Es gibt Geschichten, die sich unbemerkt, gewissermaßen undercover, im Gedächtnis festsetzen – oder solche, deren Strahlkraft uns wie ein Blitzschlag trifft: Auf einer Straßenkreuzung spielt sich in dem nicht enden wollenden »hingestreckten Sommer« die Begegnung mit einer Schlange ab. Ein Kind lernt das Lesen und sieht seinen Hund in ein jämmerliches Buchstabenbündel verwandelt. Johann Sebastian Bachs Augenhöhlen werden zum Gesprächsstoff Leipziger Gemeindemitglieder. Marlene Dietrichs Nachlass stellt sich als überraschend befremdlich heraus. Und die Tochter ist von Schneeengeln genauso fasziniert wie vom Vater, der eine Apfelsine so in Schiffchen schneidet, als wäre es ein Zauberstück.
In ihren Prosatexten erzählt Gisela von Wysocki berückende Geschichten und erweckt biographische Einschläge zu neuem Leben. Ihnen bereitet sie eine Bühne: Fundstücke, unerwartete Wendungen und Ereignisse treten hervor, werden aufrüttelnde Gegenwart. Denn: »Alles dies lebt, hat seine Wirklichkeit, greift über auf uns, die wir nach Worten suchen.«
In ihren Prosatexten erzählt Gisela von Wysocki berückende Geschichten und erweckt biographische Einschläge zu neuem Leben. Ihnen bereitet sie eine Bühne: Fundstücke, unerwartete Wendungen und Ereignisse treten hervor, werden aufrüttelnde Gegenwart. Denn: »Alles dies lebt, hat seine Wirklichkeit, greift über auf uns, die wir nach Worten suchen.«
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Rezensentin Iris Radisch glaubt wieder an die Literatur nach der Lektüre von Gisela von Wysockis Prosaminiaturen. Ob die Autorin eine tote Schlange auf dem Asphalt oder der Auslage einer Drogerie Sinnbildliches abgewinnt, Charlie Chaplin oder ihre Mutter ins Spiel bringt, stets weckt sie "schlafende Bilder" und entzückt die Rezensentin mit elegant gestalteten Szenen, die Radisch in ihrer sprachlichen Schönheit und eindringlichen Kürze an Benjamin, Altenberg oder Kafka denken lassen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.01.2022Die Sanftmut der
Kaputtmacherinnen
Die kleine literarische Form dient oft als sicheres
Versteck für große Wahrheiten.
Gisela von Wysocki ist eine ihrer Meisterinnen
VON MEIKE FESSMANN
Schatullen und Vitrinen, Nester, Höhlen, Muscheln, Schneckenhäuser – solcher Art sind die Orte träumerischer Geborgenheit, die Gaston Bachelard in seiner „Poetik des Raumes“ aufruft. Mit Gisela von Wysocki kann man ihnen weitere hinzufügen, den „Federbettbunker“ etwa, in dem ihr junges Alter Ego unter der Bettdecke die Stimme Adornos im Radio vernimmt, heimlich und also umso intensiver. Eine sphärische Verbundenheit im wohlig Unheimlichen spürt die Jüngere mit dem Älteren, eine Vertrautheit, die verschwiegen werden muss, als sie Jahre später in Frankfurt seine Studentin wird und er ihr weit weniger subtile Avancen macht. Einen Kometenschweif an Imaginärem führt die Konstellation mit sich, die Gisela von Wysocki in ihrem 2016 erschienenen Roman „Wiesengrund“ schildert. Nun legt sie einen Band mit Prosaminiaturen vor.
„Der hingestreckte Sommer“ ist ein eigenwilliges Werk, voller Capricen, Kapriolen, Einfälle, ein sorgfältiges Notizbuch aus „Gedächtnisstoff“, ein Album nicht nur familiärer Verwandtschaftsverhältnisse. Und es ist auch ein Versteck. „Hatte im Schutz der eigenen Verhuschtheit meinen Platz finden wollen“, heißt es in einer Geschichte, in der die Erzählerin die einzige Deutsche in einem slowakischen Kurhotel ist.
