Mit Anfang dreißig entflieht der verhinderte Schriftsteller Edward Manners der Orientierungslosigkeit seines Daseins in der südostenglischen Provinz, um im belgischen Brügge als Privatlehrer zu arbeiten. Bereitwillig lässt er sich vom modrigen Charme der altehrwürdigen Handelsstadt in den Bann ziehen, erkundet ihre engen Gassen, zwielichtigen Kneipen und versteckten Parks, in denen schwule Männer sich zum Sex treffen. Nebenbei findet er Gefallen an den Gemälden des belgischen Symbolisten Edgard Orst. Und er verliebt sich in seinen Schüler Luc. Seine rückhaltlose Bewunde- rung nimmt bald schon obsessive Züge an. Als Edwards Gefühlsleben endgültig zum Abbild der hysterischen Entrücktheit der Orst-Gemälde zu werden droht, erzwingt ein Todesfall seine Rückkehr nach England. Alan Hollinghursts zweiter Roman "The Folding Star" erhielt beim Erscheinen der englischen Erstausgabe 1994 durchgängig euphorische Kritiken und die Jury des Booker Prize setzte das »hintersinnige Märchen über Besessenheit, Geheimnis, Begierde und Verlust« prompt auf die Shortlist. Joachim Bartholomae hat den Text, den "The Sunday Times" als wunderschön geschrieben" und "pervers romantisch" pries, mit viel Gespür für Hollinghursts intellektuellen Humor nun erstmals ins Deutsche übertragen. Das Ergebnis ist nicht zuletzt ein Beweis für die Zeitlosigkeit des Romans. Der Hirtenstern ist wie die Gemälde des Symbolisten, denen Edward verfällt: mysteriös, morbide, surreal und sexy.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Kai Sina kann nicht nachvollziehen, dass der 1994 im Original erschienene Roman von Alan Hollinghurst, der nun auf Deutsch vorliegt, von vielen als entspanntes und tabubrechendes Buch über Männerliebe verstanden wird. Für ihn ist der Machtmissbrauch, den der Ich-Erzähler Edward Manners gegenüber seinem Nachhilfeschüler Luc betreibt "alles andere als wünschenswert". Hollinghurst konzentriere sich auf das Leiden des Begehrens seiner Hauptfigur, die so belesen und reflektiert dargestellt werde, dass das "Böse" dieses Mannes in den Hintergrund tritt. Wie der Autor mit Wahrnehmungsmustern spiele sei zwar "genial", was die Botschaft angeht, handele es sich aber um ein "tückisch erzähltes Meisterwerk", resümiert Sina.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.06.2022Archäologie
des Begehrens
Als schwuler Sex normal wurde:
Alan Hollinghursts frühes Meisterwerk
„Der Hirtenstern“ erscheint nach fast
30 Jahren endlich auf Deutsch
VON GUSTAV SEIBT
Man kann sich wundern, dass es einen großen Roman von Alan Hollinghurst gibt, der erst jetzt, fast 30 Jahren später, auf Deutsch zu lesen ist. „Der Hirstenstern“ erschien in England 1994. Jetzt hat ihn der Albino Verlag in der guten Übersetzung von Joachim Bartholomae herausgebracht. „The Folding Star“ war Hollinghursts zweiter Roman, nach der „Schwimmbadbibliothek“, die 1992, vier Jahre nach dem englischen Original, bei Kiepenheuer & Witsch erschien. Die späteren Romane kamen dann jeweils fast gleichzeitig mit den Originalen auch in deutscher Sprache heraus (bei Blessing), so auch das am ausgiebigsten gefeierte Buch Hollinghursts, der Epochenroman „Schönheitslinie“ von 2004/2005.
Offenbar fehlte bei dem großen Verlag das Interesse, das Frühwerk nachzuholen. Jetzt nutzte ein kleiner, feiner Verlag mit überwiegend schwulem Programm die Chance. Die Verspätung im Zeitmaß fast einer ganzen Generation eröffnet dabei auch eine eigene Rezeptionschance.
Der „Hirstenstern“ ist kein Nebenwerk, sondern ein ausgeruhtes, großes Buch von unverkennbarer Meisterschaft, in vielen Zügen sogar lebendiger und frischer als die letzten, etwas konstruierten Romane Hollingshursts, die englische Gesellschaftsgeschichte über mehrere Generationen erzählen und daher manchmal etwas Ausgedachtes haben. Im „Hirtenstern“ ist alles frisch und neu, man erkennt zwar den historischen Abstand an den Alltagsdetails – beispielsweise bei der Telefonie –, aber eine Patina hat er nicht. Das Buch ist rührend und lustig, auch hintergründig wie alles von diesem Autor.
