Der junge Barnum wird in eine Welt hineingeboren, die von Frauen geprägt ist und von alten Familiengeheimnissen. Sein Leben wird immer wieder überschattet von seinem Halbbruder Fred. Bis dieser eines Tages spurlos verschwindet und damit das Leben aller unwiderruflich in neue Bahnen lenkt ...
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.10.2004Besteigung eines Achthunderters
Salzig eingelegtes Schicksal: Lars Saabye Christensen sorgt vor
Solche Literatur bleibt gerne mal liegen. Ziegeldick ruht sie im Fundament einer Lesehalde, läßt einen Winter zerschmelzen, einen Sommer verstreichen, läßt Blätter stürzen, Vögel ziehen, Winde buhen - und ist sich selbst genug: siebenhundert Seiten tief und mehr, angefüllt mit Schicksalsschlägen, bittersüßer Jugendwehmut, Alkoholismus, Scham und Toden, daß es dem Leser eine Freude ist. Denn der will ja solcherlei sturmgepeitschte Wasser der Imagination befahren, gerade jetzt, wo man sich wieder in Decken einrollt, die Sonntage zu Regentagen werden, man sich einkuschelt ins gefühlte Skandinavien; kalt und dunkel und wohlig. Ein Erzähler erzählt uns: wie er mal ein kleiner Junge war. Ein ganz besonders kleiner sogar. Ein geprügelter, unterdrückter, verdruckster, ein salzig eingelegtes Schicksal mit groß geschriebenem "hicks". Endlich mal wieder!
Laßt Krüppel und Säufer und Versterbende um uns sein, laßt uns eine Menschlichkeit verspüren, die keine Konsequenzen verlangt als das teeselige Weitererzählen und Weiterempfehlen, wie es mittlerweile im Fernsehen seinen Platz hat: "Also mein Lieblingskapitel ist ja das, wo Barnum sich nachts in die Hose macht und ihm die Plateausohlen abgeknickt werden und er wegen dieser einen, total peinlichen Kußszene aus der Tanzstunde fliegt." Dieses Kapitel gibt es natürlich nicht. Das wäre ja Verdichtung. Die herzschnurrenden Peinlichkeiten müssen über einen gigantischen, dunklen Seitenwald verstreut werden, durch den wir großäugig tapern und dann und wann haltmachen, um die schummrig beleuchteten Szenen des kleinen Elends zu beschauen. Wer will, kann natürlich auch joggen, das geht schneller, empfiehlt sich aber nur bei Ausleihe. Der Buchkäufer möchte verständlicherweise etwas länger etwas vom Erstandenen haben, möchte sich durch- und einarbeiten, jedes Seitenhundert vertieft die Empfindsamkeit, veredelt etwas in uns - und gibt vor allem auch den ansonsten so gebeutelten Figuren das unbestimmte Gefühl, an etwas Großem und Wichtigem mitgewirkt zu haben.
Und jetzt raffen wir das mal. Dies ist die Geschichte-von-Barnum-to-go. An eins: heißt er Barnum, schon mal schlecht, selbst für einen Norweger. An zwei: hat er eine Familiengeschichte voller Gewalt und Elend im Nacken, immer verschwinden die Männer, wenden die Frauen sich Johnny Walker und den Seinen zu. Arg traurig das, aber doch irgendwie auch rührend, in einer Rezension standen dicht gedrängt die subsumierenden Worte "beschädigte Akteure", "liebenswert", "Schicksale", "bewältigen", "menschenfreundliches Credo". (Und unter dem Strich natürlich: Begeisterung.) An drei: hat Barnum diesen gewaltbereiten, unruhigen Halbbruder (der, ohje, einer Vergewaltigung entstammt). An vier: bleibt Barnum kleinwüchsig. Kann fünftens keine Kinder zeugen oder glaubt das zumindest. Wird, sechstens, trunksüchtig und nachhaltig unannehmbar im Umgang. Hat siebtens keinen Erfolg, obwohl er doch möglicherweise ein hochbegabter Drehbuchautor ist. Hat achtens bis pp. eine derart gründlich verkorkste Jugend erlebt, daß er heute noch schinkentief daraus berichten kann und will.
