Viktor Jerofejews epischer Roman ist ein brillantes Schelmenstück, das vom Aufstieg Putins handelt, der als Großer Gopnik das verkörpert, was eigentlich nicht möglich sein sollte: einen Halbstarken, einen Rowdy, einen Proll, der nicht nur bis in die höchste Machtzentrale vordringt, sondern sich dort auch hält. Das kann sich nur jemand ausgedacht haben! Aber wer? Jemand, der von seiner Mutter für talentlos gehalten wird und dessen Vater wegen der Veröffentlichung eines kritischen Texts seinen Posten als hochrangiger Diplomat verliert, ein Autor, der niemals so radikal wie seine Schwester O. sein wird, die dem postsowjetischen Russland mithilfe der Pornografie den Spiegel vorhält, und der trotzdem mehr als einmal aus dem Schriftstellerverband fliegt und heute im Exil in Deutschland lebt. Und so erzählt Jerofejew die Geschichte des heutigen Russlands aus der Perspektive des Schriftstellers – dem es freisteht, sich durch Zeit und Raum zu bewegen, Figuren auf- und abtreten zu lassen, Dinge dazuzuerfinden und Erlebtes, Gehörtes und Gesehenes als Schwindel zu entlarven. Jerofejew wagt nicht weniger als eine literarische Erklärung für das, was heute passiert: Der Große Gopnik ist eine rasante und ironische, zuweilen auch zynische Bewegung durch Zeit und Raum, in der sich Stalin, Putin und die Eltern des Schriftstellers, seine Schriftstellerkollegen und seine Frauen wie zum Abendessen an einem Tisch wiederfinden, um die eine unlösbare Frage zu stellen: Wie konnte es nur so weit kommen?
Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Die Titelfigur des neuen Romans Viktor Jerofejews, der große Gopnik, ist niemand anderes als Wladimir Putin, stellt Rezensentin Angela Gutzeit fest. Jerofejews Roman präsentiere Putin als Nachfolger, beziehungsweise in einer Szene buchstäblich als Ausgeburt Stalins und zeichne auch ansonsten Russland als ein moralisch komplett bankrottes Land. Nicht Putin selbst steht im Zentrum, stellt die Rezensentin klar, vielmehr geht es um die russische Mentalität, die historisch kaum einmal mit der Idee der Freiheit in Berührung gekommen ist. Auch der Autor selbst spielt mitsamt seiner familiären Herkunft eine wichtige Rolle in dem Roman, in dem diverse Fiktionen, Visionen und auch Essayistisches sowie Reflexionen über den Ukrainekrieg wild durcheinandergeworfen werden, wie Gutzeit erläutert. Auch Jerofejews intellektueller Werdegang wird reflektiert, und schließlich verdoppelt sich der Autor, indem er sich selbst eine Schwester erdichtet, die als Pornoregisseurin so radikal mit der Gesellschaft bricht, wie er selbst es nie vermochte. Nicht wenige Spuren führen in diesem Monstrum von einem Roman außerdem zu Dostojewski, so die Rezensentin, die kritisch anmerkt, dass das Buch bei all dem nicht frei ist von Eitelkeit und Sexismus. Toll findet sie das Ergebnis immer dann, wenn Jerofejew seiner wilden, wütenden Fantasie freien Lauf lässt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.2023Der freche Krieger ist unbesiegbar
Viktor Jerofejew erklärt in seiner fiktionalisierten Doppelbiographie "Der Große Gopnik", wie Wladimir Putin zum Volkszaren wurde.
Von Kerstin Holm
Von Kerstin Holm
Mit seinem neuen, wild zerklüfteten Roman "Der Große Gopnik" dürfte Viktor Jerofejew die russische Vokabel für bildungsferne Jugendliche, die sich mittels Gewalttaten Respekt verschaffen, endgültig dem deutschen Wortschatz einverleiben wie Sputnik oder Pogrom. Mit dem Terminus, der ursprünglich kriminell sozialisierte Bürgerkriegskinder bezeichnete (die Abkürzung GOP stand in den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts für "Städtische Wohnheime des Proletariats"), wird oft der psychosoziale Typ von Präsident Putin charakterisiert, der Zusatz "groß", der an den "Großen Gatsby" denken lässt, evoziert, wie der gesellschaftliche Abschaum den Machtgipfel erklimmt.