Und ja, es geht wieder ganz zentral um schwulen Sex. Da ist nun eine eigene historische Überlegung fällig. Um 1990 wirkten Hollinghursts Verbalisierungen tabubrechend, weil ein einfacher Vergleich nicht gezogen wurde. Dieser Autor erzählt von der den Alltag unentwegt begleitenden, sexuellen Angeregtheit schwuler Männer ungefähr so freimütig und selbstverständlich, wie das John Updike, Philip Roth, Nicholson Baker und viele andere unbefangen für heterosexuelle Männer längst taten: Offen gelebter Sex ist eben Teil des modernen Weltalltags. Dafür gibt es eine Sprache. Das ist individuell immer wieder aufregend, aber schon lange kein gesellschaftlicher Skandal mehr. Es gehört zur Poesie des Gewöhnlichen, die die eigentliche Domäne des bürgerlichen Romans ist.
Der frühe Alan Hollinghurst steht literaturgeschichtlich an der Schwelle, an der diese aufregende Selbstverständlichkeit und poetische Beiläufigkeit auch für schwulen Sex erreicht wurde, als Teil eines gewöhnlichen, aber gerade in seiner Normalität für alle Leser bewegenden Alltags. Dieser Schritt war vor 30 Jahren in seiner Folgerichtigkeit und Tragweite vielleicht noch nicht richtig einzuschätzen, weil im Detail so viel Ungewohntes an die vorwiegend heterosexuelle Leserschaft heranbrandete – während die Schwulen hier allerdings mit langen Ketten von Wiedererkennungseffekten beglückt wurden. Hollinghurst wirkte also damals, vor 30 Jahren stofflich aufregender als heute, und das verdunkelte den Umstand, dass er schon immer im besten Sinne des Wortes fast altmodischer Erzähler war: Er zeigt eine in vielen seelischen Facetten ausgefaltete westliche Mittelstandswelt, darin Updike oder auch John Cheever sehr verwandt. Die inneren Abenteuer, die zart und derb erlebten erotischen Erlebnisse starten in der vertrauten sozialen Wirklichkeit. Die Kategorie der Verruchtheit hat ausgedient. Dafür kommen heute Hollinghursts stilistische Qualitäten, denen Nicholson Baker schon vor langem seinen fast ehrerbietigen Tribut zollte, noch strahlender zur Geltung.
Der Ich-Erzähler des „Hirtensterns“ ist ein erfolgloser englischer Dichter, der sich eine Auszeit als Nachhilfelehrer in einer alten belgischen Kleinstadt gönnt – es kann sich nur um Brügge handeln. Dort unterrichtet der 30-jährige zwei halbwüchsige Jungen und kommt so auch in Verbindung mit deren Familien. Er erkundet das überschaubare, ebenfalls fast familiäre schwule Nachtleben des Städtchens, in dem es gar nicht besonders heimlichtuerisch zugeht – die alltagsgeschichtliche Momentaufnahme ist gut getroffen.
In der Mitte des Romans muss der Erzähler für 100 Seiten zurück nach Hause, in eine englische Kleinstadt südlich von London, wo ein Schulfreund, seine erste Liebe, nach einem Verkehrsunfall begraben wird, bevor der schon drohende Aids-Tod ihn ereilte. Damit kommt die Biografie des Erzählers Edward Manners, der Sohn eines mittelerfolgreichen Konzertsängers ist, in den Blick, samt all den süßen Erregungen von früher Liebe und erstem Sex, nächtens im Wald unter sommerlichen Sternen, darunter dem titelgebenden Abendstern (den englische Dichtung mit den Hirten in Verbindung bringt). Allein diese 100 Seiten mit ihrer Verbindung von erinnerter Jugendfrühe und Abschied sind umwerfend schön, ein sehr rührender Coming-of-Age-Roman als Bild im Bild.
Doch die wahren Abenteuer warten im tiefen Belgien der alten Stadt, wo sich hinter historischen Fassaden an stockenden Kanälen ein immer kurioseres Figurenensemble zeigt. Die umtriebigen Kleinstadtschwulen sind noch die normalsten – die eigentlichen Bizarrerien werden in alten bürgerlichen Familien gehegt, deren überforderte Söhne an schweren Lasten zu tragen haben, die teils ins burgundische Mittelalter, teils in die Zeit der Nazi-Besetzung und der Kollaboration reichen.
Nacherzählung wäre pedantisch, aber ein paar Hinweise müssen sein. Der Vater eines der beiden Nachhilfeschüler leitet ein Museum eines fiktiven belgischen Malers der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, eines Symbolisten mit gewissen Ähnlichkeiten zu Fernand Khnopff. Auch hier wieder: Einblicke in versteckte Vergangenheiten mit leicht skandalöser Erotik, diesmal heterosexuell, und einem tragischen Ende im Zweiten Weltkrieg. Die Beschreibungen fiktiver Kunstwerke, die Hollinghurst hier abliefert, gehören zum Virtuosesten des ganzen dicken Buches.
