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Es gab eine Epoche, in der man, wenn verschiedene Lebewesen aufeinander trafen, nicht genau wusste, ob es sich um Tiere oder Götter, Dämonen oder Ahnen handelte. Oder einfach um Menschen. Eines Tages, der viele tausend Jahre dauerte, machte Homo etwas, das noch keiner versucht hatte: Er begann die Tiere nachzuahmen, die ihn jagten, die Raubtiere. Er wurde zum Jäger. Es war ein langer und schwieriger Prozess, der Spuren und Narben in Riten und Mythen und im Verhalten hinterließ.
Zahlreiche Kulturen, räumlich und zeitlich weit voneinander entfernt, brachten einige dieser dramatischen und
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Produktbeschreibung
Es gab eine Epoche, in der man, wenn verschiedene Lebewesen aufeinander trafen, nicht genau wusste, ob es sich um Tiere oder Götter, Dämonen oder Ahnen handelte. Oder einfach um Menschen. Eines Tages, der viele tausend Jahre dauerte, machte Homo etwas, das noch keiner versucht hatte: Er begann die Tiere nachzuahmen, die ihn jagten, die Raubtiere. Er wurde zum Jäger. Es war ein langer und schwieriger Prozess, der Spuren und Narben in Riten und Mythen und im Verhalten hinterließ.

Zahlreiche Kulturen, räumlich und zeitlich weit voneinander entfernt, brachten einige dieser dramatischen und erotischen Geschehnisse in Verbindung mit der Himmelsregion zwischen Sirius und Orion: dem Ort des Himmlischen Jägers. Dessen Geschichten, in dieses Buch hineingeflochten, greifen in viele Richtungen aus, reichen vom Paläolithikum über Ägypten und das alte Griechenland bis zur Turingmaschine. Sie erkunden die verborgenen Verbindungen innerhalb dieses einen, nicht einzugrenzenden Territoriums, das der Geist ist.


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Autorenporträt
Roberto Calasso, geboren 1941 in Florenz, war Essayist, Kulturphilosoph und Verleger des Mailänder Verlages Adelphi Edizioni. Zuletzt erschien von ihm Der Himmlische Jäger - als neunter Teil eines »work in progress«, das 1983 mit dem Untergang von Kasch begann. Es folgten Die Hochzeit von Kadmos und Harmonia, Ka, K., Das Rosa Tiepolos, Der Traum Baudelaires, Die Glut und Das unnennbare Heute. Calasso starb im Juli 2021 in Mailand.

Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Imposant" nennt der hier rezensierende Kulturwissenschaftler Thomas Macho den achten Band von Roberto Calassos groß angelegter Enzyklopädie. Die Grenzen zwischen Themen und Sprachen, zwischen Roman, Sachbuch und Essay immer wieder leichtfüßig überschreitend, denkt der italienische Kulturphilosoph hier über das Jagen als Kulturtechnik nach, klärt der Kritiker auf, der bei Calasso nachliest, wie sich der Mensch zunehmend dem Raubtier anglich und mit dem Töten, Opfern und dem Fleischverzehr das "Zeitalter des Bewusstseins" und der Selbstreflexion einsetzte. Bezüge zu Elias Canettis "Masse und Macht", aber auch zu Ovids "Metamorphosen", Platons "Gesetzen" oder den Forschungen des Anthropologen Lewis R. Binford machen den Band für Macho zu einem ebenso gelehrten wie pointenreichen Lektüreereignis.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.09.2020

Und Töten, was war das eigentlich?

Auf den Spuren von Elias Canetti: Roberto Calasso setzt seine große Enzyklopädie fort und sinnt über Mensch und Tier, Opfer und Jagd nach.

Der achte Band einer beispiellosen Enzyklopädie von Roberto Calasso ist nun in deutscher Übersetzung erschienen. Die Reihe begann 1983 mit "Der Untergang von Kasch". Der neue Band, der im italienischen Original 2016 erschien, trägt den Titel "Der Himmlische Jäger". Roberto Calasso, Verleger von Adelphi Edizioni in Mailand, hat mit diesem Buch ein imposantes Alterswerk vorgelegt: ein labyrinthisch gelehrtes Selbstgespräch, Roman, Essay, Sach- und Fachbuch zugleich, das die Grenzen zwischen Themen, Sprachen und Disziplinen mit bemerkenswerter Eleganz und Leichtigkeit überschreitet. So folgen auf Erzählungen von Mythen und Kulten, oft mit überraschenden Pointen - etwa zur Beisetzung des Odysseus auf der Insel Kirkes, in Gegenwart von Kirke, Penelope und den Söhnen Telemachos und Telegonos (der bei Homer gar nicht erwähnt wird) - dichte Exkurse zu Ovids "Metamorphosen", Platons "Gesetzen", Herodots Berichten aus Ägypten oder Plotins "Enneaden".