Ein Charakter des Chaplinesken zeichnet die Texte aus, eine Bewegungsart, die im Vorwärtsgehen auch etwas Zurückweichendes hat. Es sind neunundvierzig Prosaminiaturen in vier Rubriken, die Überschriften wie „Vitrinen“ oder „Menschen und Blitze“ tragen. In der Schwebe zwischen Abstraktion und Sinnlichkeit sind sie szenisch sehr präzis. Stilistisch den Schriftstellern der Brevitas verwandt, im erzählerischen Habitus stark gestisch geprägt, erkennt man in Wysockis Verkleinerungskunst die Schattenrisse von Kafka, Beckett oder Robert Walser. Diese Prosa baut Schutzwälle, Gehäuse, Umzäunungen und begibt sich zugleich in stutzendem Schlendergang auf Nebenwege. Sie liebt die Ablenkung des Blicks. Beispielsweise in der hinreißenden Titelgeschichte „Der hingestreckte Sommer“, einem virtuosen Stück gezielter Verblendung. In der brutalen Hitze eines Berliner Sommertags wird die Aufmerksamkeit der Erzählerin von einem unverrückbar stehenden Passanten gefesselt, der sich trotz grüner Ampel nicht über die Straße wagt. Was hält ihn ab? Was ist dort zu sehen? Eine offenbar gar nicht metaphorische, sondern ganz reale, zerquetscht sich aufbäumende Schlange, deren Bild die Geschichte aber nicht wirklich evozieren will, um den zwangsläufig pompösen Effekt zu vermeiden.
„Komik und Katastrophe“, zwei Großvokabeln, die in „Wiesengrund“ den angstvollen Gemütszustand der Frankfurter Studentin beschreiben, sind in diesen Prosaminiaturen unablässig am Werk. Der Kinderwagen kann so zur ersten „Guckkasten“-Bühne werden. Geschoben, geschaukelt und gänzlich von den Bewegungen der Erwachsenen abhängig, schweift der Blick des Kindes umher und macht sich selbstständig: „Man fällt Urteile, man genießt ein triumphales Glück, sich über Bitten, Anordnungen hinwegzusetzen. Bald ist man hineingeschlittert in das feeling für Verborgenes und Misslungenes im Leben der anderen. Noch ohne Sprache, sind die aufscheinenden Mysterien dennoch beredt. Die verdächtigen, unwissentlichen Gesten der Mutter. Die kleinen, vom Vater weggelächelten Irritationen. Alles das, aufgenommen ins Protokoll, gehört ihnen, den späteren Zeiten. Könnte Material sein für die dereinst mit Psychologen fällig werdenden Gespräche. Alles das, was aussieht wie Kleinkram, Larifari, das könnte es sein.“
Die Erwachsene, erkennbar durch die Schule Freuds gegangen, rekonstruiert eine Kindheitserfahrung, die am Ende auf eine unerschöpfliche Ästhetik des Verborgenen zuläuft. Im Verborgenen versteckt sich das Wahre, ließe sich die produktive Unterstellung pointieren. Seit den 1970er Jahren befeuert sie nicht nur die Seelenkunde, sondern auch die Ideologiekritik. Als literarisches Verfahren ist das in allen Genres ergiebig, von der Poesie über Märchen bis hin zum Kriminalroman. In der Kombination mit der Liebe zur Miniatur ergibt sie eine spezielle Weltsicht. Je tiefer etwas versteckt ist und je kleiner es erscheint, desto sicherer ist es. Das trifft nicht nur auf die Miniaturschrift Robert Walsers zu, nicht nur auf manche Skizzen Kafkas, es findet sich beispielsweise auch bei Sibylle Lewitscharoff, in ihren Texten, Zeichnungen und puppenstubengroßen „szenischen Objekten“. Friederike Mayröcker, der Gisela von Wysocki einen eigenen Text widmet, hat das Skizzenhafte ihrer Zettel, Zeichnungen, Sprachentwürfe dagegen nicht mit einem Miniaturisierungsprojekt verknüpft. Das sprichwörtliche Chaos ihrer Wohnung in der Wiener Zentagasse folgt einem Gegenprogramm: der freudigen Verwilderung und Verästelung, das keiner Kontrolle bedarf.
Als Essayistin hat Gisela von Wysocki ihren Blick für weibliche Imaginationen geschärft. „Die Fröste der Freiheit“, 1980 im Syndikat Verlag erschienen, gehört zu den Kultbüchern des bundesrepublikanischen Feminismus. Bei seiner Neuausgabe im Jahr 2000 ließ sie das ausführliche Gespräch mit der Mutter streichen, welches den Band abschloss. Sie ersetzte es durch einen Essay über Marguerite Duras. Warum? Das fragt sie sich nun, wiederum zwanzig Jahre später. „Im Rausch von der Leinwand gepflückt“ ist in seiner Suchbewegung so etwas wie das Herzstück des Bandes. Sie habe nicht viel von der „Schwärmerei“ ihrer Mutter fürs Kino gehalten, erzählt die Schriftstellerin, es sei ihr vorgekommen wie „eine undichte Stelle in ihrem Gefühlsleben“. Nun aber erkennt sie, dass die Mutter das „Verschwinden und Untertauchen“ gebraucht hatte, um ein Leben zu meistern, das von den „Existenzkrisen des Landes“ geprägt war.