Tatsächlich ist das sechshundert Seiten starke Buch, das noch vor einer Publikation des russischen Originals bei Matthes & Seitz auf Deutsch herauskommt, ein Putin-Roman, obwohl - oder vielleicht gerade weil - nie sein Name fällt. Es schildert zugleich in weiten zeitlichen und räumlichen Sprüngen das Putinsche Russland, wie der Autor es erlebt hat, einschließlich seiner Voraussetzungen im Kalten Krieg, den Jerofejews Vater als Diplomat zu führen hatte. Jerofejew kommt zu dem Befund, den er zuvor schon in Essays für die F.A.Z. formulierte, dass Russlands Großer Gopnik bei seiner nach außen wie innen immer destruktiveren Politik den Großteil der Bevölkerung hinter sich hat. Denjenigen russischen Oppositionspolitikern und Intellektuellen, die an tragfähige proeuropäische Strömungen in der Bevölkerung glauben, bescheinigt er, für ihr Land blind zu sein.
Das Buch ist aber auch ein ultimativer Ich-Roman, Jerofejew baut alle Szenen um die eigene Person herum und definiert sein Leben entsprechend als kumulative Großstadt, wo sich der Rote Platz ebenso findet wie eine chinesische Grenzregion, russische Provinzödnis und afrikanische Exotika. Der Jerofejew-Fan erkennt Passagen aus früheren Reportagen, auch des Autors Eltern, die Helden seiner Autobiographie "Der gute Stalin", treten wieder auf, nun vornehmlich im Kontext von Alter und Tod, aber auch als postume Geister. Lebende Prominente - wie die Schriftstellerkollegen Vladimir Sorokin und Sachar Prilepin oder der Oligarch und einstige Präsidentschaftskandidat Michail Prochorow - werden durch Spitznamen markiert und maskiert. Alles verbindet sich zur fiktionalisierten Doppelbiographie des Autors, der als Diplomatenkind mit den Spielen des Kremls ebenso intim vertraut ist wie mit Marquis de Sade und dem französischen Existenzialismus, aber auch der des Gopniks, der angetreten ist, das Imperium wiederherzustellen, zu dem Zweck ein Banditenregime errichtet und schließlich in die Ukraine einfällt.
Dank seiner privilegierten Jugend und seines Naturells wird der Ich-Held ein weltläufiger Bonvivant, das Kind wird mit Kaviar gefüttert, der junge Mann kleidet sich wie ein Filmstar, hat ein reiches Sexleben und Geliebte, um die Freunde ihn beneiden. Ein größerer Kontrast zur Sozialisation des Gopnik ist kaum denkbar. Eine Filmset-Szene imaginiert dessen Leningrader Hinterhofmilieu, wo Kinderganoven sich in Überfällen üben. Ein Studentenheimmitbewohner charakterisiert ihn als hinterfotzig, nachtragend, unbeliebt. Einem französischen Aufklärer klagt er, seine große Jugendliebe habe ihn verschmäht. Als Jerofejew dem Präsident gewordenen Gopnik begegnet, erinnert ihn dessen breitbeinige Pose an einen Leibwächter der eigenen Komplexe. Der Leser kann sich vorstellen, dass ein solcher Typ nicht nur in Russland viele Leute bei ihren Befindlichkeiten abholen kann.
Jerofejew findet im Kreml immerhin einen intellektuell ihm ebenbürtigen Gesprächspartner, den er Stawrogin nennt, nach dem charismatisch-diabolischen Ideenausbrüter in Dostojewskis "Dämonen". Die Figur, in der man unschwer Wladislaw Surkow, den Architekten und Ideologen des Putinsystems, erkennt, erklärt dem Erzähler, das ständig von Zerfall bedrohte Russland erstarke nur durch "Kriegsspielchen", die zum Schulterschluss des Volkes mit der Staatsmacht und zum Aussortieren von "Verrätern" führten. Stawrogin, der wie Surkow auch literarisch tätig ist, schreibt wie dieser ein Poem über Machtmissbrauch und soziale Missstände, sieht als einzige Lösung jedoch rabiate Ordnung. Und auch den ukrainischen Nachbarn, in deren sonnigem Hedonismus und lebensbejahendem Verhältnis zur Arbeit Jerofejew eine Chance für Russland sieht, will Stawrogin-Surkow keinen eigenen Weg zugestehen.