Das Hauptdrama des Romans aber ist die Verliebtheit, die den Erzähler Edward für seinen anderen Schüler, dem 17-jährigen Luc aus der alten Familie Altidore ergreift. Das gerät zu einer Minne-Affizierung sehnsüchtigst-schmachtender Art, für deren Orchestrierung Hollinghurst tief in die Kisten von Thomas Mann und Vladimir Nabokov, ja Proust greift – Tadzio, Lolita, Albertine sind literarische Sterne am von Türmen umschlossenen Himmel der abgründig versponnenen Kleinstadt. So erreicht der zeitgenössisch so präzise Roman eine gefühlshistorische Tiefe, eine Archäologie des Begehrens im bürgerlichen Zeitalter. Edward, sonst ein unverklemmter Mensch, erfährt Gustav-von-Aschenbach-Beklemmungen, samt dem dazu gehörenden Nachspionieren auf allerlei Wegen. Diese Minne ist zugleich ätherisch und gegenständlich, hat also reiches poetisches Potenzial.
Das umfängliche Figurensystem des Buches hält viele Spielarten im Kontinuum zwischen irdischer und himmlischer Liebe, zwischen derbem Sex und scheuer Verehrung bereit. Der Panerotismus lebt in ganzen Regenschauern von Metaphern, die unentwegt auf die Leser herunterfallen, zu immer neuer Erheiterung. Hier mag jeder an anderen Stellen lachen, zum Beispiel bei dieser, anlässlich einer nächtlichen Cruisingerfahrung in einem dunklen Park: „Ich fühlte mich sehr weit weg von zu Hause und blieb einen Moment stehen, um meinen Geschlechtstrieb zu überprüfen, wie man den Ölstand im Wagen überprüft, beschloss, dass er zur Zeit noch ausreichend war und joggte auf die Musik zu.“
Luc übrigens, der sich am Ende als weit weniger unerreichbar-unberührbar erweist als zunächst gedacht, läuft aus dem Roman weg. In den letzten Zeilen ist er Bild geworden, von einem Suchplakat an einer Fensterscheibe starrt er aufs winterlich graue belgische Meer.
Die Beschreibungen
der fiktiven Kunstwerke
sind virtuos
Alan Hollinghurst:
Der Hirtenstern.
Roman.
Aus dem Englischen von Joachim Bartholomae. Albino Verlag, Berlin 2022. 620 Seiten, 28 Euro.
„Ich fühlte mich sehr weit weg von zu Hause und blieb einen Moment stehen, um meinen Geschlechtstrieb
zu überprüfen, wie man den Ölstand im Wagen überprüft, beschloss, dass er zur Zeit noch ausreichend war und
joggte auf die Musik zu.“ – Alan Hollinghurst.
Foto: Quique García/Imago/Agencia EFE
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
des Begehrens
Als schwuler Sex normal wurde:
Alan Hollinghursts frühes Meisterwerk
„Der Hirtenstern“ erscheint nach fast
30 Jahren endlich auf Deutsch
VON GUSTAV SEIBT
Man kann sich wundern, dass es einen großen Roman von Alan Hollinghurst gibt, der erst jetzt, fast 30 Jahren später, auf Deutsch zu lesen ist. „Der Hirstenstern“ erschien in England 1994. Jetzt hat ihn der Albino Verlag in der guten Übersetzung von Joachim Bartholomae herausgebracht. „The Folding Star“ war Hollinghursts zweiter Roman, nach der „Schwimmbadbibliothek“, die 1992, vier Jahre nach dem englischen Original, bei Kiepenheuer & Witsch erschien. Die späteren Romane kamen dann jeweils fast gleichzeitig mit den Originalen auch in deutscher Sprache heraus (bei Blessing), so auch das am ausgiebigsten gefeierte Buch Hollinghursts, der Epochenroman „Schönheitslinie“ von 2004/2005.
Offenbar fehlte bei dem großen Verlag das Interesse, das Frühwerk nachzuholen. Jetzt nutzte ein kleiner, feiner Verlag mit überwiegend schwulem Programm die Chance. Die Verspätung im Zeitmaß fast einer ganzen Generation eröffnet dabei auch eine eigene Rezeptionschance.
Der „Hirstenstern“ ist kein Nebenwerk, sondern ein ausgeruhtes, großes Buch von unverkennbarer Meisterschaft, in vielen Zügen sogar lebendiger und frischer als die letzten, etwas konstruierten Romane Hollingshursts, die englische Gesellschaftsgeschichte über mehrere Generationen erzählen und daher manchmal etwas Ausgedachtes haben. Im „Hirtenstern“ ist alles frisch und neu, man erkennt zwar den historischen Abstand an den Alltagsdetails – beispielsweise bei der Telefonie –, aber eine Patina hat er nicht. Das Buch ist rührend und lustig, auch hintergründig wie alles von diesem Autor.
