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Der Historiker Wolfgang Hardtwig schreibt über sein Aufwachsen in einem bayrischen Dorf und dabei ein Stück deutsche Gesellschaftsgeschichte
Wolfgang Hardtwig hat ein bemerkenswertes Buch über sich selbst geschrieben. "Der Hof in den Bergen" sind die Erinnerungen eines 1944 in der oberbayerischen Provinz geborenen emeritierten Geschichtsprofessors - er lehrte von 1991 bis 2009 an der Berliner Humboldt-Universität -, die gleichermaßen Auskunft geben über die Sozialgeschichte des ländlichen Bayerns in den Vierziger-, Fünfziger- und Sechzigerjahren wie über den Autor selbst.
Die Einleitung wartet sogleich mit der prägendsten Figur in Hardtwigs Leben auf, dem Großvater mütterlicherseits, Eduard Hamm. Er war Politiker der linksliberalen DDP, 1924 Reichswirtschaftsminister, Vorstand des Deutschen Industrie- und Handelstages, seit 1934 Mitglied des oppositionellen Sperr-Kreises, im Herbst 1944, kurz vor Hardtwigs Geburt, im Gestapogefängnis Lehrter Straße in Berlin zu Tode gekommen. Der Großvater hatte den Hof, der dem Buch seinen Namen gibt, 1932 gekauft. Als die Bombennächte in München bedrohlich wurden, zog die Familie dorthin.
Wolfgang kam auf dem Hof zur Welt, der Vater stieß im Sommer 1945 nach seiner Zeit bei der Wehrmacht und amerikanischer Internierung dazu, zumindest wochenends. Unter der Woche weilte er in München, wo er als Privatdozent Geophysik lehrte. Der Großvater war so präsent wie tot. Seine Witwe trug jeden Tag Schwarz, seine Tochter, Hardtwigs Mutter, flüsterte ihrem Sohn ein, er müsse so werden wie er, wodurch Hamm zur "historisch-moralische[n] Last" für Hardtwig geworden sei - so seine Selbstdeutung, die mit der 2018 erschienenen Biographie über den Großvater ihren Anfang nahm und im vorliegenden Buch ihre Fortsetzung findet.
Die ersten Kapitel nehmen uns mit auf den Baierhof ("Boarhof") in Oberbichl, zweihundert Meter östlich der deutsch-österreichischen Grenze. Wir erfahren von einer Kindheit im landwirtschaftlichen Rhythmus der Jahreszeiten, beschwerlichem Kartoffelstecken, Heuen und Schneeschaufeln, katholischer Volksfrömmigkeit, strapaziösen Schulwegen und der ländlichen Sozialstruktur insgesamt.
Die bot einerseits, flexibler als urbane Kleinfamilien, Platz für allerlei Menschen, für Knecht Louis etwa, der eines Tages Anfang der Fünfzigerjahre aus dem Nichts auftauchte, nach Arbeit fragte und daraufhin einige Jahre blieb, bis er ebenso plötzlich wieder verschwand. Andererseits waren die Strukturen starr: Kleinbauern und Knechte gingen, entsprechend ihrer Position in der sozialen Hierarchie, in den Gasthof zum Löwen; beim Oberwirt hingegen ereigneten sich die großen Bauernhochzeiten und die Wahlveranstaltungen der CSU. Solche Einblicke sind mit ethnographischem Mehrwert zu lesen, bestätigen aber nur ein Bild, das aus Studien zur ländlichen Welt hinlänglich vertraut ist. Noch interessanter ist das Buch deshalb dann, wenn es um Wolfgang Hardtwig selbst geht.
Hardtwigs Mutter, als promovierte Philologin zuerst Nachhilfelehrerin im Dorf und später Leiterin von Bildungsreisen, ließ ihrem Sohn eine "ständisch fundierte Umgangserziehung" angedeihen, deren "unablässiger Erziehungs- und Bildungsdruck" ihn in der sechsten Klasse zum notorischen Schulschwänzer samt Sitzenbleiben machte. Im Hause Hardtwig verbanden sich Musik, Literatur und ein Ethos gegenseitiger Unterstützung mit der "Selbstgewissheit der herrschenden Klasse".