Es ist eine Form nachgetragener Liebe, die zugleich einen Fingerzeig enthält, der auf die Schriftstellerin selbst verweist. Einen bestimmten Typus von Schauspielerinnen habe die Mutter besonders geliebt. Sie seien Wesen „ganz für sich“. Elisabeth Bergner gehörte dazu, „sanftmütig auf den ersten Blick, in Wirklichkeit aber eine (...) begnadete Kaputtmacherin.“ Damals im Gespräch hatte die Mutter bewundernd zu ihrer Tochter gesagt, sie ähnele dem Idol. Dieser Hinweis fehlt nun in der Erzählung. „Ich bin eine Verräterin“, bezichtigt sich die Autorin. Doch das ist eine Tarnung. Längst hat sie von ihrer schriftstellerischen Oberhoheit Gebrauch gemacht, um eine Zuschreibung auszuschalten, die sie abwehren muss: am Ende ausgerechnet die mütterlichen Wunschbilder gelebt zu haben.
Die Mutter schwärmt
fürs Kino: „eine undichte Stelle
in ihrem Gefühlsleben“
Gisela von Wysocki:
Der hingestreckte Sommer. Suhrkamp, Berlin 2021.
256 Seiten, 24 Euro.
Ihr Buch „Fröste der Freiheit“ ist heute auch eine Art Klassiker: Gisela von Wysocki.
Foto: Barry Lynch/Suhrkamp Verlag
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Kaputtmacherinnen
Die kleine literarische Form dient oft als sicheres
Versteck für große Wahrheiten.
Gisela von Wysocki ist eine ihrer Meisterinnen
VON MEIKE FESSMANN
Schatullen und Vitrinen, Nester, Höhlen, Muscheln, Schneckenhäuser – solcher Art sind die Orte träumerischer Geborgenheit, die Gaston Bachelard in seiner „Poetik des Raumes“ aufruft. Mit Gisela von Wysocki kann man ihnen weitere hinzufügen, den „Federbettbunker“ etwa, in dem ihr junges Alter Ego unter der Bettdecke die Stimme Adornos im Radio vernimmt, heimlich und also umso intensiver. Eine sphärische Verbundenheit im wohlig Unheimlichen spürt die Jüngere mit dem Älteren, eine Vertrautheit, die verschwiegen werden muss, als sie Jahre später in Frankfurt seine Studentin wird und er ihr weit weniger subtile Avancen macht. Einen Kometenschweif an Imaginärem führt die Konstellation mit sich, die Gisela von Wysocki in ihrem 2016 erschienenen Roman „Wiesengrund“ schildert. Nun legt sie einen Band mit Prosaminiaturen vor.
„Der hingestreckte Sommer“ ist ein eigenwilliges Werk, voller Capricen, Kapriolen, Einfälle, ein sorgfältiges Notizbuch aus „Gedächtnisstoff“, ein Album nicht nur familiärer Verwandtschaftsverhältnisse. Und es ist auch ein Versteck. „Hatte im Schutz der eigenen Verhuschtheit meinen Platz finden wollen“, heißt es in einer Geschichte, in der die Erzählerin die einzige Deutsche in einem slowakischen Kurhotel ist.
Ein Charakter des Chaplinesken zeichnet die Texte aus, eine Bewegungsart, die im Vorwärtsgehen auch etwas Zurückweichendes hat. Es sind neunundvierzig Prosaminiaturen in vier Rubriken, die Überschriften wie „Vitrinen“ oder „Menschen und Blitze“ tragen. In der Schwebe zwischen Abstraktion und Sinnlichkeit sind sie szenisch sehr präzis. Stilistisch den Schriftstellern der Brevitas verwandt, im erzählerischen Habitus stark gestisch geprägt, erkennt man in Wysockis Verkleinerungskunst die Schattenrisse von Kafka, Beckett oder Robert Walser. Diese Prosa baut Schutzwälle, Gehäuse, Umzäunungen und begibt sich zugleich in stutzendem Schlendergang auf Nebenwege. Sie liebt die Ablenkung des Blicks. Beispielsweise in der hinreißenden Titelgeschichte „Der hingestreckte Sommer“, einem virtuosen Stück gezielter Verblendung. In der brutalen Hitze eines Berliner Sommertags wird die Aufmerksamkeit der Erzählerin von einem unverrückbar stehenden Passanten gefesselt, der sich trotz grüner Ampel nicht über die Straße wagt. Was hält ihn ab? Was ist dort zu sehen? Eine offenbar gar nicht metaphorische, sondern ganz reale, zerquetscht sich aufbäumende Schlange, deren Bild die Geschichte aber nicht wirklich evozieren will, um den zwangsläufig pompösen Effekt zu vermeiden.