Und ja, es geht wieder ganz zentral um schwulen Sex. Da ist nun eine eigene historische Überlegung fällig. Um 1990 wirkten Hollinghursts Verbalisierungen tabubrechend, weil ein einfacher Vergleich nicht gezogen wurde. Dieser Autor erzählt von der den Alltag unentwegt begleitenden, sexuellen Angeregtheit schwuler Männer ungefähr so freimütig und selbstverständlich, wie das John Updike, Philip Roth, Nicholson Baker und viele andere unbefangen für heterosexuelle Männer längst taten: Offen gelebter Sex ist eben Teil des modernen Weltalltags. Dafür gibt es eine Sprache. Das ist individuell immer wieder aufregend, aber schon lange kein gesellschaftlicher Skandal mehr. Es gehört zur Poesie des Gewöhnlichen, die die eigentliche Domäne des bürgerlichen Romans ist.
Der frühe Alan Hollinghurst steht literaturgeschichtlich an der Schwelle, an der diese aufregende Selbstverständlichkeit und poetische Beiläufigkeit auch für schwulen Sex erreicht wurde, als Teil eines gewöhnlichen, aber gerade in seiner Normalität für alle Leser bewegenden Alltags. Dieser Schritt war vor 30 Jahren in seiner Folgerichtigkeit und Tragweite vielleicht noch nicht richtig einzuschätzen, weil im Detail so viel Ungewohntes an die vorwiegend heterosexuelle Leserschaft heranbrandete – während die Schwulen hier allerdings mit langen Ketten von Wiedererkennungseffekten beglückt wurden. Hollinghurst wirkte also damals, vor 30 Jahren stofflich aufregender als heute, und das verdunkelte den Umstand, dass er schon immer im besten Sinne des Wortes fast altmodischer Erzähler war: Er zeigt eine in vielen seelischen Facetten ausgefaltete westliche Mittelstandswelt, darin Updike oder auch John Cheever sehr verwandt. Die inneren Abenteuer, die zart und derb erlebten erotischen Erlebnisse starten in der vertrauten sozialen Wirklichkeit. Die Kategorie der Verruchtheit hat ausgedient. Dafür kommen heute Hollinghursts stilistische Qualitäten, denen Nicholson Baker schon vor langem seinen fast ehrerbietigen Tribut zollte, noch strahlender zur Geltung.
Der Ich-Erzähler des „Hirtensterns“ ist ein erfolgloser englischer Dichter, der sich eine Auszeit als Nachhilfelehrer in einer alten belgischen Kleinstadt gönnt – es kann sich nur um Brügge handeln. Dort unterrichtet der 30-jährige zwei halbwüchsige Jungen und kommt so auch in Verbindung mit deren Familien. Er erkundet das überschaubare, ebenfalls fast familiäre schwule Nachtleben des Städtchens, in dem es gar nicht besonders heimlichtuerisch zugeht – die alltagsgeschichtliche Momentaufnahme ist gut getroffen.
In der Mitte des Romans muss der Erzähler für 100 Seiten zurück nach Hause, in eine englische Kleinstadt südlich von London, wo ein Schulfreund, seine erste Liebe, nach einem Verkehrsunfall begraben wird, bevor der schon drohende Aids-Tod ihn ereilte. Damit kommt die Biografie des Erzählers Edward Manners, der Sohn eines mittelerfolgreichen Konzertsängers ist, in den Blick, samt all den süßen Erregungen von früher Liebe und erstem Sex, nächtens im Wald unter sommerlichen Sternen, darunter dem titelgebenden Abendstern (den englische Dichtung mit den Hirten in Verbindung bringt). Allein diese 100 Seiten mit ihrer Verbindung von erinnerter Jugendfrühe und Abschied sind umwerfend schön, ein sehr rührender Coming-of-Age-Roman als Bild im Bild.
Doch die wahren Abenteuer warten im tiefen Belgien der alten Stadt, wo sich hinter historischen Fassaden an stockenden Kanälen ein immer kurioseres Figurenensemble zeigt. Die umtriebigen Kleinstadtschwulen sind noch die normalsten – die eigentlichen Bizarrerien werden in alten bürgerlichen Familien gehegt, deren überforderte Söhne an schweren Lasten zu tragen haben, die teils ins burgundische Mittelalter, teils in die Zeit der Nazi-Besetzung und der Kollaboration reichen.
Nacherzählung wäre pedantisch, aber ein paar Hinweise müssen sein. Der Vater eines der beiden Nachhilfeschüler leitet ein Museum eines fiktiven belgischen Malers der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, eines Symbolisten mit gewissen Ähnlichkeiten zu Fernand Khnopff. Auch hier wieder: Einblicke in versteckte Vergangenheiten mit leicht skandalöser Erotik, diesmal heterosexuell, und einem tragischen Ende im Zweiten Weltkrieg. Die Beschreibungen fiktiver Kunstwerke, die Hollinghurst hier abliefert, gehören zum Virtuosesten des ganzen dicken Buches.
