Ein dunkles Geheimnis schweißt sie zusammen - Enkel und Großvater sind unzertrennlich. Doch dann stirbt der Großvater. Der Enkel reist in dessen Vergangenheit und findet nördlich des Polarkreises eine grausame Wahrheit. Im stalinistischen Russland war der Großvater Kommandant eines Gefangenenlagers. Wie konnte er all die Jahre mit dieser Last auf seinen Schultern leben? Rettete ihn seine tiefe Liebe zum Enkel? In einer kraftvoll poetischen Sprache erzählt Lededew von Russlands Hölle, einem Ort, an dem das Leben endet und das Sterben ewig weitergeht. Die neue Stimme aus Russland - dieser packende Roman brennt sich tief in die Seele ein.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.04.2013Russische Väter, russische Mütter
Sergej Lebedew kämpft gegen Geschichtsvergessenheit
Im hohen Norden und Fernen Osten Russlands stoßen Geologen und Hobby-Archäologen immer wieder auf grausame Zeugnisse der jüngsten Geschichte. In den Böden des Permafrostes wollen die Leichen der einstigen GULag-Sträflinge und Zwangsdeportierten einfach nicht verwesen, als wollten sich die Opfer damit ein Denkmal ertrotzen, das ihnen der russische Staat bis heute verwehrt. Längst ist Stalin wieder salonfähig, und mancherorts stehen sogar neue Denkmäler, wie zum Beispiel im nordossetischen Digora, seitdem bekanntwurde, dass der Diktator möglicherweise zur Hälfte Ossete gewesen ist.
In der Euphorie der Perestrojka, meint der 1981 in Moskau geborene Schriftsteller Sergej Lebedew, hätten seine Landsleute naiv geglaubt, man müsse die Wahrheit über den GULag und die anderen Verbrechen der Stalinzeit nur herausschreien, und die dunkle Vergangenheit sei vergangen. Lebedew ist derzeit Stipendiat am Literarischen Colloquium Berlin und redet sich bei einem Spaziergang am Wannsee regelrecht in Rage, was so gar nicht zu seinem jungenhaften, zurückhaltenden Äußeren passt. In diesem Frühjahr ist sein Romandebüt "Der Himmel auf ihren Schultern" auf Deutsch erschienen (bei S. Fischer). Anders als die großen Stenographen des GULag, Alexander Solschenizyn und Warlam Schalamow, rekonstruiert Lebedew in seinem Roman nicht so sehr das Martyrium der Opfer, sondern das Psychogramm eines Täters. Das ist neu in der zeitgenössischen Literatur Russlands, genauso wie das Interesse an diesem Thema für einen Autor seiner Generation.
Dass zur Gerechtigkeit auch Institutionen gehören, hätten die Russen damals nicht bedacht, sagt Lebedew. Bis heute gelten die Millionen Opfer als bedauerlicher Kollateralschaden auf dem Weg in die Moderne und beim Aufstieg zur Weltmacht. Lebedews Eltern, beide Geologen, haben ihm erzählt, dass sie in Jakutien im Sommer Bären beobachtet haben, die immer wieder aus der Taiga an einen Futternapf der besonderen Art kamen, zu einem Massengrab. Im ökonomischen Chaos der neunziger Jahre verdiente er als Jugendlicher Geld damit, in den geschlossenen sowjetischen Minen nach Bergkristallen und seltenen Mineralien zu suchen, die für gutes Geld in den Westen verscherbelt wurden. Dabei sei er auf die traurigen Reste der Lager gestoßen und habe begriffen, dass man die Geschichten erzählen muss, solange sich die Natur die Orte nicht ganz zurückgeholt hat.
Später hat Lebedew als Reporter das verrottende Erbe der Sowjetunion überall im Land bereist: triste Industriestädte, die aus den Lagern und somit buchstäblich auf den Knochen der Häftlinge entstanden waren, oder ein verlassenes gigantisches Pionierlager in Kasachstan, wo die verrosteten Löffel noch auf den Tischen lagen. Den letzten Anstoß für sein Buch gab schließlich eine Geschichte aus der eigenen Familie. Lange nach dem Tod seines Stiefgroßvaters (der leibliche war im Krieg gefallen) musste der junge Mann feststellen, dass dessen zahlreiche Orden nicht aus dem "Großen Vaterländischen Krieg" stammten, sondern ihm vom NKWD für besondere Verdienste im Umgang mit Staatsfeinden verliehen worden waren.