„Komik und Katastrophe“, zwei Großvokabeln, die in „Wiesengrund“ den angstvollen Gemütszustand der Frankfurter Studentin beschreiben, sind in diesen Prosaminiaturen unablässig am Werk. Der Kinderwagen kann so zur ersten „Guckkasten“-Bühne werden. Geschoben, geschaukelt und gänzlich von den Bewegungen der Erwachsenen abhängig, schweift der Blick des Kindes umher und macht sich selbstständig: „Man fällt Urteile, man genießt ein triumphales Glück, sich über Bitten, Anordnungen hinwegzusetzen. Bald ist man hineingeschlittert in das feeling für Verborgenes und Misslungenes im Leben der anderen. Noch ohne Sprache, sind die aufscheinenden Mysterien dennoch beredt. Die verdächtigen, unwissentlichen Gesten der Mutter. Die kleinen, vom Vater weggelächelten Irritationen. Alles das, aufgenommen ins Protokoll, gehört ihnen, den späteren Zeiten. Könnte Material sein für die dereinst mit Psychologen fällig werdenden Gespräche. Alles das, was aussieht wie Kleinkram, Larifari, das könnte es sein.“
Die Erwachsene, erkennbar durch die Schule Freuds gegangen, rekonstruiert eine Kindheitserfahrung, die am Ende auf eine unerschöpfliche Ästhetik des Verborgenen zuläuft. Im Verborgenen versteckt sich das Wahre, ließe sich die produktive Unterstellung pointieren. Seit den 1970er Jahren befeuert sie nicht nur die Seelenkunde, sondern auch die Ideologiekritik. Als literarisches Verfahren ist das in allen Genres ergiebig, von der Poesie über Märchen bis hin zum Kriminalroman. In der Kombination mit der Liebe zur Miniatur ergibt sie eine spezielle Weltsicht. Je tiefer etwas versteckt ist und je kleiner es erscheint, desto sicherer ist es. Das trifft nicht nur auf die Miniaturschrift Robert Walsers zu, nicht nur auf manche Skizzen Kafkas, es findet sich beispielsweise auch bei Sibylle Lewitscharoff, in ihren Texten, Zeichnungen und puppenstubengroßen „szenischen Objekten“. Friederike Mayröcker, der Gisela von Wysocki einen eigenen Text widmet, hat das Skizzenhafte ihrer Zettel, Zeichnungen, Sprachentwürfe dagegen nicht mit einem Miniaturisierungsprojekt verknüpft. Das sprichwörtliche Chaos ihrer Wohnung in der Wiener Zentagasse folgt einem Gegenprogramm: der freudigen Verwilderung und Verästelung, das keiner Kontrolle bedarf.
Als Essayistin hat Gisela von Wysocki ihren Blick für weibliche Imaginationen geschärft. „Die Fröste der Freiheit“, 1980 im Syndikat Verlag erschienen, gehört zu den Kultbüchern des bundesrepublikanischen Feminismus. Bei seiner Neuausgabe im Jahr 2000 ließ sie das ausführliche Gespräch mit der Mutter streichen, welches den Band abschloss. Sie ersetzte es durch einen Essay über Marguerite Duras. Warum? Das fragt sie sich nun, wiederum zwanzig Jahre später. „Im Rausch von der Leinwand gepflückt“ ist in seiner Suchbewegung so etwas wie das Herzstück des Bandes. Sie habe nicht viel von der „Schwärmerei“ ihrer Mutter fürs Kino gehalten, erzählt die Schriftstellerin, es sei ihr vorgekommen wie „eine undichte Stelle in ihrem Gefühlsleben“. Nun aber erkennt sie, dass die Mutter das „Verschwinden und Untertauchen“ gebraucht hatte, um ein Leben zu meistern, das von den „Existenzkrisen des Landes“ geprägt war.