Dabei verliert Calasso dennoch nicht seine Hauptthese aus dem Blick. Sie folgt auf manchen Spuren dem Hauptwerk Elias Canettis, "Masse und Macht" (1960). Eines der wichtigsten Kapitel dieses Buches befasst sich mit dem Wesen der Verwandlung. Canetti beginnt es mit Reflexionen über die Verwandlung bei indigenen Ethnien im südlichen Afrika, die als Jäger und Sammler lebten; er nennt sie noch - nach einem inzwischen verpönten Ausdruck - "Buschmänner", heute sprechen wir von "San" oder "Khoisan". Was Canetti interessiert, sind die "Vorgefühle" dieser Ethnien in der Begegnung mit Tieren. Lange bevor sie die Springböcke sehen, nehmen sie am eigenen Körper wahr, wie deren Füße im Gebüsch rascheln; sie spüren den schwarzen Streifen auf dem Kopf des Springbocks im eigenen Gesicht oder seine schwarzen Haare an den eigenen Rippen. Und manchmal fühlen sie sogar das Blut des erlegten Tieres. Bemerkenswert ist allerdings, dass Canetti hier nicht von der Jagd spricht, sondern sich rasch den "Fluchtverwandlungen" zuwendet. Er erweckt geradezu den Anschein, als würden sich die beschriebenen Ethnien auf den Besuch der Springböcke freuen, in die sie sich bei ihrer Annäherung zu verwandeln beginnen. Doch sie wollen die Tiere töten.

Darum schlägt Calasso einen eigenen Weg ein: Er charakterisiert die Jagd als die essentielle Operation der Verwandlung schlechthin. Sie erzeugt Schuld, daher die Transformation in das Opfer. Der Jäger und die Jägerin - ausführliche Exkurse widmet Calasso der Göttin Artemis - verwandeln sich in die erbeuteten Tiere. "Und Töten, was war das eigentlich?", heißt es schon auf den ersten Seiten des Buchs. Calasso gibt gleich die Antwort: "Kaum etwas anderes, als sich töten. Wenn der Mensch zum Bären wurde, erschlug er, wenn er ihn tötete, sich selbst." Und er erinnert an die dunkle Beziehung zwischen Töten und Essen: "Wer isst, lässt etwas verschwinden. Das war sogar noch geheimnisvoller als das Töten. Wohin verschwindet das, was verschwindet? Im Unsichtbaren. Das am Ende von Anwesendem wimmelt. Es gibt nichts Belebteres als die Abwesenheit. Was aber war zu tun im Hinblick auf all jene Wesen? Vielleicht sollte man ihnen den Übergang in die Abwesenheit erleichtern und sie auf einem Abschnitt ihrer Reise begleiten. Die Tötung war wie ein Gruß. Und wie jede Begrüßung verlangte sie bestimmte Gesten, bestimmte Worte. Sie begannen, Opfer zu zelebrieren."

Die Geschichte des Opfers und der Opfermahlzeiten hatte Calasso bereits im vorangegangenen Band über "Die Glut" (2010), einer umfangreichen Analyse und Kommentierung der alten Veden, untersucht; auch darin folgte Calasso übrigens einigen Anregungen aus "Masse und Macht", beispielsweise in den Kapiteln über die Eingeweide der Macht, die Psychologie des Essens oder die Selbstvermehrung und Selbstverzehrung. Mit seinem Schlüsselsatz "Das Gegessene ißt zurück" hatte Canetti das Essen als eine Art von autophagischer Praxis charakterisiert, und dieser Satz könnte auch in vedischen Ritualtexten stehen. Die Tötung des gejagten Tiers ist eine Selbsttötung, wie Calasso betont, und der Verzehr des getöteten Beutetiers eine Art von Selbstverzehrung. "Die Verwandlungen", so schreibt Canetti, "welche den Menschen mit den Tieren, die er ißt, verbinden, sind stark wie Ketten. Ohne sich in Tiere zu verwandeln, hätte er sie nie essen gelernt."