Die Geschichte des Romans beginnt in einer idyllischen Datschensiedlung bei Moskau, wo die Familie beim Erwerb eines Sommerhauses auch die Fürsorge für einen blinden Nachbarn mit auferlegt bekam. Zwischen diesem alten Mann und einem quasi von ihm als Enkel angesehenen Jungen, dem Ich-Erzähler, entstand eine eigenartige Verbindung - seitens des Alten zwischen Liebe und Herrschsucht schwankend, seitens des Jungen zwischen Angst und Bewunderung. Der Blinde, stets distanziert "zweiter Großvater" genannt, spendete gegen den Rat seiner Ärzte Blut, um den Jungen nach einem Hundebiss zu heilen. Als sich sein eigener Gesundheitszustand verschlechterte, konnte der einstige Staatsbeamte nicht nach Moskau zur professionellen Versorgung gebracht werden, weil auf den abgesperrten Straßen gerade die Panzer dem Weißen Haus entgegenrollten. Das sowjetische Imperium war Geschichte.
Jahre später findet der Erzähler in der ihm vererbten Wohnung des Großvaters Briefe und Indizien, die auf mysteriöse Leerstellen in dessen Biographie verweisen. Wie Erdflöze trägt er nun die Vergangenheit in Schichten ab, wobei immer neue Hohlräume, die man im Bergbau "Alte Männer" nennt, entstehen. Der zweite Großvater hatte als Lagerkommandant nicht nur Tausende von Menschen gequält, sondern viele auch in den sicheren Tod geschickt, indem er sie auf unbewohnten Inseln in der Tundra aussetzen ließ, wo ein Überleben unmöglich war. Er hatte auch seinen einzigen Sohn und seine Frau auf dem Gewissen.
Am Ende begibt sich der Erzähler auf die Spuren der Deportierten in die Weiten des Nordens und stürzt auf einer Insel in eine Erdhöhle voller unverwester Leichen. Es sind symbolisch aufgeladene, kathartische Bilder des Grauens, deren sprachliche Schönheit kaum zu ertragen ist. Überhaupt schwelgt der Roman in einer poetischen Sprache, die Übersetzerin Franziska Zwerg hatte ganze Arbeit zu leisten.
Als das Buch vor zwei Jahren in Russland herauskam, hätten sich viele junge Leute an ihn gewandt, sagt Lebedew, als wir vor dem Haus der Wannsee-Konferenz stehen. Sie alle hätten ähnliche Erfahrungen mit dem unheilvollen Schweigen in ihren Familien gemacht. Dass sich die Russen so schwer mit der Verantwortung für und der Erinnerung an die Verbrechen tun, hängt für ihn damit zusammen, dass diese Greuel für die meisten irgendwo weit weg im geographischen Niemandsland geschahen. Zwar gebe es von Aktivisten organisierte Gedenkstätten, doch wer fährt Tausende von Kilometern an die Kolyma oder nach Workuta, um sich die Überreste eines Lagers anzusehen?
In der Tristesse einer im Buch beschriebenen Industriestadt auf der Halbinsel Kola haben sich die einstigen NKWD-Schergen und deren Nachkommen mit den Angehörigen der Opfer in einer unheiligen Allianz aus Apathie, Korruption und Alkoholismus eingerichtet. Die Beseitigung der Folgen der unheilvollen industriellen und sozialen Utopien des Stalinismus sei, so der junge Autor, eine Aufgabe von menschheitlicher Dimension, der sich das heutige Russland aber nicht stelle. Im Gegenteil: Das riesige Land existiere nur noch geographisch, nicht historisch. Die staatlich sanktionierte Amnesie führe dazu, dass die Menschen nicht wissen, woher sie kommen, und wer seine Vergangenheit nicht kennt, sei blind für die Zukunft.