Das Hauptdrama des Romans aber ist die Verliebtheit, die den Erzähler Edward für seinen anderen Schüler, dem 17-jährigen Luc aus der alten Familie Altidore ergreift. Das gerät zu einer Minne-Affizierung sehnsüchtigst-schmachtender Art, für deren Orchestrierung Hollinghurst tief in die Kisten von Thomas Mann und Vladimir Nabokov, ja Proust greift – Tadzio, Lolita, Albertine sind literarische Sterne am von Türmen umschlossenen Himmel der abgründig versponnenen Kleinstadt. So erreicht der zeitgenössisch so präzise Roman eine gefühlshistorische Tiefe, eine Archäologie des Begehrens im bürgerlichen Zeitalter. Edward, sonst ein unverklemmter Mensch, erfährt Gustav-von-Aschenbach-Beklemmungen, samt dem dazu gehörenden Nachspionieren auf allerlei Wegen. Diese Minne ist zugleich ätherisch und gegenständlich, hat also reiches poetisches Potenzial.
Das umfängliche Figurensystem des Buches hält viele Spielarten im Kontinuum zwischen irdischer und himmlischer Liebe, zwischen derbem Sex und scheuer Verehrung bereit. Der Panerotismus lebt in ganzen Regenschauern von Metaphern, die unentwegt auf die Leser herunterfallen, zu immer neuer Erheiterung. Hier mag jeder an anderen Stellen lachen, zum Beispiel bei dieser, anlässlich einer nächtlichen Cruisingerfahrung in einem dunklen Park: „Ich fühlte mich sehr weit weg von zu Hause und blieb einen Moment stehen, um meinen Geschlechtstrieb zu überprüfen, wie man den Ölstand im Wagen überprüft, beschloss, dass er zur Zeit noch ausreichend war und joggte auf die Musik zu.“
Luc übrigens, der sich am Ende als weit weniger unerreichbar-unberührbar erweist als zunächst gedacht, läuft aus dem Roman weg. In den letzten Zeilen ist er Bild geworden, von einem Suchplakat an einer Fensterscheibe starrt er aufs winterlich graue belgische Meer.
Die Beschreibungen
der fiktiven Kunstwerke
sind virtuos
Alan Hollinghurst:
Der Hirtenstern.
Roman.
Aus dem Englischen von Joachim Bartholomae. Albino Verlag, Berlin 2022. 620 Seiten, 28 Euro.
„Ich fühlte mich sehr weit weg von zu Hause und blieb einen Moment stehen, um meinen Geschlechtstrieb
zu überprüfen, wie man den Ölstand im Wagen überprüft, beschloss, dass er zur Zeit noch ausreichend war und
joggte auf die Musik zu.“ – Alan Hollinghurst.
Foto: Quique García/Imago/Agencia EFE
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.05.2023Was hat ihn bloß so ruiniert?
Abgründe des Begehrens: Im Roman "Der Hirtenstern" zeigt sich Alan Hollinghurst als tückischer Erzähler
Wenn es so wäre, wäre es nur zu begrüßen: Das freie, unverkrampfte Sprechen über Liebe und Sex zwischen Männern sei heute kein Tabu mehr, sondern voll akzeptiert, las man zumindest in den jüngst erschienenen Besprechungen von Alan Hollinghursts Roman "Der Hirtenstern". So hieß es etwa in der "Süddeutschen Zeitung", das wichtigste Thema des Buches, schwuler Sex, sei in den Neunzigerjahren noch "tabubrechend" gewesen, zu jener Zeit also, als "Der Hirtenstern" in England erstmals erschien. Heute dagegen sei "offen gelebter Sex", auch der zwischen Männern, "eben Teil des modernen Weltalltags". Aus unserem Jahrzehnt betrachtet erscheine "The Folding Star", so der Originaltitel, als "ausgeruhtes, großes Buch von unverkennbarer Meisterschaft".
Auch der Deutschlandfunk hob in seiner Rezension hervor, Hollinghurst erzähle erfreulich offen von der Männerliebe. In seinem Roman finde sich "nichts dräuend Verschwitztes", sondern "voller Ironie, gebildeter Anspielungen und Darstellungs-Souveränität" komme schwule Sexualität bei ihm zur Sprache. Seine Literatur bilde darin den Gegensatz zu der "von heterosexuellen Rezensenten pflichtgemäß hochgelobten gekünstelten Treibhausprosa" eines Josef Winkler, womit der DLF-Kritiker lustigerweise genau jene "reduktionistische Identitätspolitik" betreibt, für deren Zurückweisung er Hollinghurst wenige Sätze zuvor noch ausdrücklich gelobt hat.
So entschieden man den Optimismus der zitierten Kritiker teilen möchte - bei der Aussage, dass die Sexualität, wie sie im "Hirtenstern" zu Darstellung kommt, heutzutage einer "Poesie des Gewöhnlichen" zuzurechnen sei, wie die SZ schrieb, muss man doch etwas stutzen. Liest man den über sechshundert Seiten starken Roman in Gänze, kann man zu einem ganz anderen Schluss kommen: Nämlich dass die Normalisierung eines Begehrens, wie es Hollinghurst imaginiert, alles andere als wünschenswert wäre - wobei die Frage nach Gleichgeschlechtlichkeit nicht einmal die entscheidende ist.