Roberto Calasso hat das Jagen und Töten als Kulturtechnik beschrieben, nicht als eine genuine Tätigkeit der meisten Lebewesen und Menschen. Unter Berufung auf Forschungen von Lewis R. Binford erinnert er daran, dass die Hominiden jahrtausendelang kein Fleisch, sondern nur Wurzeln, Knollen, Körner oder Früchte gegessen haben; von diesem Zeitalter erzählen auch einige Schöpfungsberichte. Erst die Entdeckung des Feuers und die Anfertigung erster Werkzeuge - vor allem aber die genaue Beobachtung von Aasfressern wie den Hyänen - ermöglichte den frühen Menschen einen allmählichen Wandel ihrer Ernährungskultur: Sie traten gleichsam in die Riege der Aasfresser ein und stiegen in die Rangordnung jener Lebewesen auf, die sich nicht von Tieren ernährten, die sie selbst erlegten, sondern von den Resten der von Raubtieren erlegten Beutetiere.

Raubtiere waren demnach die bewunderten Vorbilder der frühen Menschen, anders gesagt: die ersten Gottheiten. Sie sind die himmlischen Jägerinnen und Jäger. Mit der Jagd beginnt das Zeitalter der Verwandlung; noch die Bewohner und Bewohnerinnen des Olymps haben keine Schwierigkeiten, sich in jedes denkbare Tier zu verwandeln. Mit dem Fleischverzehr beginnt das Zeitalter des Bewusstseins, der Schuld und des Selbstbezugs; so viel gilt schon für die aasfressenden Hominiden, denn einen "Körper zu essen, der vom eigenen Feind getötet worden ist, war wie - vermittelt durch ein Skelett - sich selbst essen. Der ferne Ursprung der Selbstreflexion."

Darum vergleicht Calasso das Jagen - und später das Opfern - mit den symbolischen Kulturtechniken, die sich durch potentielle Selbstreferentialität auszeichnen. Das Jagen ist verwandt mit dem Zeichnen ("Wie könnte ich auf die Jagd gehen, wenn ich vorher nicht zeichnete?"), mit dem Schreiben ("Also beginnt die Jagd. Man beginnt zu schreiben"), ja sogar mit dem Lieben, denn: "Die Jagd ist der Inzest", Ausdruck einer "extremen Affinität zwischen dem Jäger und dem gejagten Tier".

Mit dem Zeitalter des Jagens beginnt bei Calasso das Zeitalter des Bewusstseins, der Selbstreflexion und Verwandlung, aber auch das Zeitalter der Täuschung; der Blick des Narziss fällt in den spiegelglatten See, während der Ruf der Bergnymphe Echó verhallt.

THOMAS MACHO

Roberto Calasso:

"Der Himmlische Jäger".

Aus dem Italienischen von Reimar Klein und Marianne Schneider. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 624 S., geb., 38,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.12.2020

