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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Dramatiker auf neuem Weg: Joshua Sobols allegorischer Roman "Der große Wind der Zeit"
Der israelische Dramatiker Joshua Sobol, 1939 im Mandatspalästina geboren, wurde in den 1980er Jahren mit dem Stück "Ghetto" weltberühmt. Dessen legendäre Inszenierungen durch Regisseure wie Peter Zadek und Paulus Manker haben Theatergeschichte gemacht, und überrascht lernt man Sobol jetzt als Romancier kennen.
Neben seinem umfangreichen Bühnenwerk hat er kaum Prosa geschrieben, aber der 2017 im hebräischen Original erschienene Roman "Der große Wind der Zeit" wirft auch Licht auf Sobols Dramen. Er erzählt eine Familiengeschichte, die sich über vier Generationen erstreckt und als Allegorie auf das moderne Israel der letzten hundert Jahre gelesen werden kann.
Der Hauptstrang dieser Geschichte wird von zwei Protagonistinnen getragen. Libby, eine junge Soldatin, beendet soeben ihren Militärdienst. Da sie alle palästinensischen Dialekte beherrscht, hat sie Verdächtige verhört, die in den Gefängnissen der Armee sitzen, und das letzte Verhör vor ihrer Entlassung wühlt sie auf. Sie führt es mit einem jungen Palästinenser, der nie in Israel oder in den besetzten Gebieten gelebt hat, sondern in England, wo er eine Doktorarbeit über die Vorgeschichte des Staates Israel schreibt. Das Verhör wird zu einem Gespräch zweier gleichberechtigter Partner, und der junge Mann sagt zu ihr: "Dein Großvater hat meine Großmutter vertrieben." Das meint er zwar nur metaphorisch, aber nach ihrer Entlassung setzt Libby sich auf ihr Motorrad und fährt in den Kibbuz ihres neunzigjährigen Großvaters.
Der ist jedoch seit Langem kaum noch zu Hause. Auch er ist Motorradfahrer; auf seiner alten Harley-Davidson, Baujahr 1943, durchstreift er das Land und ist auch jetzt unterwegs. In seinem Haus im Kibbuz findet Libby die Tagebücher ihrer Urgroßmutter Eva, der Mutter des Großvaters. In tagelanger Lektüre vertieft sie sich in ihr Leben und lässt den Leser daran teilnehmen.
Eva war eine junge Jüdin aus begütertem Haus, als sie nach dem Ersten Weltkrieg aus Wien nach Palästina kam. Das tat sie gegen den Willen ihrer reichen, assimilierten Eltern, die den Zionismus verabscheuten. Sie wurde Mitglied eines Kibbuz, in dem kommunistische Verhältnisse herrschten, hatte eine Liebesaffäre mit einem Araber, der später den Aufstand gegen die Juden anführte, die vor Hitler nach Palästina flohen, und ihren Sohn, Libbys Großvater, hatte sie mit einem Kibbuznik aus dem Jemen.
Die Lebensgeschichte der Urgroßmutter wird uns freilich nicht als ein Text präsentiert, den Libby liest, sondern als ein Schau-Spiel, das aus den Seiten der Tagebücher lebendig in Libbys schöpferische Vorstellung tritt und in vielen Kapiteln des Romans sichtbar wird. Denn auch als Erzähler bleibt Sobol ein Bühnenschriftsteller, und am Ende der Tagebücher schließt sich ein Kreis. Eva wird sehr alt, mehr als hundert Jahre, als sie stirbt, und die Kinderzeit ihrer Urenkelin Libby hat sie noch miterlebt. "Libby ist ich", lauten die letzten Worte ihrer Chronik, und das ist ein Schlüsselsatz des Romans.
Da ist sich der Leser längst bewusst, dass er Zeuge einer vielschichtigen Inszenierung wird. Nicht nur Libby, die verborgene Erzählerin vieler Kapitel des Romans, ist voller kreativer Fantasie, auch ihre Urgroßmutter war eine Künstlerin. Eva tritt als Tänzerin auf. Als sie ihren Sohn zur Welt gebracht hat, überlässt sie ihn der kollektiven Kindererziehung im Kibbuz und fährt nach Berlin, um sich in ihrer Kunst fortzubilden.
