative in a reserved way, and I understood that he meant a great deal more than that.“
So führt sich der Erzähler ein, dessen Naturell, wie gesagt, sich ganz in den Dienst der novellistischen Aufgabe gestellt hat. Die Einfachheit dieser Sprache täuscht, indem sie den Hinweis darauf verbirgt, dass auch die Einfachheit dieser Geschichte täuschen wird. Das implizite Einverständnis zwischen Erzähler und Hörer, in dem das Geheimnis einer guten Geschichte liegt, hat hier das Gleichnis der gelingenden Beziehung von Vater und Sohn gefunden: Sie lieben einander, aber zu dieser Liebe gehört es unverbrüchlich, dass sie sich nicht direkt äußert, sondern in einer Spurensprache, die nur die beiden selbst dekodieren können. Dies ist das Formgesetz ihrer Liebe. So ergibt sich der scheinbare Widerspruch, dass die beiden „in a reserved way“ „unusually communicative“ waren, und „he meant a great deal more than that“. Das Gemeinte ist also im Text zugleich da und weg – eine echte Herausforderung für den Übersetzer!
Auch die „more vulnerable years“ stellen ein nicht geringes Problem dar. Wolff will am Original möglichst dicht dranbleiben und spricht von den „verletzlicheren Jahren“. Ähnlich halten es Johanna Ellsworth (Nikol Verlag, Hamburg 2011. 159 S., 4,95 Euro) und Bettina Abarbanell (Diogenes Verlag, Zürich 2001. 249 S., 9,90 Euro), die für „verwundbarer“ optieren. Aber das schießt im Deutschen übers Ziel hinaus, denn es sollen hier gerade keine Wunden gezeigt, sondern eine Verständigung auf Basis des Understatements vorgeführt werden.
Kaiser erkennt die Gefahr; bei ihm ist Nick lediglich „leichter zu beeindrucken“. Dabei jedoch schleicht sich ein gewisser kaltschnäuziger Verdacht ein: Als ob der Erzähler es inzwischen besser wüsste, als den Morallehren seines alten Herrn auf den Leim zu gehen. Beides liegt in entgegengesetzter Richtung ungefähr gleich weit von dem, was der Text sagt, in einer unerreichbaren Mitte.
„Whenever you feel like criticizing any one“ – da erlaubt sich Kaiser mit Rücksicht auf die Üblichkeit mündlichen Sprechens ein abkürzendes Verfahren: „Wenn du an jemandem etwas auszusetzen hast“ (ähnlich Ellsworth). Die Zweiheit der Vorgänge, des „feeling“ (still) und des „criticizing“ (laut) ist damit freilich vernichtet. Abarbanell bewahrt sie in „Wann immer du jemanden kritisieren willst“, überinstrumentiert damit allerdings den mentalen Akt als einen des Wollens und haut auch mit dem „wann immer“ zu stark auf die Pauke, dem nur scheinbaren Äquivalent für „whenever“. Wulff macht aus der Zweiheit gar eine Dreiheit: „Jedes Mal, wenn du glaubst, jemanden kritisieren zu müssen“ und gerät, indem er zusätzlich „müssen“ und „glauben“ trennt, aufs Gelände der Haarspalterei.
Am schwierigsten ist natürlich „unusually communicative in a reserved way“. Hier müssen alle Übersetzer Abstriche an der Komplexität des Gedankens machen. Wulff: „aber wir haben uns schon immer auf sehr zurückhaltende Weise verstanden“ – hier ist die paradoxale Struktur des Satzes so ziemlich zerstört. Kaiser: „aber auf eine zurückhaltende Weise verstanden wir uns immer ungemein gut“. Hier ist sie teilweise erhalten, aber um den Preis einer gewissen Umständlichkeit. Abarbanell: „doch da wir uns auf eine diskrete Weise stets hervorragend verstanden haben“ – im „hervorragend“ hat sich das Verschwiegene und höchstens Andeutende, das in „unusually“ steckt, in die offene Prahlerei verwandelt. Etwas gedämpfter und darum dem Gehalt des Originals wohl am nächsten wählt Ellsworth: „doch da wir uns auf eine zurückhaltende Art immer sehr gut verstanden haben“. Warum jedoch will keiner der vier sich ernsthaft auf das „unusually“ einlassen? Denn dass diese Beziehung, unter ihrem unscheinbaren Deckmantel, in Wirklichkeit etwas Ungewöhnliches sei, macht ihr Glück und ihren geheimen Stolz aus – und, wie man hinzusetzen darf, den dieser Geschichte.
So könnte man die vier Übersetzungen Satz für Satz und Zeile für Zeile vergleichen, wäre nie zufrieden und bezöge immer neue Erleuchtungen über den umstrittenen Gegenstand. Denn dies ist das Schöne an ihrer einfallsreichen Unzulänglichkeit: Wie wenn man Ministern zuhörte, die sich um Ohr und Gunst des Monarchen zanken, gewinnt man vertieften Respekt vor dem Absoluten des Werks und zugleich erschrockene Einsicht ins immer Prekäre seines Gelingens.
BURKHARD MÜLLER
Dies ist, trotz seines klaren
Handlungsgangs, ein
schlechthin unerschöpfliches Buch
Reine Bequemlichkeit ist es, die
kanonische Übersetzung zu
fordern, die ein für alle Mal gälte
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