Lebedews neues, gerade beendetes Buch wird sich mit einer anderen Facette des Vergessens befassen, dem nie hinterfragten Verschwinden von Angehörigen. Täter und Opfer gibt es wie in seiner Familie, die auch hier als Vorlage diente, überall in der ehemaligen Sowjetunion. Irgendwann habe er Fotos bei seiner Großmutter gefunden und nicht gewusst, wer all die Menschen darauf waren. Zum Glück habe die Großmutter vor ihrem Tod noch alles aufgeschrieben, und so weiß der Schriftsteller jetzt, dass der Familienname früher nicht Lebedew, sondern Schwan gelautet hat. Lange vor der Revolution hatte es einen Arzt dieses Namens gegeben, der aus Leipzig nach Russland eingewandert war. Nächste Woche will er die fernen Verwandten in Deutschland zum erstmals besuchen.
SABINE BERKING
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sergej Lebedew kämpft gegen Geschichtsvergessenheit
Im hohen Norden und Fernen Osten Russlands stoßen Geologen und Hobby-Archäologen immer wieder auf grausame Zeugnisse der jüngsten Geschichte. In den Böden des Permafrostes wollen die Leichen der einstigen GULag-Sträflinge und Zwangsdeportierten einfach nicht verwesen, als wollten sich die Opfer damit ein Denkmal ertrotzen, das ihnen der russische Staat bis heute verwehrt. Längst ist Stalin wieder salonfähig, und mancherorts stehen sogar neue Denkmäler, wie zum Beispiel im nordossetischen Digora, seitdem bekanntwurde, dass der Diktator möglicherweise zur Hälfte Ossete gewesen ist.
In der Euphorie der Perestrojka, meint der 1981 in Moskau geborene Schriftsteller Sergej Lebedew, hätten seine Landsleute naiv geglaubt, man müsse die Wahrheit über den GULag und die anderen Verbrechen der Stalinzeit nur herausschreien, und die dunkle Vergangenheit sei vergangen. Lebedew ist derzeit Stipendiat am Literarischen Colloquium Berlin und redet sich bei einem Spaziergang am Wannsee regelrecht in Rage, was so gar nicht zu seinem jungenhaften, zurückhaltenden Äußeren passt. In diesem Frühjahr ist sein Romandebüt "Der Himmel auf ihren Schultern" auf Deutsch erschienen (bei S. Fischer). Anders als die großen Stenographen des GULag, Alexander Solschenizyn und Warlam Schalamow, rekonstruiert Lebedew in seinem Roman nicht so sehr das Martyrium der Opfer, sondern das Psychogramm eines Täters. Das ist neu in der zeitgenössischen Literatur Russlands, genauso wie das Interesse an diesem Thema für einen Autor seiner Generation.
Dass zur Gerechtigkeit auch Institutionen gehören, hätten die Russen damals nicht bedacht, sagt Lebedew. Bis heute gelten die Millionen Opfer als bedauerlicher Kollateralschaden auf dem Weg in die Moderne und beim Aufstieg zur Weltmacht. Lebedews Eltern, beide Geologen, haben ihm erzählt, dass sie in Jakutien im Sommer Bären beobachtet haben, die immer wieder aus der Taiga an einen Futternapf der besonderen Art kamen, zu einem Massengrab. Im ökonomischen Chaos der neunziger Jahre verdiente er als Jugendlicher Geld damit, in den geschlossenen sowjetischen Minen nach Bergkristallen und seltenen Mineralien zu suchen, die für gutes Geld in den Westen verscherbelt wurden. Dabei sei er auf die traurigen Reste der Lager gestoßen und habe begriffen, dass man die Geschichten erzählen muss, solange sich die Natur die Orte nicht ganz zurückgeholt hat.
Später hat Lebedew als Reporter das verrottende Erbe der Sowjetunion überall im Land bereist: triste Industriestädte, die aus den Lagern und somit buchstäblich auf den Knochen der Häftlinge entstanden waren, oder ein verlassenes gigantisches Pionierlager in Kasachstan, wo die verrosteten Löffel noch auf den Tischen lagen. Den letzten Anstoß für sein Buch gab schließlich eine Geschichte aus der eigenen Familie. Lange nach dem Tod seines Stiefgroßvaters (der leibliche war im Krieg gefallen) musste der junge Mann feststellen, dass dessen zahlreiche Orden nicht aus dem "Großen Vaterländischen Krieg" stammten, sondern ihm vom NKWD für besondere Verdienste im Umgang mit Staatsfeinden verliehen worden waren.