Geschenke
für
den Kopf
Man muss nicht alles positiv sehen,
aber sagen wir es mal so:
Jetzt kommen noch stillere Tage als sonst um
Weihnachten, das bedeutet extra viel Zeit
für Bücher, Filme, Musik! Dazu ein
paar Empfehlungen aus der SZ-Redaktion
COLLAGEN: STEFAN DIMITROV
Jens-Christian Rabe
EINE HILFE
Das neue Grundlagenwerk zu Geschichte und Gegenwart der Krisen der Demokratie, in dessen Mittelpunkt dennoch die essayistisch tastende Überzeugung steht, dass wir uns in gefährlichen Zeiten vor allem anderen darüber klar werden müssen, was wir alles nicht wissen, bevor wir entscheiden können, was zu tun ist.
Adam Przeworski: Krisen der Demokratie. Suhrkamp, 2020. 254 Seiten, 18 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Ein so kluger wie warmherziger und unterhaltsamer Essay über Stil, Geschmack und Sinn im Pop anhand von Enya, der Königin der sphärischen New-Age-Kitschmusik? Geht natürlich nicht. Es sei denn, Chilly Gonzales schreibt ihn.
Chilly Gonzales: Enya. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020. 96 Seiten, 10 Euro.
EIN AUFREGER
Ist Haiyti die intellektuellste deutsche Gangsta-Rapperin oder die nervöseste Gangsta-Intellektuelle des Landes? Sagen wir so: Auf jeden Fall ist sie das Pop-Genie, das das Land noch nicht verdient hat.
Haiyti: „Sui Sui“ (Haiyti Records).
EIN GROSSER SPASS
Was Comedians von allen anderen Menschen unterscheidet, ist, dass ihr Leben bestenfalls nicht nur ein Witz ist. Sondern mehrere. Der Stand-up-Comedy-Superstar Jerry Seinfeld hat seine Autobiografie netterweise gleich als Gag-Sammlung geschrieben. Das Trost-Buch zur Zeit.
Jerry Seinfeld: Is This Anything? Simon & Schuster, 2020. 470 Seiten, 20 Euro.
Theresa Hein
EIN LIEBESBEWEIS
Vom unbedingten Brauchen eines anderen Menschen und der unaufhaltsamen Veränderung von ebenjenem handeln ein paar der schönsten Indie-Songs seit Langem. Und das alles von den mittlerweile mittelalten Strokes, produziert von Goldhändchen Rick Rubin: Midlife endlich ohne Krise, von der es dieses Jahr ja genug gab, mit einem Kunstwerk von Jean-Michel Basquiat als Cover.
The Strokes: The New Abnormal, RCA, 12,99 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Mehr als das. Der Film „Für Sama“ ist eine schwere, schreckliche Probe. Eine Dokumentation aus dem Syrienkrieg, man sieht: wirklich alles von Geburt bis Tod. Gerade in der Zeit des gemütlichen Wegguckens und Einigelns ein Appell. Das alles passiert wirklich.
Für Sama, Regie: Waad al-Kateab, Edward Watts. Filmperlen, 95 Min. DVD,
13,78 Euro.
EIN GENUSS
Die Erzählerin in Deniz Ohdes Debütroman gehört jetzt, wie ihr Lehrer am Gymnasium nicht müde wird ihr einzutrichtern, zur „Elite“. Was aber auch egal ist, wenn die Mutter auszieht. Ohde erzählt von den Auf- und Abs in einem System, das wahre Chancengleichheit eben doch nur ermöglicht, wenn man sie von Geburt aus hat, daneben humorvoll, traurig über eine Kindheit und Jugend in Deutschland zur Jahrtausendwende. Wirkt lange nach.
Deniz Ohde: Streulicht. Roman. Suhrkamp, Berlin 2020. 291 Seiten, 22 Euro.
Laura Hertreiter
EIN GROSSER SPASS
Nahe Zukunft, pandemisch gesehen ist das Schlimmste vorbei und Alard von Kittlitz schickt seinen geschmackssicheren Romanhelden anderweitig ins Verderben. Eine netflixartig erzählte Techno-Utopie über Hochleistungsgehirne und menschliche Begrenztheit. Rund um den Globus, während man zu Hause in der Corona-Gegenwart festsitzt.
Alard von Kittlitz, Sonder. Roman. Piper, München 2020. 320 Seiten, 22 Euro.
EIN LIEBESBEWEIS
Lässige Kindermärchen von Olli Schulz, Feridun Zaimoglu, Juli Zeh, Paul Maar, Flake, Nora Gantenbrink und anderen. Vor allem für Eltern, die Tiger, Bär und Tante Gans nicht mehr sehen können.
Flo, das Flummi und der Schnack, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020. 224 S., 22 Euro.
EINE HILFE