Das System, das sich in Russland durchgesetzt hat, ist das der Ponjatka, ein freches Kurzwort für die "Auffassungen" (Ponjatija) des ungeschriebenen Kriminellenkodex, die unter dem Gopnik verbindlich wurden. Es ist das archaische Gesetz der Stärke, wie es in prekären Milieus gilt, wo der Sieg über Gegner den höchsten Wert darstellt. Empathie, Verantwortung, Freiheit, Wahlen sind nach diesem Kodex etwas für Schwächlinge und Idioten. Der aggressive, antiintellektuelle Reduktionismus der Ponjatka, der lustvoll andere Menschen und Nationen mit herabwürdigenden Spottnamen etikettiert, ist in Russland so erfolgreich, dass Jerofejew dessen heutige Gesellschaft zum Großen Gopnik erklärt. Was auch dadurch möglich wurde, dass die Mehrheit seiner Bewohner nicht in Kategorien historischer Fortentwicklung denkt, sondern, nicht zuletzt durch den übermächtigen Raum, in einem magischen, die Welt in Eigenes und Fremdes teilenden Bewusstsein verharrt. Das mythische Denken des Zaubermärchens, das vom Großen Gopnik instrumentalisiert wird, macht, so Jerofejew, den Diktator zum vom Volk geliebten Zaren, der Feinde besiegt und dessen Bluttaten unwichtig sind.
Russlands Großangriff auf die Ukraine hat den lange vor dem 24. Februar 2022 begonnenen Text gezeichnet und macht ihn zur fiktionalisierten Introduktion in die reale Katastrophe, die in Kursivkommentaren mit dem traumatischen Datum immer wieder aufblitzt. Russland sei vom Stalinvirus durchseucht, notiert Jerofejew angesichts der Bevölkerungsmehrheit, die heute Stalin, von dem sie wissen, dass er ihre Landsleute massenweise hinmorden ließ, als positive Schlüsselfigur in der russischen Geschichte betrachten. Stalin sei Russlands mächtiger Gärtner gewesen, erkennt der Autor, er habe - wie eine neue Gemüsesorte - einen neuen Menschen gezüchtet, der ihm sein Leben und seinen Tod widmen würde. Und der Gopnik, der Stalins Sache fortsetze, sei wie ein Giftpilz, der im russischen Ökosystem zur Größe eines Hauses herangewachsen sei. Jerofejew gibt jedoch auch den russischen Liberalen wegen ihrer Arglosigkeit sowie sich selbst wegen seiner falschen "Toleranz" eine Mitschuld.
Jerofejew malt mit dickem Pinselstrich, seine Zeitdiagnostik zieht schrille Bilder soziologisch-politischen Argumenten vor. Die globale Populismuskonjunktur samt Bildungskrise wird bei ihm zur Pandemie der Dummheit, die in poetischer Analogie zum Coronavirus die Menschen im Westen vertieren, sterben oder Neonazis wählen lässt, zur Freude der Gopniks. In Russland ist die Krankheit konstitutionell und wird als Voraussetzung für die Gopnik-Herrschaft noch künstlich verstärkt. Das Resultat waren Gräueltaten wie jene in Butscha, wo vielfach junge russische Soldaten hirnlos auf Zivilisten schossen, als ballerten sie in einem Computerspiel.