Die Geschichte des Romans beginnt in einer idyllischen Datschensiedlung bei Moskau, wo die Familie beim Erwerb eines Sommerhauses auch die Fürsorge für einen blinden Nachbarn mit auferlegt bekam. Zwischen diesem alten Mann und einem quasi von ihm als Enkel angesehenen Jungen, dem Ich-Erzähler, entstand eine eigenartige Verbindung - seitens des Alten zwischen Liebe und Herrschsucht schwankend, seitens des Jungen zwischen Angst und Bewunderung. Der Blinde, stets distanziert "zweiter Großvater" genannt, spendete gegen den Rat seiner Ärzte Blut, um den Jungen nach einem Hundebiss zu heilen. Als sich sein eigener Gesundheitszustand verschlechterte, konnte der einstige Staatsbeamte nicht nach Moskau zur professionellen Versorgung gebracht werden, weil auf den abgesperrten Straßen gerade die Panzer dem Weißen Haus entgegenrollten. Das sowjetische Imperium war Geschichte.
Jahre später findet der Erzähler in der ihm vererbten Wohnung des Großvaters Briefe und Indizien, die auf mysteriöse Leerstellen in dessen Biographie verweisen. Wie Erdflöze trägt er nun die Vergangenheit in Schichten ab, wobei immer neue Hohlräume, die man im Bergbau "Alte Männer" nennt, entstehen. Der zweite Großvater hatte als Lagerkommandant nicht nur Tausende von Menschen gequält, sondern viele auch in den sicheren Tod geschickt, indem er sie auf unbewohnten Inseln in der Tundra aussetzen ließ, wo ein Überleben unmöglich war. Er hatte auch seinen einzigen Sohn und seine Frau auf dem Gewissen.
Am Ende begibt sich der Erzähler auf die Spuren der Deportierten in die Weiten des Nordens und stürzt auf einer Insel in eine Erdhöhle voller unverwester Leichen. Es sind symbolisch aufgeladene, kathartische Bilder des Grauens, deren sprachliche Schönheit kaum zu ertragen ist. Überhaupt schwelgt der Roman in einer poetischen Sprache, die Übersetzerin Franziska Zwerg hatte ganze Arbeit zu leisten.
Als das Buch vor zwei Jahren in Russland herauskam, hätten sich viele junge Leute an ihn gewandt, sagt Lebedew, als wir vor dem Haus der Wannsee-Konferenz stehen. Sie alle hätten ähnliche Erfahrungen mit dem unheilvollen Schweigen in ihren Familien gemacht. Dass sich die Russen so schwer mit der Verantwortung für und der Erinnerung an die Verbrechen tun, hängt für ihn damit zusammen, dass diese Greuel für die meisten irgendwo weit weg im geographischen Niemandsland geschahen. Zwar gebe es von Aktivisten organisierte Gedenkstätten, doch wer fährt Tausende von Kilometern an die Kolyma oder nach Workuta, um sich die Überreste eines Lagers anzusehen?
In der Tristesse einer im Buch beschriebenen Industriestadt auf der Halbinsel Kola haben sich die einstigen NKWD-Schergen und deren Nachkommen mit den Angehörigen der Opfer in einer unheiligen Allianz aus Apathie, Korruption und Alkoholismus eingerichtet. Die Beseitigung der Folgen der unheilvollen industriellen und sozialen Utopien des Stalinismus sei, so der junge Autor, eine Aufgabe von menschheitlicher Dimension, der sich das heutige Russland aber nicht stelle. Im Gegenteil: Das riesige Land existiere nur noch geographisch, nicht historisch. Die staatlich sanktionierte Amnesie führe dazu, dass die Menschen nicht wissen, woher sie kommen, und wer seine Vergangenheit nicht kennt, sei blind für die Zukunft.