Denn Barnum ahnt, wie es um den Leser bestellt ist: Einen knappen Achthunderter hat der erstanden und mit ihm den unverbrüchlichen Anspruch, tief zwischen Sesselohren und Tränenwogen zu versinken; er will regredieren ins wonnige Kindgefühl hinein, will am liebsten eine verschluchzte Jugend erleben sowie auch sein Herz für die Schwachen und zu kurz Gebliebenen - mag aber kein Jugendbuch kaufen. Jugendbücher kommen nicht gut.
Die Mehrheit will den Schinken. Der Schinken ist die Literatur. Schön dick und gut gesalzen soll er sein, und damit auch diejenigen, deren Hirn vom Innendruck philologischer Allgemeinbildung geplagt wird, sich ein wenig erleichtern können, sollten erkennbare Anspielungen etwa auf Hamsun oder die Filmgeschichte in Maßen eingefügt werden, sollte vielleicht auch die Form dann und wann ein wenig ins Postmodernere hineinspielen, wenn zum Beispiel ein Drehbuchmanuskript von Barnum direkt eingefügt wird; auch machen sich Kapiteltitel in Kleinschreibung und mit Klammern drumherum gut, etwa: "(der leberfleck)" oder "(die wohnung)".
Der Schinken sollte konsumierbar sein, nicht zu verstörend, er sollte eine freundlich plaudernde Erzählstimme enthalten und Figuren, deren Schicksalen man die Träne nicht versagen kann; schneeraupengleich sollte er im Original alles an Preisen abgeräumt haben, was abzuräumen ging. Lars Saabye Christensen hat das Seinige erledigt, und hätte die Übersetzung Christel Hildebrandts nicht die klare, gelenke Originalsprache mit einem feinen Staubschleier überzogen, wäre dies der perfekte Schinken. Auf den aber gibt es nur eine passende Antwort: den Buchtip, zehn Zeilen. Er enthält die Begriffe "episch", "anrührend", "groß" und "zutiefst menschlich". Jetzt schon an Weihnachten denken!
KLAUS UNGERER
Lars Saabye Christensen: "Der Halbbruder". Roman. btb, München 2003. 767 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Salzig eingelegtes Schicksal: Lars Saabye Christensen sorgt vor
Solche Literatur bleibt gerne mal liegen. Ziegeldick ruht sie im Fundament einer Lesehalde, läßt einen Winter zerschmelzen, einen Sommer verstreichen, läßt Blätter stürzen, Vögel ziehen, Winde buhen - und ist sich selbst genug: siebenhundert Seiten tief und mehr, angefüllt mit Schicksalsschlägen, bittersüßer Jugendwehmut, Alkoholismus, Scham und Toden, daß es dem Leser eine Freude ist. Denn der will ja solcherlei sturmgepeitschte Wasser der Imagination befahren, gerade jetzt, wo man sich wieder in Decken einrollt, die Sonntage zu Regentagen werden, man sich einkuschelt ins gefühlte Skandinavien; kalt und dunkel und wohlig. Ein Erzähler erzählt uns: wie er mal ein kleiner Junge war. Ein ganz besonders kleiner sogar. Ein geprügelter, unterdrückter, verdruckster, ein salzig eingelegtes Schicksal mit groß geschriebenem "hicks". Endlich mal wieder!
Laßt Krüppel und Säufer und Versterbende um uns sein, laßt uns eine Menschlichkeit verspüren, die keine Konsequenzen verlangt als das teeselige Weitererzählen und Weiterempfehlen, wie es mittlerweile im Fernsehen seinen Platz hat: "Also mein Lieblingskapitel ist ja das, wo Barnum sich nachts in die Hose macht und ihm die Plateausohlen abgeknickt werden und er wegen dieser einen, total peinlichen Kußszene aus der Tanzstunde fliegt." Dieses Kapitel gibt es natürlich nicht. Das wäre ja Verdichtung. Die herzschnurrenden Peinlichkeiten müssen über einen gigantischen, dunklen Seitenwald verstreut werden, durch den wir großäugig tapern und dann und wann haltmachen, um die schummrig beleuchteten Szenen des kleinen Elends zu beschauen. Wer will, kann natürlich auch joggen, das geht schneller, empfiehlt sich aber nur bei Ausleihe. Der Buchkäufer möchte verständlicherweise etwas länger etwas vom Erstandenen haben, möchte sich durch- und einarbeiten, jedes Seitenhundert vertieft die Empfindsamkeit, veredelt etwas in uns - und gibt vor allem auch den ansonsten so gebeutelten Figuren das unbestimmte Gefühl, an etwas Großem und Wichtigem mitgewirkt zu haben.