Schauen wir ins letzte Kapitel und dort wiederum auf den letzten Absatz. Edward Manners, der Erzähler des Romans, der gleichzeitig die Hauptfigur ist, erblickt den siebzehnjährigen Luc, seinen ehemaligen Nachhilfeschüler, auf einer Vermisstenanzeige. Was er sieht, beschreibt er so: "Seine Wangen waren eingefallen, die Augen vor Schmerz und Abwehr zusammengekniffen; ich spürte, er war seiner Schönheit beraubt; kaum hätte ich ihn den anderen Jungs um ihn herum vorgezogen. Er war ein Opfer geworden, dazu da, angestarrt und bedauert zu werden". Was aber hat den Jungen derart ruiniert? Nun, der Roman gibt uns keine vollständige Antwort auf diese Frage, bis zum Ende hin bleibt alles etwas diffus. Die Haltung, mit der Edward den äußeren Zustand Lucs kommentiert, deutet aber immerhin auf eine wichtige Teilantwort hin.
Blättern wir zurück an den Anfang des Romans. Edward ist ein erfolgloser Schriftsteller von dreiunddreißig Jahren, der kürzlich seine südenglische Heimat verlassen hat, um in einer namenlosen europäischen Kleinstadt als Privatlehrer Boden unter die Füße zu bekommen. Während er abends die Parks und Bars der Stadt durchstreift, auch und immer wieder auf der Suche nach Sex, sitzt er tagsüber mit Luc in dessen Kinderzimmer und erteilt ihm Englischunterricht. Von Anfang an ist er dem Teenager verfallen, stellt ihm heimlich nach und schreckt auch nicht davor zurück, ihm seine Unterwäsche aus dem Schrank zu stehlen. Als stünde es ihm zu, stürzt er sich in die "letzte verrückte Eskapade, bevor das Alter beginnt". Den Einwand einer Freundin, Luc sei doch eigentlich noch ein Kind, jedenfalls viel zu jung für ihn, schlägt er zornig in den Wind: "Aber so was passiert, es passiert."
Über die längste Strecke des Romans hinweg bleibt Edwards Verlangen ein Verlangen aus der Distanz, angefüllt von Schmerz und Lust. Irgendwann beginnt Luc allerdings damit, ein verhängnisvolles Spiel mit seinem Verehrer zu treiben. Er geht auf eine Mutprobe seiner Freunde ein und verführt Edward. Aber was soll dieses Wort - Verführung - in solch einer asymmetrischen Beziehung schon bedeuten? Das, was sich ereignet, wird jedenfalls sehr ausführlich und sehr explizit zur Anschauung gebracht. Edward ergreift beim Sex mit Luc das "stumpfe Begehren, ihn zu verletzen, zu sehen, wie er bestraft wurde", womit er das Objekt seines Verlangens zum handelnden Subjekt umdeutet, das er für seine eigene emotionale Qual verantwortlich macht. Es ist die verquere emotionale Logik eines Täters. Luc laufen derweil Tränen über die Wangen, "und seine Hand flackerte gegen meine Brust", so berichtet der Erzähler, "damit ich aufhörte oder langsamer machte." Später wird Edward selbst zumindest ansatzweise bewusst, "dass ich die Grenze . . . überschritten hatte".
Auch wenn Hollinghurst es nirgendwo ausdrücklich sagt und wir stets an die subjektiv gebrochene Perspektive des Erzählers gebunden sind: Aspekte des Machtmissbrauchs, der psychischen und schließlich auch der physischen Gewalt spielen in diesem Roman eine nicht unwesentliche, wenn auch subtil problematisierte Rolle. Es gibt aber einen Grund, warum einem dies bei der Lektüre nicht unmittelbar ins Auge sticht. Er liegt im Stil. Das Buch ist insofern genial, als sein Autor ein Spiel mit genau jenen Wahrnehmungsmustern betreibt, die auch in der Realität dazu führen, dass man das Böse selten dort vermutet, wo es sich tatsächlich ereignet. Genau darin - und nicht in erster Linie, weil das Objekt des Begehrens ein halber Erwachsener ist - ähnelt "Der Hirtenstern" Vladimir Nabokovs "Lolita", den bereits andere Kritiker als Vergleich herangezogen haben.