Lebedews neues, gerade beendetes Buch wird sich mit einer anderen Facette des Vergessens befassen, dem nie hinterfragten Verschwinden von Angehörigen. Täter und Opfer gibt es wie in seiner Familie, die auch hier als Vorlage diente, überall in der ehemaligen Sowjetunion. Irgendwann habe er Fotos bei seiner Großmutter gefunden und nicht gewusst, wer all die Menschen darauf waren. Zum Glück habe die Großmutter vor ihrem Tod noch alles aufgeschrieben, und so weiß der Schriftsteller jetzt, dass der Familienname früher nicht Lebedew, sondern Schwan gelautet hat. Lange vor der Revolution hatte es einen Arzt dieses Namens gegeben, der aus Leipzig nach Russland eingewandert war. Nächste Woche will er die fernen Verwandten in Deutschland zum erstmals besuchen.
SABINE BERKING
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Zutiefst beeindruckt hat Ulrich Rüdenauer das neue, von Franziska Zwerg herausragend übersetzte Buch des russischen Schriftstellers und Geologen Sergej Lebedew gelesen. In "Der Himmel auf ihren Schultern" folgt der Rezensent einem jungen Mann, der sich, nachdem sein Großvater nach einer Blutspende für ihn verstorben ist, auf die Spuren des alten Mannes begibt und erkennen muss, dass sein Lebensretter Lagerkommandant im Gulag gewesen ist. In apokalyptischen und "expressiven" Sprachbildern erlebt der Rezensent in den überwucherten Überresten der sowjetischen Straflager das einstige Grauen, das sich hier noch in verwesten und erfrorenen Leichenbergen offenbart. Dankbar ist Rüdenauer insbesondere für Lebedews mutiges Unternehmen, die fast verdrängte Geschichte des stalinistischen Terrors wieder ins Bewusstsein zu rufen. Und so verzeiht er dem Autor gern die bisweilen allzu pathetische, "metapherntrunkene" Sprache und empfiehlt diesen aufrüttelnden Roman ohne Einschränkungen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.09.2013Im Bauch der Erde
Der junge russische Autor und Geologe Sergej Lebedew sucht
in seinem Roman „Der Himmel auf ihren Schultern“ nach den Lagern des Stalinismus
VON ULRICH RÜDENAUER
Manchmal ist die Gewalt dessen, was man als Erblast zu schultern hat, so übermächtig, dass auch die Sprache, die sie zu fassen sucht, gewaltig sein muss – allein um ein Gegengewicht zu schaffen oder eben eine Entsprechung für das Ungeheuerliche. Der 1981 in Moskau geborene Sergej Lebedew, der Geologe war, bevor er Schriftsteller wurde, und also etwas von großen Zeiträumen, weiten Entfernungen und tiefen Schichten versteht, ist in jungen Jahren auf Expeditionen in die Tundra mit fast schon überwucherten Überbleibseln sowjetischer Straflager in Berührung gekommen: von der Natur zurückeroberte Ruinen einer systematischen Politik der Unterdrückung und Einschüchterung; Baracken, in denen Tausende und Abertausende eingepfercht waren; Strafarbeitslager, die nur wenige wieder lebend verließen. Dass der zweite Mann von Lebedews Großmutter Tschekist war und als Gulag-Kommandant die stalinistische Säuberungsorgie mitexekutierte, erfuhr er zwar erst später. Aber plötzlich waren die vom Hubschrauber aus mit Schaudern betrachteten Relikte der Lager mit der eigenen Biografie verknüpft. So kam der Stoff zu einem Autor, der über eine bilderreiche, expressive, fast schon überinstrumentierte Sprache verfügt. Dank der wortmächtigen Übersetzung von Franziska Zwerg können wir nun „Der Himmel auf ihren Schultern“ auf Deutsch lesen und durch diese Sprache die Gegenwart der Vergangenheit kennenlernen.