Es ist eine Form nachgetragener Liebe, die zugleich einen Fingerzeig enthält, der auf die Schriftstellerin selbst verweist. Einen bestimmten Typus von Schauspielerinnen habe die Mutter besonders geliebt. Sie seien Wesen „ganz für sich“. Elisabeth Bergner gehörte dazu, „sanftmütig auf den ersten Blick, in Wirklichkeit aber eine (...) begnadete Kaputtmacherin.“ Damals im Gespräch hatte die Mutter bewundernd zu ihrer Tochter gesagt, sie ähnele dem Idol. Dieser Hinweis fehlt nun in der Erzählung. „Ich bin eine Verräterin“, bezichtigt sich die Autorin. Doch das ist eine Tarnung. Längst hat sie von ihrer schriftstellerischen Oberhoheit Gebrauch gemacht, um eine Zuschreibung auszuschalten, die sie abwehren muss: am Ende ausgerechnet die mütterlichen Wunschbilder gelebt zu haben.
Die Mutter schwärmt
fürs Kino: „eine undichte Stelle
in ihrem Gefühlsleben“
Gisela von Wysocki:
Der hingestreckte Sommer. Suhrkamp, Berlin 2021.
256 Seiten, 24 Euro.
Ihr Buch „Fröste der Freiheit“ ist heute auch eine Art Klassiker: Gisela von Wysocki.
Foto: Barry Lynch/Suhrkamp Verlag
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.03.2022Die bündnisfähige Mitwisserin
Wahlverwandtschaften aller Couleurs fügen sich zu einem Kaleidoskop des Persönlichen: Gisela von Wysockis neuer Band "Der hingestreckte Sommer"
Seit den frühen Achtzigerjahren ist Gisela von Wysocki eine einzigartige Stimme in der Literatur, als Essayistin, Dramatikerin und Romanautorin. Weithin Bekanntheit erlangte sie, 1940 in Berlin geboren, 1981 mit ihrer Essaysammlung "Die Fröste der Freiheit", die sie "Aufbruchsphantasien" untertitelte, oder im Jahr danach mit "Weiblichkeit und Modernität", einer Abhandlung zu Virginia Woolf. Dort verbindet sie avancierte Theoriebildung nach Sigmund Freud und einen unorthodoxen Feminismus auf unverwechselbare Weise mit ihrer Einbildungskraft. Einen Roman, der "Wiesengrund" heißt, hat sie 2016 zu Adorno veröffentlicht, bei dem sie in den Siebzigern in Frankfurt Philosophie studierte. Nun legt sie mit "Der hingestreckte Sommer" einen Band vor, in dem 49 Prosastücke in vier Kapiteln angeordnet sind, deren Überschriften sich wie ein Leitmotiv lesen: In "Vitrinen" randalieren "Die ruhelosen Wörter", die aus "Menschen und Blitze(n)" herauswollen, Szenen eines "Écrit d'après la nature". Es sind Evokationen, die dort Gestalt annehmen, aus den diversen Revieren des Lebens. Sie finden in die Köpfe und besetzen die Körper der Lesenden.
Unter der Rubrik "Tableaux vivants" verzeichnet Gisela von Wysocki: "Wie häufig man ihr gegenüber die Bemerkung machte, sie würde sich auf eine ,künstlerische' Art und Weise Zugang zu den Dingen verschaffen. Eher künstlerisch als wissenschaftlich." Es folgten dann beschwichtigende Floskeln: "Dabei war's nichts anderes, als getröstet ins Abseits geschoben zu werden." Und sie meint gewiss sich selbst, eine kleine Härte, Kränkung beinah schwingt da mit. Ist doch vielen der Gedanke geradezu unheimlich, dass poetische Sprache Erkenntnis hervorbringen kann - und damit der vorgeblich rein sachlichen Erörterung ihres Gegenstands überlegen sein kann. Genau das beweist sie, einmal mehr, im aktuellen Buch. Ihr Blick ist dabei "weiblich" geblieben, das bedeutet anders, sie schreibt von ihrer Position am Rand des Gängigen, des Gefügigen heraus.
Das betrachtende Ich ist nicht intakte Funktionseinheit, sondern selbst dezentriert, von Bruchstellen durchzogen - was auch ohne die Theorie, die einst dahinterstand, wahr bleibt. Und was diese Miniaturen, Kurz- und Kürzestgeschichten, Parabeln, Denkbilder und Phantasien so fesselnd und mitreißend macht. Gisela von Wysocki oktroyiert keinem einen point of view. Sie spielt mit der Wahrnehmung, der inneren wie der äußeren, der ihren wie der unseren. Schon im frühen Essay zu Virginia Woolf schrieb sie: "Sprache, die nicht aus einem Jenseits der Kultur, sondern aus Zwischenräumen kommt. Sprache, nicht alternativ, sondern verschoben um jene Nuance an Sinn und Empirie, an Begrifflichkeit, die die Wörter erhitzt, sie zum Taumeln bringt, zu Fremdkörpern werden lässt. Sprache, die redet; zerredet. Imitatorisch, parodistisch. Ihre Übergenauigkeit öffnet den Blick." Sprache eben, die dekonstruiert und im selben Moment eine ungekannte Wirksamkeit aufbaut.