Und jetzt raffen wir das mal. Dies ist die Geschichte-von-Barnum-to-go. An eins: heißt er Barnum, schon mal schlecht, selbst für einen Norweger. An zwei: hat er eine Familiengeschichte voller Gewalt und Elend im Nacken, immer verschwinden die Männer, wenden die Frauen sich Johnny Walker und den Seinen zu. Arg traurig das, aber doch irgendwie auch rührend, in einer Rezension standen dicht gedrängt die subsumierenden Worte "beschädigte Akteure", "liebenswert", "Schicksale", "bewältigen", "menschenfreundliches Credo". (Und unter dem Strich natürlich: Begeisterung.) An drei: hat Barnum diesen gewaltbereiten, unruhigen Halbbruder (der, ohje, einer Vergewaltigung entstammt). An vier: bleibt Barnum kleinwüchsig. Kann fünftens keine Kinder zeugen oder glaubt das zumindest. Wird, sechstens, trunksüchtig und nachhaltig unannehmbar im Umgang. Hat siebtens keinen Erfolg, obwohl er doch möglicherweise ein hochbegabter Drehbuchautor ist. Hat achtens bis pp. eine derart gründlich verkorkste Jugend erlebt, daß er heute noch schinkentief daraus berichten kann und will.
Denn Barnum ahnt, wie es um den Leser bestellt ist: Einen knappen Achthunderter hat der erstanden und mit ihm den unverbrüchlichen Anspruch, tief zwischen Sesselohren und Tränenwogen zu versinken; er will regredieren ins wonnige Kindgefühl hinein, will am liebsten eine verschluchzte Jugend erleben sowie auch sein Herz für die Schwachen und zu kurz Gebliebenen - mag aber kein Jugendbuch kaufen. Jugendbücher kommen nicht gut.
Die Mehrheit will den Schinken. Der Schinken ist die Literatur. Schön dick und gut gesalzen soll er sein, und damit auch diejenigen, deren Hirn vom Innendruck philologischer Allgemeinbildung geplagt wird, sich ein wenig erleichtern können, sollten erkennbare Anspielungen etwa auf Hamsun oder die Filmgeschichte in Maßen eingefügt werden, sollte vielleicht auch die Form dann und wann ein wenig ins Postmodernere hineinspielen, wenn zum Beispiel ein Drehbuchmanuskript von Barnum direkt eingefügt wird; auch machen sich Kapiteltitel in Kleinschreibung und mit Klammern drumherum gut, etwa: "(der leberfleck)" oder "(die wohnung)".
Der Schinken sollte konsumierbar sein, nicht zu verstörend, er sollte eine freundlich plaudernde Erzählstimme enthalten und Figuren, deren Schicksalen man die Träne nicht versagen kann; schneeraupengleich sollte er im Original alles an Preisen abgeräumt haben, was abzuräumen ging. Lars Saabye Christensen hat das Seinige erledigt, und hätte die Übersetzung Christel Hildebrandts nicht die klare, gelenke Originalsprache mit einem feinen Staubschleier überzogen, wäre dies der perfekte Schinken. Auf den aber gibt es nur eine passende Antwort: den Buchtip, zehn Zeilen. Er enthält die Begriffe "episch", "anrührend", "groß" und "zutiefst menschlich". Jetzt schon an Weihnachten denken!
KLAUS UNGERER
Lars Saabye Christensen: "Der Halbbruder". Roman. btb, München 2003. 767 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Es ist, als hätten sich Paul Auster und Jonathan Franzen in diesem Buch getroffen. Ein bestechender Roman!" The Independent