So ertappt man sich bei der Lektüre immer wieder in dem Irrglauben, wer sich so formsicher auszudrücken vermag wie der Erzähler, könne wohl niemals in der Lage sein, das zu tun, was er eben tut. Auch die langen Kunstdiskurse, die sich um einen fiktiven Symbolisten namens Edgard Orst drehen, die historischen Nebenerzählungen aus der Zeit der nationalsozialistischen Okkupation und ganz allgemein die bildhaften Schilderungen des alten Städtchens, das von zahllosen schillernden Figuren mit ihren je eigenen verflochtenen Lebens- und Familiengeschichten bewohnt wird, tragen ihren Teil zu diesem Verfahren bei. Dass es auch im Deutschen bruchlos zur Geltung kommt, ist der Kunstfertigkeit des Übersetzers Joachim Bartholomae zu verdanken.
Das heißt, selbst wenn man der im Deutschlandfunk aufgestellten These zustimmen wollte, dass Hollinghurst in seinem Debüt, der "Schwimmbad-Bibliothek" von 1988, "erstmals von schwuler Sexualität nicht als exotischer Ausnahme und auch nicht in wisperndem Ton" erzählt habe: Auf den "Hirtenstern" lässt sich dies noch lange nicht und schon gar nicht bruchlos übertragen. Vielmehr spricht es für den Anspruch und die Qualität des Autors, sein Sujet im Folgebuch literarisch weiterzudenken, und es auch in seinen Abgründen auszuloten. Es ist ein tückisch erzähltes Meisterwerk. KAI SINA
Alan Hollinghurst: "Der Hirtenstern". Roman.
Aus dem Englischen von Joachim Bartholomae. Albino Verlag, Berlin 2022. 624 S., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Abgründe des Begehrens: Im Roman "Der Hirtenstern" zeigt sich Alan Hollinghurst als tückischer Erzähler
Wenn es so wäre, wäre es nur zu begrüßen: Das freie, unverkrampfte Sprechen über Liebe und Sex zwischen Männern sei heute kein Tabu mehr, sondern voll akzeptiert, las man zumindest in den jüngst erschienenen Besprechungen von Alan Hollinghursts Roman "Der Hirtenstern". So hieß es etwa in der "Süddeutschen Zeitung", das wichtigste Thema des Buches, schwuler Sex, sei in den Neunzigerjahren noch "tabubrechend" gewesen, zu jener Zeit also, als "Der Hirtenstern" in England erstmals erschien. Heute dagegen sei "offen gelebter Sex", auch der zwischen Männern, "eben Teil des modernen Weltalltags". Aus unserem Jahrzehnt betrachtet erscheine "The Folding Star", so der Originaltitel, als "ausgeruhtes, großes Buch von unverkennbarer Meisterschaft".
Auch der Deutschlandfunk hob in seiner Rezension hervor, Hollinghurst erzähle erfreulich offen von der Männerliebe. In seinem Roman finde sich "nichts dräuend Verschwitztes", sondern "voller Ironie, gebildeter Anspielungen und Darstellungs-Souveränität" komme schwule Sexualität bei ihm zur Sprache. Seine Literatur bilde darin den Gegensatz zu der "von heterosexuellen Rezensenten pflichtgemäß hochgelobten gekünstelten Treibhausprosa" eines Josef Winkler, womit der DLF-Kritiker lustigerweise genau jene "reduktionistische Identitätspolitik" betreibt, für deren Zurückweisung er Hollinghurst wenige Sätze zuvor noch ausdrücklich gelobt hat.
So entschieden man den Optimismus der zitierten Kritiker teilen möchte - bei der Aussage, dass die Sexualität, wie sie im "Hirtenstern" zu Darstellung kommt, heutzutage einer "Poesie des Gewöhnlichen" zuzurechnen sei, wie die SZ schrieb, muss man doch etwas stutzen. Liest man den über sechshundert Seiten starken Roman in Gänze, kann man zu einem ganz anderen Schluss kommen: Nämlich dass die Normalisierung eines Begehrens, wie es Hollinghurst imaginiert, alles andere als wünschenswert wäre - wobei die Frage nach Gleichgeschlechtlichkeit nicht einmal die entscheidende ist.
Schauen wir ins letzte Kapitel und dort wiederum auf den letzten Absatz. Edward Manners, der Erzähler des Romans, der gleichzeitig die Hauptfigur ist, erblickt den siebzehnjährigen Luc, seinen ehemaligen Nachhilfeschüler, auf einer Vermisstenanzeige. Was er sieht, beschreibt er so: "Seine Wangen waren eingefallen, die Augen vor Schmerz und Abwehr zusammengekniffen; ich spürte, er war seiner Schönheit beraubt; kaum hätte ich ihn den anderen Jungs um ihn herum vorgezogen. Er war ein Opfer geworden, dazu da, angestarrt und bedauert zu werden". Was aber hat den Jungen derart ruiniert? Nun, der Roman gibt uns keine vollständige Antwort auf diese Frage, bis zum Ende hin bleibt alles etwas diffus. Die Haltung, mit der Edward den äußeren Zustand Lucs kommentiert, deutet aber immerhin auf eine wichtige Teilantwort hin.