Lebedew ist ein Nachgeborener, sein Buch der Versuch einer Rekonstruktion. Der Ich-Erzähler im Roman hat sein Leben gleich zwei Mal einem Mann zu verdanken, den er den zweiten Großvater nennt. Ein unscheinbarer, vielleicht gerade deshalb verführerischer Nachbar in der Ferienhaussiedlung, alt und rätselhaft. Blind ist er, keiner weiß, was er früher gemacht hat; etwas Strenges, Militärisches umgibt ihn allerdings. Als die Mutter mit dem Ich-Erzähler schwanger ist und die Ärzte wegen gesundheitlicher Risiken zu einer Abtreibung raten, setzt der zweite Großvater in seiner bedächtigen, bestimmenden Art die Geburt durch. Fortan ist er im Leben des Kindes, weicht ihm nicht von der Seite, hat etwas Angsteinflößendes und zugleich Anziehendes. Er ist nicht zu durchschauen, scheint zwischen den Lebenden und den Toten zu stehen, ein Geisterwesen.
Nach der Attacke eines Hundes schenkt der aufdringliche Großvater dem Ich-Erzähler zum zweiten Mal das Leben: Er spendet dem Jungen sein Blut, was den Greis so sehr schwächt, dass er an den Folgen stirbt. Die „posthume Blutsverbindung zwischen ihm und mir“ wird dem Erzähler zu einer Last und zu einer Verpflichtung. Der inzwischen junge Mann möchte den Schleier der Großvater-Biografie lüften; er verfolgt die Spuren, die er im Nachlass entdeckt, und er findet schließlich heraus, dass der Alte Lagerkommandant im Gulag gewesen war. Er reist an die Stätten des Grauens, entdeckt den Blinden Fleck des blinden Großvaters. Sergej Lebedews Ich-Erzähler dringt in die „Zone“ ein, eine Todeszone, ein Nicht-Ort, weniger in Vergessenheit geraten als vielmehr verdrängt.
Es ist ein riesiges Gebiet, nördlich des Polarkreises, ein einziges großes Lager, umzäunt von Stacheldraht. Ein apokalyptisches Areal. Wie in Andrej Tarkowskis Film „Stalker“, an dessen imposante Bilder die Sprachbilder Lebedews von ferne erinnern, kann man in dieser „Zone“ umkommen, das Geheimnis kann einen töten. Anders aber als in Tarkowskis Zukunftsfantasie findet sich im Zentrum der „Straf-Zone“ kein „Zimmer der Wünsche“, sondern eine Höhle des Albtraums. „Der Trichter war voller Toter. Der Permafrostboden hatte sie unverwest erhalten. Eine Öffnung in der Wand, die mit abgespültem Gras gestopft war, erwies sich als Mund, ein runder Vorsprung als Kopf. (. . .) Das, was ich für Baumwurzeln gehalten hatte, waren Arme. Das erfrorene Fleisch hatte die Farbe der Erde angenommen, und man konnte es nur an seiner Form erkennen."
Im „Bauch der Erde“ lagern noch die Überreste des Terrors. Die Reise ist mit dieser Goya’schen Inferno-Vision beendet, der Rückweg muss angetreten werden – „im Wort“. Das ist durchaus mutig und ungewöhnlich für einen jungen Autor. In Russland existiert kaum eine Sprache für die dunkle Geschichte des Stalinismus. Sowohl die Opfer als auch die Täter wurden aus dem Bewusstsein gedrängt, obwohl es eindrucksvolle literarische Zeugnisse gibt, etwa die von Warlam Schalamows „Erzählungen aus Kolyma“. Unter Wladimir Putin finden wenig ernsthafte Versuche statt, sich mit den stalinistischen Lagern wissenschaftlich auseinanderzusetzen. Dabei ist diese Geschichte als Trauma sehr präsent. Orlando Figes hat in seinem Buch „Die Flüsterer“ die Geschichten aus den tief verschütteten Erinnerungen der letzten Zeitgenossen geborgen.