Das Gopniktum ist eine anthropologische Konstante, das hat auch der Autor an sich erfahren, als er in der Pubertät einen Jungen verhöhnte und eine Katze erschoss und sich daran berauschte. Doch in Russland wurden Gopniks der Staatssicherheit, die ungestraft Intellektuellen, Andersdenkenden oder von ihnen verführten Jugendlichen das Leben zerstören, zur Klammer des Staates. Dass ein ganzes Volk sich mit den brutalen Gopnik-Regeln identifiziert, erklärt Jerofejew durch widrige Lebensbedingungen und ein hartes Sozialklima. Russlands kollektiver Gopnik sieht sich jetzt als Nation stolzer Krieger. Deren Apotheose, der Große Gopnik, fordert, getrieben vom unversiegbaren Kraftstoff des Ressentiments und dem Verteidigungsunwillen der Europäer, mit seinem Krieg gegen die Ukraine die westliche Welt heraus, die ihm nicht den von ihm beanspruchten Status zuerkannte. Das imponiert vielen.
Kann Europa die Kraftprobe bestehen? Jerofejew glaubt zwar, dass der Westen das Ausmaß der Bedrohung endlich erkannt habe. Doch ihr pazifistisches Wesen, das den Krieg mit heraufbeschworen hat, könnten die westlichen Gesellschaften nicht ändern. Der Große Gopnik verachtet Europa als glaubens- und hilflose Zivilisation ohne zukunftsfähige Kultur. Aber auch Jerofejew meint, Europas Abkopplung von jeglicher metaphysisch-religiöser Dimension und seine allzu egalitäre Demokratieauffassung schwächten es. Sein diagnostisches Spiegelbild seiner Heimat und deren Machthaber ist der Roman der schicksalhaften Stunde.
Viktor Jerofejew: "Der Große Gopnik". Aufzeichnungen über das lebende und das tote Russland. Roman.
Aus dem Russischen von Beate Rausch. Matthes & Seitz, Berlin 2023. 614 S., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Viktor Jerofejew erklärt in seiner fiktionalisierten Doppelbiographie "Der Große Gopnik", wie Wladimir Putin zum Volkszaren wurde.
Von Kerstin Holm
Von Kerstin Holm
Mit seinem neuen, wild zerklüfteten Roman "Der Große Gopnik" dürfte Viktor Jerofejew die russische Vokabel für bildungsferne Jugendliche, die sich mittels Gewalttaten Respekt verschaffen, endgültig dem deutschen Wortschatz einverleiben wie Sputnik oder Pogrom. Mit dem Terminus, der ursprünglich kriminell sozialisierte Bürgerkriegskinder bezeichnete (die Abkürzung GOP stand in den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts für "Städtische Wohnheime des Proletariats"), wird oft der psychosoziale Typ von Präsident Putin charakterisiert, der Zusatz "groß", der an den "Großen Gatsby" denken lässt, evoziert, wie der gesellschaftliche Abschaum den Machtgipfel erklimmt.
Tatsächlich ist das sechshundert Seiten starke Buch, das noch vor einer Publikation des russischen Originals bei Matthes & Seitz auf Deutsch herauskommt, ein Putin-Roman, obwohl - oder vielleicht gerade weil - nie sein Name fällt. Es schildert zugleich in weiten zeitlichen und räumlichen Sprüngen das Putinsche Russland, wie der Autor es erlebt hat, einschließlich seiner Voraussetzungen im Kalten Krieg, den Jerofejews Vater als Diplomat zu führen hatte. Jerofejew kommt zu dem Befund, den er zuvor schon in Essays für die F.A.Z. formulierte, dass Russlands Großer Gopnik bei seiner nach außen wie innen immer destruktiveren Politik den Großteil der Bevölkerung hinter sich hat. Denjenigen russischen Oppositionspolitikern und Intellektuellen, die an tragfähige proeuropäische Strömungen in der Bevölkerung glauben, bescheinigt er, für ihr Land blind zu sein.