Blättern wir zurück an den Anfang des Romans. Edward ist ein erfolgloser Schriftsteller von dreiunddreißig Jahren, der kürzlich seine südenglische Heimat verlassen hat, um in einer namenlosen europäischen Kleinstadt als Privatlehrer Boden unter die Füße zu bekommen. Während er abends die Parks und Bars der Stadt durchstreift, auch und immer wieder auf der Suche nach Sex, sitzt er tagsüber mit Luc in dessen Kinderzimmer und erteilt ihm Englischunterricht. Von Anfang an ist er dem Teenager verfallen, stellt ihm heimlich nach und schreckt auch nicht davor zurück, ihm seine Unterwäsche aus dem Schrank zu stehlen. Als stünde es ihm zu, stürzt er sich in die "letzte verrückte Eskapade, bevor das Alter beginnt". Den Einwand einer Freundin, Luc sei doch eigentlich noch ein Kind, jedenfalls viel zu jung für ihn, schlägt er zornig in den Wind: "Aber so was passiert, es passiert."
Über die längste Strecke des Romans hinweg bleibt Edwards Verlangen ein Verlangen aus der Distanz, angefüllt von Schmerz und Lust. Irgendwann beginnt Luc allerdings damit, ein verhängnisvolles Spiel mit seinem Verehrer zu treiben. Er geht auf eine Mutprobe seiner Freunde ein und verführt Edward. Aber was soll dieses Wort - Verführung - in solch einer asymmetrischen Beziehung schon bedeuten? Das, was sich ereignet, wird jedenfalls sehr ausführlich und sehr explizit zur Anschauung gebracht. Edward ergreift beim Sex mit Luc das "stumpfe Begehren, ihn zu verletzen, zu sehen, wie er bestraft wurde", womit er das Objekt seines Verlangens zum handelnden Subjekt umdeutet, das er für seine eigene emotionale Qual verantwortlich macht. Es ist die verquere emotionale Logik eines Täters. Luc laufen derweil Tränen über die Wangen, "und seine Hand flackerte gegen meine Brust", so berichtet der Erzähler, "damit ich aufhörte oder langsamer machte." Später wird Edward selbst zumindest ansatzweise bewusst, "dass ich die Grenze . . . überschritten hatte".
Auch wenn Hollinghurst es nirgendwo ausdrücklich sagt und wir stets an die subjektiv gebrochene Perspektive des Erzählers gebunden sind: Aspekte des Machtmissbrauchs, der psychischen und schließlich auch der physischen Gewalt spielen in diesem Roman eine nicht unwesentliche, wenn auch subtil problematisierte Rolle. Es gibt aber einen Grund, warum einem dies bei der Lektüre nicht unmittelbar ins Auge sticht. Er liegt im Stil. Das Buch ist insofern genial, als sein Autor ein Spiel mit genau jenen Wahrnehmungsmustern betreibt, die auch in der Realität dazu führen, dass man das Böse selten dort vermutet, wo es sich tatsächlich ereignet. Genau darin - und nicht in erster Linie, weil das Objekt des Begehrens ein halber Erwachsener ist - ähnelt "Der Hirtenstern" Vladimir Nabokovs "Lolita", den bereits andere Kritiker als Vergleich herangezogen haben.
So ertappt man sich bei der Lektüre immer wieder in dem Irrglauben, wer sich so formsicher auszudrücken vermag wie der Erzähler, könne wohl niemals in der Lage sein, das zu tun, was er eben tut. Auch die langen Kunstdiskurse, die sich um einen fiktiven Symbolisten namens Edgard Orst drehen, die historischen Nebenerzählungen aus der Zeit der nationalsozialistischen Okkupation und ganz allgemein die bildhaften Schilderungen des alten Städtchens, das von zahllosen schillernden Figuren mit ihren je eigenen verflochtenen Lebens- und Familiengeschichten bewohnt wird, tragen ihren Teil zu diesem Verfahren bei. Dass es auch im Deutschen bruchlos zur Geltung kommt, ist der Kunstfertigkeit des Übersetzers Joachim Bartholomae zu verdanken.
Das heißt, selbst wenn man der im Deutschlandfunk aufgestellten These zustimmen wollte, dass Hollinghurst in seinem Debüt, der "Schwimmbad-Bibliothek" von 1988, "erstmals von schwuler Sexualität nicht als exotischer Ausnahme und auch nicht in wisperndem Ton" erzählt habe: Auf den "Hirtenstern" lässt sich dies noch lange nicht und schon gar nicht bruchlos übertragen. Vielmehr spricht es für den Anspruch und die Qualität des Autors, sein Sujet im Folgebuch literarisch weiterzudenken, und es auch in seinen Abgründen auszuloten. Es ist ein tückisch erzähltes Meisterwerk. KAI SINA
Alan Hollinghurst: "Der Hirtenstern". Roman.
Aus dem Englischen von Joachim Bartholomae. Albino Verlag, Berlin 2022. 624 S., geb., 28,- Euro.
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