Hinter den aktuellen Texten ließe sich eine Story ihrer eigenen Vita von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter rekonstruieren. So, wenn sie "Das Elend mit den Buchstaben" preisgibt: "Schon kurz nach meiner Einschulung musste mir die Mutter Nachhilfeunterricht geben. Die Lehrerin sprach von einer beträchtlichen Lese- und Schreibschwäche. Ihre Tochter erkennt die Buchstaben nicht, hatte die Lehrerin gesagt. Die Mutter sah besorgt aus, es wurden regelmäßige abendliche Exerzitien angeordnet." Die Zeichen lassen sich für das Kind nicht umstandslos mit Vorstellungen verbinden. Erst die Lektüre von Hans Christian Andersens bilderreichem Märchen "Der fliegende Koffer" öffnet ihr diese Welt der Imagination. Anders ist es früh mit dem Sprechen, wie sich Gisela von Wysocki erinnert in "Verdächtige Verwandlungen": "Die Sprache hielt eine Schere bereit. Man führte sie im Mund herum und schnitt damit Dinge zu. Schnitt sich diese oder jene Anknüpfungspunkte zurecht. Sie stellte eine verlässliche Vorrichtung dar: einen immer geöffneten Mund. Ich war froh, dass es die Sprache gab. Meinen ersten Notizen merkt man an, wie cool ich es fand, ihr etwas aufhalsen zu können. Ich traute ihr eine Menge zu."
Es geht aber keineswegs nur um private Verwandtschaften, der Band führt gleichsam Wahlverwandte aller Couleurs zusammen wie in einem Kaleidoskop, dessen einzelne Elemente sich mit jeder Umdrehung neu ordnen. Was bleibt, ist der charakteristische Blick der Autorin auf ihr Personal - und zugleich immer auch auf den Ort, von dem aus sie schreibt, auf sich selbst. So widmet sie eine ihrer Miniaturen Leben und Werk der Malerin Charlotte Salomon, die im Alter von 26 Jahren 1943 in Auschwitz ermordet wurde: "Sieht man es diesen Bildern nicht an, das Verlangen, in ihnen ein Überleben zu finden? Ein Weiterexistieren? Zukunft? Es könnte den Elan erklären, mit dem hier ein Gedächtnis Schätze an Land zog. Sie müssen ihrer Erfinderin vor den Augen gebrannt haben." Und so schreibt sie über diverse Formen von Zurichtung, wie sie offen oder verdeckt ausgeübt wird: in einer Abiturprüfung, in die der Schuldirektor zugunsten der Examinierten rettend eingreift und damit das "Ende der Devotion" herbeiführt. Oder im Naturhistorischen Museum, wo für die ausgestellten Urwesen in der Zukunft auch das Sterben wegfällt: "Das Wort für dieses angehaltene, aufgehaltene Leben heißt Statik. Heißt Abwesenheit." Oder unter dem Rubrum "Ereignis Frau", gekleidet in Volten und Revolten, die Mode mit filigranem Instrumentarium sezierend.
In der zauberischen Titelgeschichte "Der hingestreckte Sommer" lässt Gisela von Wysocki ihre Kunst glänzen: Es ist ein heißer Sommertag in Berlin, an einer Straßenkreuzung kommen gleißende Blendung und Verblendung zusammen in einem stillen Spektakel, das "die denkbar unvergesslichste Vision eines Fremdkörpers" generiert als "das aufgelöste Gewinde eines Körpers zwischen Schwanz und Kopf". Die Schlange, die der Autoverkehr gnadenlos blind zerquetscht, wird zur Metapher jeder falschen Anwesenheit überhaupt: "Es war das Beste, diese Gegend zu verlassen." Wie ein Nachspiel nimmt das letzte Stück des Buchs, "Das Meeresschwimmbecken", diesen Moment eines schon metaphysischen Erschreckens wieder auf. Die Icherzählerin verlässt den Pool, am Rand ist ihr eine für sie nicht identifizierbare Existenz erschienen.