Das Buch ist aber auch ein ultimativer Ich-Roman, Jerofejew baut alle Szenen um die eigene Person herum und definiert sein Leben entsprechend als kumulative Großstadt, wo sich der Rote Platz ebenso findet wie eine chinesische Grenzregion, russische Provinzödnis und afrikanische Exotika. Der Jerofejew-Fan erkennt Passagen aus früheren Reportagen, auch des Autors Eltern, die Helden seiner Autobiographie "Der gute Stalin", treten wieder auf, nun vornehmlich im Kontext von Alter und Tod, aber auch als postume Geister. Lebende Prominente - wie die Schriftstellerkollegen Vladimir Sorokin und Sachar Prilepin oder der Oligarch und einstige Präsidentschaftskandidat Michail Prochorow - werden durch Spitznamen markiert und maskiert. Alles verbindet sich zur fiktionalisierten Doppelbiographie des Autors, der als Diplomatenkind mit den Spielen des Kremls ebenso intim vertraut ist wie mit Marquis de Sade und dem französischen Existenzialismus, aber auch der des Gopniks, der angetreten ist, das Imperium wiederherzustellen, zu dem Zweck ein Banditenregime errichtet und schließlich in die Ukraine einfällt.
Dank seiner privilegierten Jugend und seines Naturells wird der Ich-Held ein weltläufiger Bonvivant, das Kind wird mit Kaviar gefüttert, der junge Mann kleidet sich wie ein Filmstar, hat ein reiches Sexleben und Geliebte, um die Freunde ihn beneiden. Ein größerer Kontrast zur Sozialisation des Gopnik ist kaum denkbar. Eine Filmset-Szene imaginiert dessen Leningrader Hinterhofmilieu, wo Kinderganoven sich in Überfällen üben. Ein Studentenheimmitbewohner charakterisiert ihn als hinterfotzig, nachtragend, unbeliebt. Einem französischen Aufklärer klagt er, seine große Jugendliebe habe ihn verschmäht. Als Jerofejew dem Präsident gewordenen Gopnik begegnet, erinnert ihn dessen breitbeinige Pose an einen Leibwächter der eigenen Komplexe. Der Leser kann sich vorstellen, dass ein solcher Typ nicht nur in Russland viele Leute bei ihren Befindlichkeiten abholen kann.
Jerofejew findet im Kreml immerhin einen intellektuell ihm ebenbürtigen Gesprächspartner, den er Stawrogin nennt, nach dem charismatisch-diabolischen Ideenausbrüter in Dostojewskis "Dämonen". Die Figur, in der man unschwer Wladislaw Surkow, den Architekten und Ideologen des Putinsystems, erkennt, erklärt dem Erzähler, das ständig von Zerfall bedrohte Russland erstarke nur durch "Kriegsspielchen", die zum Schulterschluss des Volkes mit der Staatsmacht und zum Aussortieren von "Verrätern" führten. Stawrogin, der wie Surkow auch literarisch tätig ist, schreibt wie dieser ein Poem über Machtmissbrauch und soziale Missstände, sieht als einzige Lösung jedoch rabiate Ordnung. Und auch den ukrainischen Nachbarn, in deren sonnigem Hedonismus und lebensbejahendem Verhältnis zur Arbeit Jerofejew eine Chance für Russland sieht, will Stawrogin-Surkow keinen eigenen Weg zugestehen.
Das System, das sich in Russland durchgesetzt hat, ist das der Ponjatka, ein freches Kurzwort für die "Auffassungen" (Ponjatija) des ungeschriebenen Kriminellenkodex, die unter dem Gopnik verbindlich wurden. Es ist das archaische Gesetz der Stärke, wie es in prekären Milieus gilt, wo der Sieg über Gegner den höchsten Wert darstellt. Empathie, Verantwortung, Freiheit, Wahlen sind nach diesem Kodex etwas für Schwächlinge und Idioten. Der aggressive, antiintellektuelle Reduktionismus der Ponjatka, der lustvoll andere Menschen und Nationen mit herabwürdigenden Spottnamen etikettiert, ist in Russland so erfolgreich, dass Jerofejew dessen heutige Gesellschaft zum Großen Gopnik erklärt. Was auch dadurch möglich wurde, dass die Mehrheit seiner Bewohner nicht in Kategorien historischer Fortentwicklung denkt, sondern, nicht zuletzt durch den übermächtigen Raum, in einem magischen, die Welt in Eigenes und Fremdes teilenden Bewusstsein verharrt. Das mythische Denken des Zaubermärchens, das vom Großen Gopnik instrumentalisiert wird, macht, so Jerofejew, den Diktator zum vom Volk geliebten Zaren, der Feinde besiegt und dessen Bluttaten unwichtig sind.
