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"Es ist das Beiläufige, Unaufgeregte, Unprätentiöse, das die Romane von Yoko Ogawa so großartig macht." -- Simone Hamm, DEUTSCHLANDFUNK
"Yoko Ogawa vermag innere Zustände in oft erschreckend intensiver Weise in literarische Bilder zu übersetzen." -- Katharina Granzin, FRANKFURTER RUNDSCHAU
Federleichte Gegenwelt: Yoko Ogawas Roman "Der Herr der kleinen Vögel"
Tiere spielen schon immer eine wichtige Rolle im Werk von Yoko Ogawa. Die 1962 geborene, mehrfach ausgezeichnete japanische Schriftstellerin hat einen Erzählstil entwickelt, der eingängig ist, aber nie seicht. Und so folgt man ihr gerne auch in ihren neuen Roman, in dem Vögel die eigentliche Hauptrolle spielen. Zitronensittiche. Oder Harzvögel. Oder der "Zosteropidae", der im Käfig eines aufgefundenen Toten sitzt und gar nicht mehr aufhört zu singen, "kristallklar wie ein rauschender Bach". Die Polizisten sind derart gebannt von seinem Gesang, dass sie den Brillenvogel, wie er auch heißt, aus Versehen freilassen.
Vorhang für Vorhang zieht die japanische Schriftstellerin nach dieser Eingangsszene beiseite, um uns vom Leben eines Sonderlings zu berichten, der zwanzig Jahre lang hingebungsvoll eine Vogelvoliere auf dem Gelände eines Kindergartens pflegte. Mit jedem Kapitel ändert sich der Blick auf ihn, wie bei einem japanischen Garten, der so angelegt ist, dass man immer nur Teile zu sehen bekommt, nie das Ganze. Der Tote hatte einen sieben Jahre älteren Bruder, der vor ihm die Voliere reinigte - auch er eine Art Autist, in noch stärkerem Ausmaß. Dieser Bruder war der eigentliche Ornithomane. Und wenn es von ihm heißt, er redete ausschließlich in einer Phantasiesprache, die niemand außer dem jüngeren Bruder verstand, dann ist dies auch als Gleichnis zu verstehen: Die Innenwelt wucherte so mächtig, dass sie jeden Kontakt zu anderen Menschen unterband. Nur die Vögel, so wird suggeriert, teilten diese Sprache.
Aber wer weiß, ob das nicht nur eine Wunschvorstellung des Bruders war? Als "Herr der kleinen Vögel" folgt er nach dem Tod des Älteren diesem eher absichtslos ins Ehrenamt der Fürsorge, findet dann aber in der "asketischen Übung" viel Gefallen am Füllen der Futternäpfe und dem Gesang. Hier ist er eins mit dem Bruder, den er sehr vermisst. Nur vor den Kindern des Horts, die manchmal auftauchen, fürchtet er sich. Und es ist dann eben doch sehr modern, wie Yoko Ogawa das klassische Motiv kontemplativer Arbeit mit den Problemen und Ängsten der heutigen Zeit verknüpft.
Dieser zweite, bedrohliche Erzählfaden entspinnt sich geradezu schicksalsträchtig und unaufhaltsam wie in einer Tragödie. Es beginnt harmlos auf einer Parkbank mit der Bekanntschaft eines alten, leicht verwahrlosten Mannes. Er führt stets eine Schachtel mit einer Zikade bei sich. Doch immer, wenn der "Herr der kleinen Vögel" Vertrauen zu einem Menschen fasst, reißt der zarte Beziehungsfaden abrupt ab. Der Bekannte kommt eines Tages nicht mehr. Stattdessen wird in der Nähe ein fünfjähriges Mädchen missbraucht. Der Verdacht trifft den Vogelmann, dessen Namen Yoko Ogawa uns nie verrät.
Kunstvoll und zugleich unaufdringlich beschreibt die Autorin ihre Figuren. So heißt es etwa über den Vater der Brüder, der sich dem Sprachproblem einfach durch Schweigen entzieht: "Ein abgewetztes Sitzkissen lag auf dem Lehnstuhl. Der Abdruck war jedoch so schwach, dass der Junge sich verwundert fragte, ob sein Vater schwerelos sei." Ohne ihre Protagonisten zu bewerten, schildert Ogawa das jahrelange, streng ritualisierte Zusammenleben der beiden Brüder als organisches Modell, das gut funktioniert und viele Rücksichten verlangt. Da ist zum Beispiel der Versuch, eine Reise zu unternehmen. Nach den ersten Anzeichen von Panik - ein solches psychologisches Wort fällt allerdings nie - wird der Versuch sofort abgebrochen. Stattdessen "spielen" sie fortan das Reisen in den eigenen Wänden nach, in fest verteilten Rollen.
Das Anderssein der Brüder wird durch solche Schilderungen ebenso respektvoll wie poetisch erfasst. Schön auch die Passagen, in denen die Vögel beschrieben werden: aus realen Bausteinen wird eine federleichte Gegenwelt gezeichnet. Und so folgt man dem Buch auch ins Unglaubwürdige, Märchenhafte.
Und doch handelt "Der Herr der kleinen Vögel", der mit dem Phantastischen turtelt, von der tiefen Einsamkeit einer zunehmend anonymisierten Gesellschaft. Der Sonderling als literarische Figur, der eher Tieren als Menschen traut, hat eine lange Tradition nicht nur in der japanischen Literatur. Sie brachte mit dem "Hikikomori", der sein Zimmer nicht mehr verlässt, eine spezifische Variante hervor, herausgegriffen aus der Realität des hypermodernen Leistungsdogmas. Yoko Ogawa geht einen Schritt weiter. Auch sie erfasst zwar die Symptome. Ihr Schwerpunkt liegt aber auf dem in dieser Welt verankerten Zauberhaften. In Sabine Mangolds klangvoller deutscher Übersetzung scheint es auf.
ANJA HIRSCH
Yoko Ogawa: "Der Herr der kleinen Vögel". Roman.
Aus dem Japanischen von Sabine Mangold. Liebeskind Verlag, München 2015. 272 S., geb., 18,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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