Es sind die letzten Jahre der Weimarer Republik, und während ihrer Ausbildung schließt Eva sich der Berliner Boheme an. Die tiefe Krise der Zeit, die in den Nationalsozialismus geführt hat, ist Sobol gut bekannt, er hat sie in mehreren Werken gestaltet, und diese Episoden sind auch deshalb interessant, weil sie einen hintergründigen Einblick in Sobols Poetologie gewähren.
Unter den Männern, mit denen Eva in Berlin in höchst unbürgerlichen Verhältnissen lebt, ist auch ein Mann vom Theater. Er hat keinen Namen, tritt nur unter dem Codewort "Lederjackett" auf und neigt dazu, Frauen wie Sklavinnen zu behandeln, was ihm bei Eva aber nicht gelingt. Sobol zeichnet hier ein wenig schmeichelhaftes Bild von Bertolt Brecht, und das ist bemerkenswert, weil Brecht das epische Theater erfunden hat, zu dessen Vertretern auch Sobol gehört.
In "Ghetto", seinem berühmtesten Stück, ist das deutlich zu sehen. Dort geht es um das Theater, das die Juden im Ghetto von Vilnius auf Geheiß des dortigen SS-Kommandeurs zu spielen haben. Ein solches Theater hat es in Vilnius tatsächlich gegeben, doch Sobol verwendet es als einen Verfremdungseffekt auf der Bühne seines Dramas, um die Zuschauer mit der Dialektik einer grauenhaften historischen Wirklichkeit zu konfrontieren.
In seinem Roman geht Sobol den umgekehrten Weg. Von Kapitel zu Kapitel setzt er das Epos einer Familiengeschichte in plastische, scharf umrissene Bilder um, die wie auf einer modernen Drehbühne zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten spielen. Wo sie das Leben der jungen Eva zeigen, weiß der Leser, dass es eigentlich ihre Urenkelin Libby ist, die sich den Text der Tagebücher auf solche Weise aneignet, und über diesen Vorgang einer Identifikation wird noch etwas zu sagen sein.
Die anderen Kapitel spielen in der Gegenwart und verlaufen parallel zu der Zeit, in der Libby die Tagebücher liest. Einige zeigen den Großvater, Evas Sohn, der auf seinem Motorrad durch das Land fährt, weil sein Kibbuz ihn enttäuscht hat. Die sozialistische Genossenschaft hat sich in einen kapitalistischen Betrieb verwandelt und den Großvater reich gemacht, aber damit will er nichts zu tun haben.
Viele Kapitel zeigen die vier Kinder des Großvaters: drei Söhne und eine Tochter. Einer gibt seinen Bauernhof im Jordantal auf, lässt sich von seiner Frau scheiden und beginnt ein neues Leben mit einer Thailänderin, die auf seinem Hof gearbeitet hat; der zweite ist Informatiker und will die digitale Welt zerstören, die uns alle versklavt; die Tochter führt ein wildes Leben in den Bars und Nachtklubs von Tel Aviv.
Wie der Großvater sind sie Aussteiger aus einer korrupten Gesellschaft, und der Roman zeigt einen Grund dafür. Als er 2017 erschien, war Benjamin Netanjahu auf dem Höhepunkt seiner Macht, und der dritte Sohn - ausgerechnet Libbys Vater - ist ein zynischer Politiker im rechten Lager, der vieles verkörpert, was unter Netanjahu zur unerträglichen Norm geworden ist. Ursprünglich kommt Joshua Sobol aus der linken Kibbuzbewegung, die es heute kaum noch gibt, und in seiner Allegorie lässt er noch einmal die verpassten Möglichkeiten aufscheinen, die es in Palästina einst gegeben hat.
Während Libby das keineswegs brave Pionierleben ihrer Urgroßmutter nachvollzieht, stellt sie auch für sich selbst die Weichen um. Am Ende des Verhörs hatte ihr der junge Palästinenser seine E-Mail-Adresse zugesteckt, und seither sind sie ständig im Kontakt. Einst hatte Eva eine Liebesbeziehung mit einem Araber gehabt, und als der Roman seinem offenen Ende entgegengeht, weiß der Leser es längst: Bald wird auch Libby in ein Flugzeug steigen, das sie nach England bringt.
JAKOB HESSING
Joshua Sobol: "Der große Wind der Zeit". Roman.
Aus dem Hebräischen von Barbara Linner. Luchterhand Literaturverlag, München 2021. 528 S., geb., 24,- [Euro].
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