Die glückliche Erfahrung mit Gisela von Wysockis Schreiben heißt: Sprachskepsis und Versöhnlichkeit. Die Sprache ist für sie immer "bündnisfähige Mitwisserin" geblieben. Da zeigt also eine, wie sich mit der Sprache zurechtkommen lässt, ohne sie ihres Zaubers zu berauben: wie sich Zwischenräume offenhalten lassen, in denen Wirklichkeit Platz finden, vielleicht sogar Wahrheit aufblitzen kann. ROSE-MARIA GROPP
Gisela von Wysocki: "Der hingestreckte Sommer".
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 252 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wahlverwandtschaften aller Couleurs fügen sich zu einem Kaleidoskop des Persönlichen: Gisela von Wysockis neuer Band "Der hingestreckte Sommer"
Seit den frühen Achtzigerjahren ist Gisela von Wysocki eine einzigartige Stimme in der Literatur, als Essayistin, Dramatikerin und Romanautorin. Weithin Bekanntheit erlangte sie, 1940 in Berlin geboren, 1981 mit ihrer Essaysammlung "Die Fröste der Freiheit", die sie "Aufbruchsphantasien" untertitelte, oder im Jahr danach mit "Weiblichkeit und Modernität", einer Abhandlung zu Virginia Woolf. Dort verbindet sie avancierte Theoriebildung nach Sigmund Freud und einen unorthodoxen Feminismus auf unverwechselbare Weise mit ihrer Einbildungskraft. Einen Roman, der "Wiesengrund" heißt, hat sie 2016 zu Adorno veröffentlicht, bei dem sie in den Siebzigern in Frankfurt Philosophie studierte. Nun legt sie mit "Der hingestreckte Sommer" einen Band vor, in dem 49 Prosastücke in vier Kapiteln angeordnet sind, deren Überschriften sich wie ein Leitmotiv lesen: In "Vitrinen" randalieren "Die ruhelosen Wörter", die aus "Menschen und Blitze(n)" herauswollen, Szenen eines "Écrit d'après la nature". Es sind Evokationen, die dort Gestalt annehmen, aus den diversen Revieren des Lebens. Sie finden in die Köpfe und besetzen die Körper der Lesenden.
Unter der Rubrik "Tableaux vivants" verzeichnet Gisela von Wysocki: "Wie häufig man ihr gegenüber die Bemerkung machte, sie würde sich auf eine ,künstlerische' Art und Weise Zugang zu den Dingen verschaffen. Eher künstlerisch als wissenschaftlich." Es folgten dann beschwichtigende Floskeln: "Dabei war's nichts anderes, als getröstet ins Abseits geschoben zu werden." Und sie meint gewiss sich selbst, eine kleine Härte, Kränkung beinah schwingt da mit. Ist doch vielen der Gedanke geradezu unheimlich, dass poetische Sprache Erkenntnis hervorbringen kann - und damit der vorgeblich rein sachlichen Erörterung ihres Gegenstands überlegen sein kann. Genau das beweist sie, einmal mehr, im aktuellen Buch. Ihr Blick ist dabei "weiblich" geblieben, das bedeutet anders, sie schreibt von ihrer Position am Rand des Gängigen, des Gefügigen heraus.
Das betrachtende Ich ist nicht intakte Funktionseinheit, sondern selbst dezentriert, von Bruchstellen durchzogen - was auch ohne die Theorie, die einst dahinterstand, wahr bleibt. Und was diese Miniaturen, Kurz- und Kürzestgeschichten, Parabeln, Denkbilder und Phantasien so fesselnd und mitreißend macht. Gisela von Wysocki oktroyiert keinem einen point of view. Sie spielt mit der Wahrnehmung, der inneren wie der äußeren, der ihren wie der unseren. Schon im frühen Essay zu Virginia Woolf schrieb sie: "Sprache, die nicht aus einem Jenseits der Kultur, sondern aus Zwischenräumen kommt. Sprache, nicht alternativ, sondern verschoben um jene Nuance an Sinn und Empirie, an Begrifflichkeit, die die Wörter erhitzt, sie zum Taumeln bringt, zu Fremdkörpern werden lässt. Sprache, die redet; zerredet. Imitatorisch, parodistisch. Ihre Übergenauigkeit öffnet den Blick." Sprache eben, die dekonstruiert und im selben Moment eine ungekannte Wirksamkeit aufbaut.