Lebedew wählt einen poetischen, zuweilen etwas metapherntrunkenen Weg – aber einen durchaus überzeugenden. Er betrachtet die Vergangenheit wie eine Versteinerung, sie ist stumm und beredt zugleich. Er geht wie ein Archäologe oder eben wie ein Geologe vor, der weiß, dass das zutage Geförderte etwas ist, das unser heutiges Sein und Bewusstsein prägt – wie weit es auch zurückliegen mag. „Ich sehe und erinnere mich. Und dieser Text ist wie ein Denkmal, wie eine Klagemauer, wenn die Toten und Trauernden sich nirgendwo treffen können als an der Mauer der Worte, die Tote und Lebende vereint“, schreibt Lebedew nicht ganz frei von Pathos. Aber es ist ein aufrüttelndes, literarisches Pathos, das einen eindrucksvollen Roman trägt.
Sergej Lebedew: Der Himmel auf ihren Schultern. Roman. Aus dem Russischen von Franziska Zwerg. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013. 332 Seiten, 19,99 Euro
Großvater steht zwischen
den Toten und den Lebenden
Lebedew begreift seinen Roman
als eine Klagemauer aus Worten
Gedenkstätte in Norilsk, das von Gulag-Häftlingen errichtet wurde.
FOTO: ULLSTEIN
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Der junge russische Autor und Geologe Sergej Lebedew sucht
in seinem Roman „Der Himmel auf ihren Schultern“ nach den Lagern des Stalinismus
VON ULRICH RÜDENAUER
Manchmal ist die Gewalt dessen, was man als Erblast zu schultern hat, so übermächtig, dass auch die Sprache, die sie zu fassen sucht, gewaltig sein muss – allein um ein Gegengewicht zu schaffen oder eben eine Entsprechung für das Ungeheuerliche. Der 1981 in Moskau geborene Sergej Lebedew, der Geologe war, bevor er Schriftsteller wurde, und also etwas von großen Zeiträumen, weiten Entfernungen und tiefen Schichten versteht, ist in jungen Jahren auf Expeditionen in die Tundra mit fast schon überwucherten Überbleibseln sowjetischer Straflager in Berührung gekommen: von der Natur zurückeroberte Ruinen einer systematischen Politik der Unterdrückung und Einschüchterung; Baracken, in denen Tausende und Abertausende eingepfercht waren; Strafarbeitslager, die nur wenige wieder lebend verließen. Dass der zweite Mann von Lebedews Großmutter Tschekist war und als Gulag-Kommandant die stalinistische Säuberungsorgie mitexekutierte, erfuhr er zwar erst später. Aber plötzlich waren die vom Hubschrauber aus mit Schaudern betrachteten Relikte der Lager mit der eigenen Biografie verknüpft. So kam der Stoff zu einem Autor, der über eine bilderreiche, expressive, fast schon überinstrumentierte Sprache verfügt. Dank der wortmächtigen Übersetzung von Franziska Zwerg können wir nun „Der Himmel auf ihren Schultern“ auf Deutsch lesen und durch diese Sprache die Gegenwart der Vergangenheit kennenlernen.
Lebedew ist ein Nachgeborener, sein Buch der Versuch einer Rekonstruktion. Der Ich-Erzähler im Roman hat sein Leben gleich zwei Mal einem Mann zu verdanken, den er den zweiten Großvater nennt. Ein unscheinbarer, vielleicht gerade deshalb verführerischer Nachbar in der Ferienhaussiedlung, alt und rätselhaft. Blind ist er, keiner weiß, was er früher gemacht hat; etwas Strenges, Militärisches umgibt ihn allerdings. Als die Mutter mit dem Ich-Erzähler schwanger ist und die Ärzte wegen gesundheitlicher Risiken zu einer Abtreibung raten, setzt der zweite Großvater in seiner bedächtigen, bestimmenden Art die Geburt durch. Fortan ist er im Leben des Kindes, weicht ihm nicht von der Seite, hat etwas Angsteinflößendes und zugleich Anziehendes. Er ist nicht zu durchschauen, scheint zwischen den Lebenden und den Toten zu stehen, ein Geisterwesen.