Der Vater war ein Kind der Habsburgermonarchie, 1903 als Sohn eines oft versetzten k.u.k.-Postbeamten geboren, mit einer akademischen Karriere, die heute unter #IchBinHanna firmieren würde, und für die so wahrgenommene finanzielle Prekarität des bürgerlichen Lebensentwurfs verantwortlich. Es reichte für Wäscherin und Urlaubsreisen, um aber am Skilager teilnehmen zu können, mussten die Hardtwigs um Unterstützung aus dem schulischen Hilfsfonds bitten. Er sei der "bloß angeheiratete und noch dazu österreichische Ehemann aus den unteren Ständen" geblieben und "bäuerisch", "präbürgerlich" im Gegensatz zur "schöngeistigen" Mutter gewesen.
Alle Bekannten stammten aus dem Umfeld der Mutter, und diese waren es auch, die beim Autor das Bewusstsein ausbildeten, "von der Familie her etwas Besonderes zu sein". Dieses Familiennarrativ wurde fortgeschrieben, indem etwa Hardtwigs jugendliche Flottenbegeisterung mit den Worten "das hat er vom Onkel Max" goutiert wurde, dem jüngeren Bruder des Großvaters, Marineoffizier und U-Boot-Kommandant im Ersten Weltkrieg, wohingegen er von der väterlichen Familie besser nichts hatte.
Zwar reflektiert Hardtwig, "im Kategoriensystem der Mutter befangen" gewesen zu sein, und setzt Formulierungen wie die "Besseren" oder die "kleinen Leute" mitunter, aber nicht durchgängig, in Anführungszeichen. Sein Verhältnis zu diesem Koordinatensystem bleibt jedoch unklar. Wir erfahren nichts über Ausbruchsversuche, im Gegenteil lesen wir von einer Jugendliebe, die nicht ohne Folgen blieb, allerdings nur hinsichtlich des Musikgeschmacks "wie es sich in unseren Kreisen Mitte der 1960er Jahre noch gehörte".
Hardtwig reiht sich mit diesem Buch in die jüngere Selbsthistorisierung west-deutscher Historikerinnen und Historiker ein, die um die Jahrtausendwende unter anderem mit Lutz Niethammer, Barbara Duden, Jürgen Reulecke und Barbara Stambolis' Forschungsprojekt zu westdeutschen Geschichtsprofessoren des Jahrgangs 1943 begann. "Der Hof in den Bergen" erscheint in diesem Kontext als weitere Figuration weiblich dominierter vaterloser Familienverhältnisse, in diesem Fall nur eben großvaterloser. Die Frage, wie Kindheit und Jugend verlaufen wären, wäre der Großvater da gewesen, zieht sich so durch Hardtwigs Lebensbeschreibung, wie sie Jürgen Reuleckes (und anderer) Leben als "Söhne ohne Väter" strukturierte. Interessant ist also, warum dieser untergründige Großvatermythos dafür sorgen konnte, dass der lebende Vater "als Vorbild ausfiel", wie er es für den jungen Hardtwig tat - und was das über die gesellschaftlichen Machtverhältnisse dieser Zeit sagt.
Das Buch lohnt die Lektüre, denn es ist Quelle und Analyse zugleich. Es offenbart langlebige Strukturen im deutschen Bildungsbürgertum, die die alte Bundesrepublik prägten und im ländlichen Nachkriegsbayern gute Konservierungsbedingungen vorfanden. Zahlreiche Aspekte der Geistes- und Gesellschaftsgeschichte entwirrt die Feder des Historikers. Anderes spricht aufgrund der Grenzen, die die Personalunion von Untersuchendem und Untersuchungsgegenstand mit sich bringt, implizit aus dem Text: der selbstverständliche Bezugsrahmen der Nation etwa, die spezifisch männliche Sozialisation oder auch das Spannungsverhältnis zwischen kritischer Reflexion und tiefer Verinnerlichung des bürgerlichen Habitus. Gerade deshalb aber stellt Wolfgang Hardtwig mit diesen autobiographischen Reflexionen unter Beweis, weit über seine Lehrtätigkeit hinaus ein produktiver Historiker seines Faches und für sein Fach zu bleiben. VERONIKA SETTELE
Wolfgang Hardtwig: "Der Hof in den Bergen". Eine Kindheit und Jugend nach 1945.
Vergangenheitsverlag, Berlin 2022. 300 S., geb., 20,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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