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Geldnase: Reinhard Schlüter erzählt die Lebensgeschichte des Camillo Castiglioni
Ohne die Hai-Metapher kann man offenbar jene Männer nicht beschreiben, "denen es gelungen ist, in Verbindung mit dem größten Unglück der Menschheit das meiste Geld zu machen", so Karl Kraus. Er ist der Urheber des Raubfisch-Bildes, als er sich 1923 ärgert ob "der lesebuchreifen Anbetung der Haifische", namentlich der Wiener Kriegsgewinnler und Inflationsspekulanten Siegmund Bosel und Camillo Castiglioni.
Während über Bosel kaum Literatur existiert, ist Castiglioni innerhalb von drei Jahren zum zweiten Mal strittiger Held einer Biographie: 2012 brachte der Wiener Wirtschaftshistoriker Dieter Stiefel die erste heraus, Untertitel "Die Metaphysik der Haifische" (F.A.Z. vom 15. Oktober 2012), das war der Titel der Kraus-Glosse von 1923. Eine Glosse von etwa vier Seiten, in die Kraus weitere vier Seiten Bosel- und Castiglioni-Lobhudelei aus dem Revolverblatt "Die Stunde" einarbeitete.
Aus dieser Glosse zitiert auch die nun erschienene zweite Castiglioni-Biographie des Journalisten Reinhard Schlüter. Freilich mit dem unverzeihlichen Fehler, etwa zwanzig Zeilen aus der "Stunde" als von Kraus geschrieben auszugeben. Einmal sogar mit der Bemerkung, dass Kraus "einräumt, dass Castiglioni ,mit allen Poren seines Körpers die Zusammenhänge jeglichen Geschehens' begreift". Gar nichts hat Kraus "eingeräumt", er hat Zeitungs-Schwachsinn zitiert. Dafür erweitert Schlüters Recherche das Bestiarium, denn auch als Krake und Aasgeier figurierte Castiglioni in zeitgenössischen Texten.
Hai, Krake, Geier - Camillo Castiglioni wird 1879 in der damals österreichischen Hafenstadt Triest als Sohn eines jüdischen Lehrers und späteren Oberrabbiners geboren. Nach einer Banklehre arbeitet er schon im Alter von neunzehn Jahren als "agente", als Handels- und Finanzmakler, geht für die Österreichisch-Amerikanischen Gummiwerke nach Konstantinopel und leitet wenig später deren Exportabteilung in Wien; mit siebenundzwanzig Jahren wird er Direktor der Werke.
Parallel dazu ist er Geschäftsführer einer Motor-Luftfahrzeug-Gesellschaft, die er mitbegründet hat nach dem für ihn ab jetzt geltenden "Prinzip des größtmöglichen Nutzens bei geringstmöglichem Einsatz an Eigenmitteln". Zudem verschafft er sich billig den Posten eines Geschäftsführers der Österreichischen Daimler-Motoren-Gesellschaft. Deren technischer Direktor ist der geniale Konstrukteur Ferdinand Porsche. Jetzt hat Castiglioni Gummi, Luftfahrt, Motoren, das passt zusammen. 1909 kreist ein lenkbares Castiglioni-Porsche-Luftschiff über dem Stephansdom.
In Europa beginnt es nach Krieg zu riechen, und Castiglioni wittert das. Er setzt auf die Entwicklung von Flugzeugen. Von den Brandenburgischen Flugzeugwerken will er deren Ingenieur Ernst Heinkel abwerben, für ein Jahresgehalt von 100 000 Kronen. Heinkel lehnt ab. Da kauft Castiglioni die ganze Fabrik samt Heinkel. Bis Kriegsende liefert sie 2200 Flugzeuge an die k. u. k. Armee. Und bei noch einem deutschen Unternehmen hat Castiglioni mehr als einen Fuß in der Tür: bei den Münchner Rapp-Werken, umbenannt 1917 in Bayerische Motoren-Werke - BMW.
Noch vor Kriegsende hat Castiglioni wieder den richtigen Riecher: Österreich und Deutschland werden verlieren, es wird ihnen verboten werden, Flugzeuge zu bauen. Er stößt seine gesamte Flugzeugsparte ab. Dafür kauft er sich in Wien ein repräsentatives Palais samt dreien darin befindlichen Tiepolo-Kolossalgemälden und weiteren Kunstschätzen von Rubens, Donatello, Tintoretto und anderen. Er kauft auf Kredit. Und nach dem Krieg ist die österreichische Krone im Sinkflug.
Nach dem Titel eines Kriegsgewinnlers ist Castiglioni damit auch der des Inflationskönigs sicher. Man verschuldet sich in inflationärer Währung, investiert die Kredite in wertstabiles Anlagevermögen und zahlt Monat für Monat weniger zurück. So haben das auch andere gemacht: der Kohle-und-Stahl-Baron Hugo Stinnes im Ruhrgebiet, der Kölner Eisenwarenhändler Otto Wolff, der Weimarer Gemischtwarenhändler Rudolf Karstadt oder der Berliner Börsenspekulant Hugo Herzfeld.
Auch Camillo Castiglioni ist an der Börse aktiv, manipuliert Kurse durch Aktienkäufe und -verkäufe, streut Gerüchte, nutzt Insiderinformationen. Verglichen mit den Transaktionen, die Großrechner und ihre Algorithmen auf den heutigen Finanzmärkten im Zehntelsekundentakt durchführen, ist das fast rührend altmodisch. Castiglioni führt ein großes Haus, schart Künstler um sich, und die Wiener Presse schaut ehrfürchtig zu ihm auf: "Was er in die Hand nimmt, gelingt ihm." Er nimmt auch die Presse in die Hand, kontrolliert über die Elbemühl Papier- und Verlags AG vier Tageszeitungen und steckt Geld in die Blätter "Die Bühne", "Die Stunde", "Die Börse". Die gehören dem Erpresser-Journalisten Imre Békessy, den Karl Kraus mit dem Schlachtruf "Hinaus aus Wien mit dem Schuft!" zum fluchtartigen Verlassen der Stadt veranlasst.
Doch von 1924 an geht es mit Castiglioni bergab. Er verspekuliert sich in großem Rahmen mit dem französischen Franc, sein Firmenimperium beginnt zu zerbröckeln, trotzdem ist er dem erstarkenden Antisemitismus das willkommene Zerrbild des Geldjuden. Nach Hitlers Einmarsch in Österreich geht er nach Italien, in die Schweiz, versteckt sich die letzten beiden Kriegsjahre in einem Kloster in San Marino. Nach 1945 kehrt er wieder in seinen ursprünglichen Beruf als "agente" zurück, ist wohlhabend, aber nicht mehr reich, und stirbt vereinsamt 1957 in seiner römischen Wohnung.
Reinhard Schlüters Biographie liest sich spannend, wenngleich allzu lange Zitate die Spannung wieder herausnehmen. Und alles, was er herausgefunden hat, hätte er nicht unbedingt mitteilen müssen. Etwa, dass Castiglionis Exfrau Iphigenie in Hitchcocks Film "Das Fenster zum Hof" die "Dame mit den Vögeln" spielt und dass deren zweiter Mann, der Schauspieler Leonid Kinskey, in "Casablanca" den russischen Barkeeper gibt. Aber jetzt wissen Sie eben auch das.
MICHAEL SCHROTT.
Reinhard Schlüter: "Der Haifisch". Aufstieg und Fall des Camillo Castiglioni.
Zsolnay Verlag, Wien 2015. 336 S., Abb., geb., 24,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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"Ein filmreifes Panorama der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts." Peter Jungwirth, Wiener Zeitung, 14.11.15