1945 gingen in Demmin Menschen aus Angst vor der Roten Armee in einen Fluss, Steine in den Taschen. Jahrzehnte später wächst dort Neuntklässlerin Larry auf, Ich-Erzählerin, rotzfrecher Schnodderton, Berufsziel Kriegsreporterin. Verena Keßler schreibt humorvoll über Sprachlosigkeit und Geschichte, die bleibt.
Verena Keßler, Die Gespenster von Demmin. Roman. Hanser, München 2020.
240 Seiten, 22 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Seit 2008 haben die Berliner Philharmoniker eine digitale Konzerthalle, ein Glück.
Digitalconcerthall.com, Abo-Tickets ab 9,90 Euro für sieben Tage.
Catrin Lorch
EIN GENUSS
Die Bilder hatten etwas von einer Flaschenpost. Es passte, dass der Maler – der im Jahr 1926 geborene Frank Walter – aus Antigua kam, ein Autodidakt am Rand der Zivilisation, sozusagen. Die Ausstellung, die Susanne Pfeffer ihm als Direktorin im Frankfurter MMK in diesem Frühjahr eingerichtet hatte, war eine Sensation. Der opulente Katalog spiegelt das Leben eines Künstlers, der neben 5000 Bildern auch 50 000 Seiten Manuskripte hinterließ. Eine Lektüre, die Lust macht auf weitere Entdeckungen von Kuratoren, die sich auf dem Gebiet des so sperrig betitelten „Kolonialen Diskurses“ bewegen.
Frank Walter. Eine Retrospektive. Hg. v. Susanne Pfeffer. Walther König, London 2020. 424 Seiten, 39,80 Euro.
EIN AUFREGER
Dieser Katalog dokumentiert zeitgenössische Ignoranz, Oberflächlichkeit und Feigheit: „Philip Guston Now“ ist die Publikation zu einer Tournee mit Werken des amerikanischen Malers durch bedeutende Museen. Doch die Vernissage fiel aus. Aus Angst vor „Fehlinterpretationen“, wie die Verantwortlichen mitteilten – wohl weil man fürchtete, die Figuren mit Ku-Klux-Klan-Mützen, die durch Gustons Bildwelten geistern, könnten falsch aufgefasst werden. Nach dem Protest von Hunderten von Künstlern wird im nächsten Jahr Eröffnung gefeiert, wenn Schau und Katalog überarbeitet und entschärft sind. Insofern: schnell zugreifen.
Philip Guston Now. Hg. v. Harry Cooper/Mark Godfrey. D. A. P. /National Gallery of Art. 280 Seiten, 47,99 Euro.
Johanna Adorján
EIN GENUSS
Ein zutiefst befriedigendes Buch über die Hauptfiguren des Surrealismus, das voller Exzentrik, Wahnsinn und Vergnügen steckt.
Desmond Morris, Das Leben der Surrealisten. Unionsverlag. 352 Seiten, 26 Euro.
EIN GROSSER SPASS
Kann mich nicht erinnern, wann ich dieses Jahr sonst so laut gelacht hätte wie bei der Tanzszene in „Borat 2“. Oder überhaupt gelacht.
Borat 2: Anschluss Moviefilm, von und mit Sacha Baron Cohen (und Maria Bakalova!). Amazon prime.
EIN AUFREGER
Irgendwas von Woody Allen zu empfehlen ruft neuerdings reflexartig Empörung hervor. Dies ist seine Autobiografie. Fantastisches Buch, lustig und sorgfältig.
Woody Allen: Ganz nebenbei. Rowohlt, 2020. 448 Seiten, 25 Euro.
EINE HILFE
Die englische Schauspielerin, Autorin, Regisseurin und Produzentin Michaela Coel, 33, hat eine Fernsehserie über sexuellen Missbrauch gemacht, die einem den Glauben an die Menschheit zurückgeben kann. Nicht nur ist diese Serie, so modern, schnell und cool sie ist, auch noch gut geschrieben, mit unvergesslichen Charakteren. Sie hat auch einen so wahnsinnig schönen Kern: Man weiß nie, was der andere gerade durchmacht, darum geht es. Um Mitgefühl.
„I May Destroy You“, von und mit
Michaela Coel. Auf Sky.
Jens Bisky
EIN LIEBESBEWEIS
„Die beiden Götze“ war 1938 eine Karikatur in der Berliner Illustrierten überschrieben. Sie zeigte Heinrich George, der sein Riesentalent in den Dienst des Dritten Reiches stellte, als Ritter mit der eisernen Hand, neben seinem gerade geborenen Sohn, der vaterlos groß werden würde. Anschaulich erzählt Thomas Medicus von den beiden Schauspielern, von Vater und Sohn, deutscher Kultur im 20. Jahrhundert, von Körperbildern, Männerrollen.
Thomas Medicus: Heinrich und Götz George. Zwei Leben. Verlag Rowohlt Berlin, Berlin 2020. 416 Seiten, 26 Euro.