Nach der Attacke eines Hundes schenkt der aufdringliche Großvater dem Ich-Erzähler zum zweiten Mal das Leben: Er spendet dem Jungen sein Blut, was den Greis so sehr schwächt, dass er an den Folgen stirbt. Die „posthume Blutsverbindung zwischen ihm und mir“ wird dem Erzähler zu einer Last und zu einer Verpflichtung. Der inzwischen junge Mann möchte den Schleier der Großvater-Biografie lüften; er verfolgt die Spuren, die er im Nachlass entdeckt, und er findet schließlich heraus, dass der Alte Lagerkommandant im Gulag gewesen war. Er reist an die Stätten des Grauens, entdeckt den Blinden Fleck des blinden Großvaters. Sergej Lebedews Ich-Erzähler dringt in die „Zone“ ein, eine Todeszone, ein Nicht-Ort, weniger in Vergessenheit geraten als vielmehr verdrängt.
Es ist ein riesiges Gebiet, nördlich des Polarkreises, ein einziges großes Lager, umzäunt von Stacheldraht. Ein apokalyptisches Areal. Wie in Andrej Tarkowskis Film „Stalker“, an dessen imposante Bilder die Sprachbilder Lebedews von ferne erinnern, kann man in dieser „Zone“ umkommen, das Geheimnis kann einen töten. Anders aber als in Tarkowskis Zukunftsfantasie findet sich im Zentrum der „Straf-Zone“ kein „Zimmer der Wünsche“, sondern eine Höhle des Albtraums. „Der Trichter war voller Toter. Der Permafrostboden hatte sie unverwest erhalten. Eine Öffnung in der Wand, die mit abgespültem Gras gestopft war, erwies sich als Mund, ein runder Vorsprung als Kopf. (. . .) Das, was ich für Baumwurzeln gehalten hatte, waren Arme. Das erfrorene Fleisch hatte die Farbe der Erde angenommen, und man konnte es nur an seiner Form erkennen."
Im „Bauch der Erde“ lagern noch die Überreste des Terrors. Die Reise ist mit dieser Goya’schen Inferno-Vision beendet, der Rückweg muss angetreten werden – „im Wort“. Das ist durchaus mutig und ungewöhnlich für einen jungen Autor. In Russland existiert kaum eine Sprache für die dunkle Geschichte des Stalinismus. Sowohl die Opfer als auch die Täter wurden aus dem Bewusstsein gedrängt, obwohl es eindrucksvolle literarische Zeugnisse gibt, etwa die von Warlam Schalamows „Erzählungen aus Kolyma“. Unter Wladimir Putin finden wenig ernsthafte Versuche statt, sich mit den stalinistischen Lagern wissenschaftlich auseinanderzusetzen. Dabei ist diese Geschichte als Trauma sehr präsent. Orlando Figes hat in seinem Buch „Die Flüsterer“ die Geschichten aus den tief verschütteten Erinnerungen der letzten Zeitgenossen geborgen.
Lebedew wählt einen poetischen, zuweilen etwas metapherntrunkenen Weg – aber einen durchaus überzeugenden. Er betrachtet die Vergangenheit wie eine Versteinerung, sie ist stumm und beredt zugleich. Er geht wie ein Archäologe oder eben wie ein Geologe vor, der weiß, dass das zutage Geförderte etwas ist, das unser heutiges Sein und Bewusstsein prägt – wie weit es auch zurückliegen mag. „Ich sehe und erinnere mich. Und dieser Text ist wie ein Denkmal, wie eine Klagemauer, wenn die Toten und Trauernden sich nirgendwo treffen können als an der Mauer der Worte, die Tote und Lebende vereint“, schreibt Lebedew nicht ganz frei von Pathos. Aber es ist ein aufrüttelndes, literarisches Pathos, das einen eindrucksvollen Roman trägt.
Sergej Lebedew: Der Himmel auf ihren Schultern. Roman. Aus dem Russischen von Franziska Zwerg. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013. 332 Seiten, 19,99 Euro
Großvater steht zwischen
den Toten und den Lebenden
Lebedew begreift seinen Roman
als eine Klagemauer aus Worten
Gedenkstätte in Norilsk, das von Gulag-Häftlingen errichtet wurde.
FOTO: ULLSTEIN
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Lebedew wählt einen poetischen, zuweilen etwas metapherntrunkenen Weg - aber einen durchaus überzeugenden. Ulrich Rüdenauer Süddeutsche Zeitung 20130907