Hinter den aktuellen Texten ließe sich eine Story ihrer eigenen Vita von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter rekonstruieren. So, wenn sie "Das Elend mit den Buchstaben" preisgibt: "Schon kurz nach meiner Einschulung musste mir die Mutter Nachhilfeunterricht geben. Die Lehrerin sprach von einer beträchtlichen Lese- und Schreibschwäche. Ihre Tochter erkennt die Buchstaben nicht, hatte die Lehrerin gesagt. Die Mutter sah besorgt aus, es wurden regelmäßige abendliche Exerzitien angeordnet." Die Zeichen lassen sich für das Kind nicht umstandslos mit Vorstellungen verbinden. Erst die Lektüre von Hans Christian Andersens bilderreichem Märchen "Der fliegende Koffer" öffnet ihr diese Welt der Imagination. Anders ist es früh mit dem Sprechen, wie sich Gisela von Wysocki erinnert in "Verdächtige Verwandlungen": "Die Sprache hielt eine Schere bereit. Man führte sie im Mund herum und schnitt damit Dinge zu. Schnitt sich diese oder jene Anknüpfungspunkte zurecht. Sie stellte eine verlässliche Vorrichtung dar: einen immer geöffneten Mund. Ich war froh, dass es die Sprache gab. Meinen ersten Notizen merkt man an, wie cool ich es fand, ihr etwas aufhalsen zu können. Ich traute ihr eine Menge zu."
Es geht aber keineswegs nur um private Verwandtschaften, der Band führt gleichsam Wahlverwandte aller Couleurs zusammen wie in einem Kaleidoskop, dessen einzelne Elemente sich mit jeder Umdrehung neu ordnen. Was bleibt, ist der charakteristische Blick der Autorin auf ihr Personal - und zugleich immer auch auf den Ort, von dem aus sie schreibt, auf sich selbst. So widmet sie eine ihrer Miniaturen Leben und Werk der Malerin Charlotte Salomon, die im Alter von 26 Jahren 1943 in Auschwitz ermordet wurde: "Sieht man es diesen Bildern nicht an, das Verlangen, in ihnen ein Überleben zu finden? Ein Weiterexistieren? Zukunft? Es könnte den Elan erklären, mit dem hier ein Gedächtnis Schätze an Land zog. Sie müssen ihrer Erfinderin vor den Augen gebrannt haben." Und so schreibt sie über diverse Formen von Zurichtung, wie sie offen oder verdeckt ausgeübt wird: in einer Abiturprüfung, in die der Schuldirektor zugunsten der Examinierten rettend eingreift und damit das "Ende der Devotion" herbeiführt. Oder im Naturhistorischen Museum, wo für die ausgestellten Urwesen in der Zukunft auch das Sterben wegfällt: "Das Wort für dieses angehaltene, aufgehaltene Leben heißt Statik. Heißt Abwesenheit." Oder unter dem Rubrum "Ereignis Frau", gekleidet in Volten und Revolten, die Mode mit filigranem Instrumentarium sezierend.
In der zauberischen Titelgeschichte "Der hingestreckte Sommer" lässt Gisela von Wysocki ihre Kunst glänzen: Es ist ein heißer Sommertag in Berlin, an einer Straßenkreuzung kommen gleißende Blendung und Verblendung zusammen in einem stillen Spektakel, das "die denkbar unvergesslichste Vision eines Fremdkörpers" generiert als "das aufgelöste Gewinde eines Körpers zwischen Schwanz und Kopf". Die Schlange, die der Autoverkehr gnadenlos blind zerquetscht, wird zur Metapher jeder falschen Anwesenheit überhaupt: "Es war das Beste, diese Gegend zu verlassen." Wie ein Nachspiel nimmt das letzte Stück des Buchs, "Das Meeresschwimmbecken", diesen Moment eines schon metaphysischen Erschreckens wieder auf. Die Icherzählerin verlässt den Pool, am Rand ist ihr eine für sie nicht identifizierbare Existenz erschienen.
Die glückliche Erfahrung mit Gisela von Wysockis Schreiben heißt: Sprachskepsis und Versöhnlichkeit. Die Sprache ist für sie immer "bündnisfähige Mitwisserin" geblieben. Da zeigt also eine, wie sich mit der Sprache zurechtkommen lässt, ohne sie ihres Zaubers zu berauben: wie sich Zwischenräume offenhalten lassen, in denen Wirklichkeit Platz finden, vielleicht sogar Wahrheit aufblitzen kann. ROSE-MARIA GROPP
Gisela von Wysocki: "Der hingestreckte Sommer".
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 252 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»... eine intelligent wuchernde Komposition aus Erinnerungsfragmenten, die sich zur Symphonie eines reichen Künstlerinnen-Lebens zusammenfügen.« Iris Radisch DIE ZEIT 20220630