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Von der Zerbrechlichkeit des Lebens: Anne von Canal erzählt in ihrem Roman "Der Grund" von der Trauer der "Estonia"-Angehörigen
Es gibt zwei Möglichkeiten, sich mit der "Estonia" zu befassen, die in den baltischen Aufbruchsjahren im Linienverkehr zwischen Schweden und Estland unterwegs war, bevor sie am 28. September 1994 auf halber Strecke in der Ostsee versank. Die erste läuft auf einen Thriller hinaus, auf eine nach den Verantwortlichen suchende Story, die aufgreift, was an Verschwörungstheorien im Raum schwebt. Das ist reizvoll, geht aber schnell in die Binsen, wie 2003 der Spielfilm "Baltic Storm" nach Ideen von Jutta Rabe gezeigt hat.
Die zweite ist nicht minder riskant. Sie macht eine Geschichte zum papierenen Denkmal für die Opfer. Und läuft dabei Gefahr, die Ostsee in ein Tränenmeer zu verwandeln, in dem der Leser für ein paar Euro herumplanschen darf.
Anne von Canal hat zum Gedenken an die Katastrophe vor zwanzig Jahren Variante zwei gewählt - und alles richtig gemacht. Natürlich kommt man auch bei ihr um ein paar Tränen nicht herum. Am Ende ihres Romans "Der Grund" aber werden wir bloß am Leuchtturm von Tahkuna stehen und die Totenglocke läuten, die man dort aufgehängt hat. Die Autorin hat einen sehr respektvollen Weg gefunden, an das Unglück mit seinen 852 Toten und die Trauer der Familien zu erinnern.
Vielleicht ist das Kernelement ihres Buchs, die Geschichte eines unglücklichen Pianisten, zu bürgerlich-brav - und was gibt es mittlerweile nicht alles an Musikern in der Literatur mit Skandinavien-Bezug, von Ketil Bjørnstads jungem Pianisten Aksel Vinding bis zum alten Orgelbauer Johannes Thomasson, dessen Frau in Robert Asbackas preisgekröntem "Das zerbrechliche Leben" an Bord der "Estonia" starb. "Der Grund" aber liest sich so flüssig herunter, dass man in die warme Kulissen-Ausleuchtung bereitwillig eintaucht. Und dass die Hauptfigur Victor Alexander Laurentius Simonsen Pianist an Bord eines Schiffs ist, ist eben auch Hommage: an Asbacka und Erik Fosnes Hansens "Titanic"-Roman "Choral am Ende der Reise". Die Autorin weiß, was sie tut. Sie ist Skandinavistin, war lange im Lektorat namhafter Verlage tätig, und als Übersetzerin einer Bestseller-Autorin kennt man sie auch.
Die eigentlichen "Estonia"-Passagen beschränkt sie auf einen sehr knappen, kaum drei Seiten kurzen impressionistischen Abschnitt. Stattdessen verfrachtet sie uns auf ein anderes Boot in einem anderen Meer, auf ein Kreuzfahrtschiff, das im August 2005, elf Jahre nach den Ereignissen in der Ostsee also, die Lagune von Venedig in Richtung Gibraltar und Dover verlässt: "Rosa hat alles kaputtgemacht. Und ich verstehe einfach nicht, warum."Der Verzweifelte, aus dessen Warte die mit Positionsangaben versehenen Logbuch-Passagen des Buchs erzählt sind, erweist sich nach wenigen Zeilen als gebrochener, sich nächtens in der Kabine wie in einem selbstgewählten Gefängnis verkriechender Mann: "Am liebsten möchte ich mir das Herz rausreißen." Wobei man ahnt, dass seine Trauer mit einem Kind zusammenhängt. Denn dass Rosa ein Kind erwartet, empört ihn. Das Leben empört ihn. Er wird von einem Jungen mit Kappe verfolgt.
Trotzdem bleibt lange offen, welche Rolle diesem Laurits an jenem Tag im Herbst 1994 zugedacht war, an dem die "Estonia" vor dem Südwesten Finnlands versank. War er damals an Bord? Bevor sie das enthüllt, blättert Anne von Canal in das Schweden der siebziger Jahre zurück, in dem Laurits als fleißig Klavierstunden absolvierender Arztsohn aufwuchs. In Vaters Arbeitszimmer schwamm ein Auge Stalins in einem Glas.
In dieser Welt, die schon vor der Sache mit der "Estonia" nicht so heil war, wie sie erscheinen wollte, spielen sich die Abendessen wie Theaterszenen ab. Da trifft Laurits auf Silja, deren Eltern im Kriegsherbst 1944 aus der estnischen Hafenstadt Pärnu geflohen waren. Die einen haben eine "unstillbare Sehnsucht" nach der Heimat jenseits der See. Der andere sucht erfolglos nach einem Notausgang, je weiter er sich im Leben verläuft.
Viel größer ist das Setting von "Der Grund" nicht. Viel lauter wird es auch nicht. Mit Feingespür für die historisch-kulturelle Verortung über Details und herausgeputzten Sätzen erzählt Anne von Canal einfach eine kleine zurückhaltende Geschichte, in der sich beide Länder spiegeln dürfen, zwischen denen die "Estonia" unterwegs war. Sie verdrängt keine der tausend echten Geschichten, die im Herbst 1994 zusammenfanden. Nur 137 Menschen überlebten, was im Sturm damals geschah.
MATTHIAS HANNEMANN.
Anne von Canal: "Der Grund". Roman.
Mare Verlag, Hamburg 2014. 272 S., geb., 20,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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