Russlands Großangriff auf die Ukraine hat den lange vor dem 24. Februar 2022 begonnenen Text gezeichnet und macht ihn zur fiktionalisierten Introduktion in die reale Katastrophe, die in Kursivkommentaren mit dem traumatischen Datum immer wieder aufblitzt. Russland sei vom Stalinvirus durchseucht, notiert Jerofejew angesichts der Bevölkerungsmehrheit, die heute Stalin, von dem sie wissen, dass er ihre Landsleute massenweise hinmorden ließ, als positive Schlüsselfigur in der russischen Geschichte betrachten. Stalin sei Russlands mächtiger Gärtner gewesen, erkennt der Autor, er habe - wie eine neue Gemüsesorte - einen neuen Menschen gezüchtet, der ihm sein Leben und seinen Tod widmen würde. Und der Gopnik, der Stalins Sache fortsetze, sei wie ein Giftpilz, der im russischen Ökosystem zur Größe eines Hauses herangewachsen sei. Jerofejew gibt jedoch auch den russischen Liberalen wegen ihrer Arglosigkeit sowie sich selbst wegen seiner falschen "Toleranz" eine Mitschuld.
Jerofejew malt mit dickem Pinselstrich, seine Zeitdiagnostik zieht schrille Bilder soziologisch-politischen Argumenten vor. Die globale Populismuskonjunktur samt Bildungskrise wird bei ihm zur Pandemie der Dummheit, die in poetischer Analogie zum Coronavirus die Menschen im Westen vertieren, sterben oder Neonazis wählen lässt, zur Freude der Gopniks. In Russland ist die Krankheit konstitutionell und wird als Voraussetzung für die Gopnik-Herrschaft noch künstlich verstärkt. Das Resultat waren Gräueltaten wie jene in Butscha, wo vielfach junge russische Soldaten hirnlos auf Zivilisten schossen, als ballerten sie in einem Computerspiel.
Das Gopniktum ist eine anthropologische Konstante, das hat auch der Autor an sich erfahren, als er in der Pubertät einen Jungen verhöhnte und eine Katze erschoss und sich daran berauschte. Doch in Russland wurden Gopniks der Staatssicherheit, die ungestraft Intellektuellen, Andersdenkenden oder von ihnen verführten Jugendlichen das Leben zerstören, zur Klammer des Staates. Dass ein ganzes Volk sich mit den brutalen Gopnik-Regeln identifiziert, erklärt Jerofejew durch widrige Lebensbedingungen und ein hartes Sozialklima. Russlands kollektiver Gopnik sieht sich jetzt als Nation stolzer Krieger. Deren Apotheose, der Große Gopnik, fordert, getrieben vom unversiegbaren Kraftstoff des Ressentiments und dem Verteidigungsunwillen der Europäer, mit seinem Krieg gegen die Ukraine die westliche Welt heraus, die ihm nicht den von ihm beanspruchten Status zuerkannte. Das imponiert vielen.
Kann Europa die Kraftprobe bestehen? Jerofejew glaubt zwar, dass der Westen das Ausmaß der Bedrohung endlich erkannt habe. Doch ihr pazifistisches Wesen, das den Krieg mit heraufbeschworen hat, könnten die westlichen Gesellschaften nicht ändern. Der Große Gopnik verachtet Europa als glaubens- und hilflose Zivilisation ohne zukunftsfähige Kultur. Aber auch Jerofejew meint, Europas Abkopplung von jeglicher metaphysisch-religiöser Dimension und seine allzu egalitäre Demokratieauffassung schwächten es. Sein diagnostisches Spiegelbild seiner Heimat und deren Machthaber ist der Roman der schicksalhaften Stunde.
Viktor Jerofejew: "Der Große Gopnik". Aufzeichnungen über das lebende und das tote Russland. Roman.
Aus dem Russischen von Beate Rausch. Matthes & Seitz, Berlin 2023. 614 S., geb., 28,- Euro.
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