Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Michael Gamper über Masse und die Macht des Einzelnen
Dass "große Männer" die Geschichte machen, war im neunzehnten Jahrhundert eine verbreitete Auffassung, die nicht nur die deutsche Geschichtswissenschaft in ihren Anfängen prägte. Die Konzentration der Historiographie auf die "Geschichte von oben" spiegelte sich in zeitgenössischen Dramen ebenso wie in der französisch- und englischsprachigen Literatur. Die Kategorie des "großen Mannes" wurde dabei zu einer dominanten gesellschaftlichen Diskursfigur, der auch eine machtpolitische Bedeutung zukam.
Heute dagegen klingt die Rede von den "großen Männern", die das Weltgeschehen lenken, befremdlich. Lohnt es sich trotzdem, die Geschichte dieses Geschichtsbildes noch einmal neu zu erzählen? Der Germanist Michael Gamper unternimmt den Versuch. Seine Idee ist gut: Indem er den "großen Mann" als "Phantom der Imagination und Manifestation von Medien" begreift, erschließt er gefragte Forschungsbereiche der Imaginär- und Gefühlspolitik. Gleichzeitig hat die Diskursfigur des "großen Mannes" bei Gamper auch eine gesellschaftspolitische Funktion: Sie erscheint als Gegenpol zur aufkommenden "Masse".
Doch trotz seiner gründlichen Arbeit verschenkt Gamper in weiten Teilen dieses Potential. Sein Gang durch die politische Ideengeschichte von Machiavelli über Hobbes zu Max Weber ist ebenso wohlgeordnet wie seine Analyse der Dramen von Schiller, Kleist und Hebbel. Die mediale Rezeption Napoleons erfährt, was sehr plausibel ist, besondere Beachtung, die Leser können einiges über den Denkmalkult des neunzehnten Jahrhunderts, über Nietzsche, Abbé de Saint-Pierre und Gustave Le Bon lernen.
Aber das Buch ist ohne rechten Schwung geschrieben. Gampers Ausführungen zu der von ihm verwendeten Literatur - die in vielen Fällen bereits breit erforscht ist - geraten langatmig und zuweilen unnötig gestelzt. Die interessantesten Fragen spart Gamper aus. Was genau ist zum Beispiel das "politische Phantasma", von dem er im Untertitel spricht? Wo verlaufen die Grenzlinien zwischen Konstruktion und Realität? Wenn die Macht des "großen Mannes" stets eine "zugestandene Macht" ist, wie Gamper schreibt, wie lässt sich dann erklären, dass das Attribut der Größe längst nicht allen Mächtigen verliehen wird? Ist Größe immer nur das zufällige Ergebnis der jeweiligen Umstände?
"Größe ist, was wir nicht sind", schrieb der Kulturhistoriker Jacob Burckhardt einst in seinen "Weltgeschichtlichen Betrachtungen". Dabei bezog er sich auch auf die "Repräsentanten des Geistes", vornehmlich Schriftsteller und Künstler, unter denen "große Männer" anzutreffen seien. Sie seien "zu unserem Leben notwendig", und "das Offenhalten des Geistes für jede Größe" sei "eine der wenigen sicheren Bedingungen des höheren geistigen Glückes". Bei Gamper kommen nicht nur in seiner Interpretation Burckhardts solch positive Anverwandlungen des Begriffs der Größe zu kurz. "Große Männer" und den Diskurs darüber als bloße Kontingenz der Geschichte zu betrachten gibt keine Antwort auf die Frage, was sie denn in der Wahrnehmung der anderen so groß machte.
Dass die Kategorie der Größe am Ende des neunzehnten Jahrhunderts zunehmend marginalisiert wurde, veranschaulicht Michael Gamper am Massenphänomen. Eine scharfe Gegenreaktion zeichnet er dabei anhand von Friedrich Nietzsche nach, der die "Zeiten der Nivellierung" gekommen sah und nach neuen "Möglichkeiten von ,Größe'" suchte. Als ",Größe' in Extremen" begreift Gamper Nietzsches "radikale Entgegensetzung zur Masse" und "Mittelmäßigkeit". Schon wurde der Ruf nach einem Führer laut, der die Masse bändigt und Ordnung wiederherstellt.
Von politiktheoretischer Relevanz ist jedoch noch ein anderer Sachverhalt, der in dem Buch kaum beleuchtet wird. Mit der Kategorie der "Masse" deutet sich an, was im zwanzigsten Jahrhundert zum Problem wird: die offenkundige Unvereinbarkeit von "Größe" und Demokratie. Der Gleichheitsanspruch der Demokratie geht nicht mit der machtpolitischen Figur des "großen Mannes" zusammen. Doch bedeutet das tatsächlich, dass jegliche Form des Herausragens im demokratischen Zeitalter illegitim ist? Mit dem Begriff des Charismas deutet Gamper zwar dieses Problem an, aber die Analyse bleibt unscharf.
Ein Fazit der ganzen aufwendigen Untersuchung fehlt. Brauchen wir nun mehr Größe? Brauchen wir weniger? Spitzt man die Argumentation des Autors zu, zeigen sich deren Grenzen. Denn wenn Größe immer nur eine Konstruktion ist und die Dekonstruktion darin besteht, sie als zufälliges Ergebnis zufälliger Umstände zu entlarven, sind die "großen Menchen" austauschbar. Goethe: nur eine Kontingenz der Geschichte! Picasso: schlummert in jedem von uns! Bach: reiner Zufall! - Sollte man es sich wirklich so einfach machen ?
HANNAH BETHKE
Michael Gamper: "Der große Mann". Geschichte eines politischen Phantasmas.
Wallstein Verlag, Göttingen 2016. 432 S., geb., 29,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main