EIN GROSSER SPASS
Hollywood in den späten Vierzigerjahren, schöne Menschen werden kühn, attackieren mit List, Charme, Wut die Dreieinigkeit aus Rassismus, Sexismus, Homophobie. Eine Miniserie als kontrafaktische Emanzipationsoperette, in herrlichen Kostümen und atemberaubenden Dekorationen wunderbar gespielt.
Hollywood. Von Ryan Murphy und Ian Brennan, mit David Corenswet, Patty LuPone, Laura Harrier u. v. a. Netflix.
EINE HERAUSFORDERUNG
„Die Personen: Ivan, Malina, ich. Die Zeit: heute. Der Ort: Wien“. Nina Kunzendorf führt als Ich-Erzählerin durch Ingeborg Bachmanns Dreiecksgeschichte aus Briefen, Monologen, Telefongesprächen.
Malina. Hörspiel nach dem Roman von Ingeborg Bachmann. Mit Nina Kunzendorf, Edmund Telgenkämper, Christoph Luser. Der Audio Verlag, 2 CDs, ca. 150 Minuten, 16 Euro.
Kurt Kister
EINE WIEDERENTDECKUNG
Klingt prätentiös, ist aber voller Überraschungen: „Texte und Zeichen“ war eine Zeitschrift, die Alfred Andersch zwischen 1955 und 1957 herausgab. 16 Hefte erschienen, dann war Schluss, lohnte sich nicht ökonomisch. Literarisch lohnt es sich bis heute, Hunderte Texte von Arno Schmidt über Dylan Thomas bis zu Böll, Beckett und Joachim Kaiser. 1978 druckte Zweitausendeins die Jahresbände nach; gibt es noch antiquarisch so um die 20 Euro.
Texte und Zeichen, 3 Bände, ca. 1500 Seiten, Zweitausendeins Verlag, nur antiquarisch, ca. 20-30 Euro.
EIN LIEBESBEWEIS
Bob Dylan hat im Seuchenjahr eine neue Platte gemacht: „Rough and Rowdy Ways“. Der Meister lässt uns nicht allein. Auf der Platte klingt er manchmal, als wäre er erst 43. Bester Vintage Dylan mit einem großartigen Kennedy-Mordsong von 17 Minuten Dauer. You gotta love it.
Bob Dylan: Rough and Rowdy Ways. Als CD ab 9,99 Euro.
EINE HILFE
Bei Suhrkamp sind die „Reiseberichte“ von Siegfried Unseld erschienen. Es sind höchst subjektive Protokolle von verlegerischen Reisen zwischen 1959 und 1998. Unseld traf so ziemlich alle, die schrieben, vom Schreiben lebten oder das versuchten. Ein Blick in Welten, die dem Leser sonst verschlossen bleiben: Frisch ist sauer, Handke kann sich nicht benehmen, und die Japaner mögen Hesse, die auch.
Siegfried Unseld: Reiseberichte. Berlin, Suhrkamp 2020. 378 Seiten, 26 Euro.
Johan Schloemann
EIN VERMÖGEN
Eine steinreiche Bankiersfamilie stieg im 19. Jahrhundert zum letzten der großen römischen Adelshäuser auf, mit Palazzi, legendären Partys, repräsentativer Kunst und allem Drum und Dran. Ihre fantastische Sammlung von Antiken, die jahrzehntelang unzugänglich war, wäre jetzt gerade in Rom zu sehen, wenn nicht schon wieder alles zu wäre. Also muss man in diesem herrlichen Katalog schwelgen.
The Torlonia Marbles. Collecting Masterpieces. Herausgegeben von Salvatore Settis und Carlo Gasparri. Electa, Mailand 2020. 336 Seiten, 39 Euro.
EIN GROSSER SPASS
Und Erwachsene ebenso. Neuer deutscher Kinderpop für uns alle, im fünften Jahr.
Unter meinem Bett 6. Oetinger Media, CD ca. 15 Euro oder Streaming.
EINE HERAUSFORDERUNG
Im Jahr der Pandemie packt dieses Buch besonders: Wie der Mensch durch die Erfindung der Jagd zum Raubtier wurde.
Roberto Calasso: Der Himmlische Jäger. Aus dem Italienischen von Reimar Klein und Marianne Schneider, Suhrkamp Verlag, 624 Seiten, 38 Euro.
EIN LIEBESBEWEIS
Spätestens seit „Jenseits von Afrika“ steht die Klarinette unter Kitschverdacht. Auch der „Allegro amabile“-Satz bei Brahms. Hier aber klingt sein scheinbar schlichtes Spätwerk wunderbar abgeklärt.
Johannes Brahms: Clarinet Sonatas. András Schiff, Jörg Widmann. ECM New Series, CD ca. 15 Euro oder Streaming.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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»Calasso ... ist ein mitreißender Denker, der mit präzis geführten Schnitten durch das Gewebe populärer Gewissheiten rauscht.« Alfons Huckebrink neues deutschland 20210201