Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Rashid Khalidi präsentiert eine palästinensische Sicht auf den Konflikt im Nahen Osten
Am 1. März 1899 schrieb Yusuf Diya al-Khalidi, Angehöriger einer der angesehensten Jerusalemer Familien, ehemals Bürgermeister von Jerusalem und Abgeordneter im osmanischen Parlament, einen Brief an den französischen Oberrabbiner Zadok Kahn zur Weiterleitung an Theodor Herzl, den Begründer des politischen Zionismus. Er drückte darin seine Sympathie für die Juden und sogar für den Zionismus aus, warnte aber eindringlich vor dem Versuch, ihn in Palästina zu verwirklichen. Das Land habe bereits eine dichte nichtjüdische Bevölkerung und könne nur unter Blutvergießen von anderen übernommen werden. Er schloss: "Um Gottes willen, man soll Palästina in Ruhe lassen!" Dieser Rat wurde nicht angenommen, erwies sich aber in der Folge als prophetisch. Das hier anzuzeigende Buch des Ururgroßneffen von Yusuf Diya, Rashid al-Khalidi, zeichnet die heftigen Auseinandersetzungen nach, die sich aus der Verwirklichung des Zionismus in Palästina ergaben. Das Buch ist kein trockenes wissenschaftliches Werk, sondern erzählte Geschichte. Es verbindet die Nachzeichnung des Geschichtsverlaufs mit den persönlichen Erfahrungen des Autors, der sich neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit auch immer wieder in der palästinensischen Politik engagiert hat.
Khalidi argumentiert, dass die Geschichte Palästinas seit der Zeit, als das zionistische Aufbauwerk dort im Ernst begann, als ein ebenso langer Krieg gegen die arabischen Bewohner des Landes gelesen werden müsse. Vor dem Ersten Weltkrieg war Palästina, ethnisch gesprochen, ein weitgehend arabisches Land. Wenn sie dort einen jüdischen Staat errichten wollte, brauchte die zionistische Bewegung mächtige Bundesgenossen, die ihr intensive jüdische Besiedlung, Übernahme von Ländereien und schließlich den Zugriff auf die politische Macht ermöglichen würden. Khalidi unterscheidet sechs Etappen, die er Kriegserklärungen nennt. Vielleicht kann man auch einfach von sechs "Runden" der großen Auseinandersetzung in Palästina sprechen.
Die erste Schutzmacht der Zionisten war Großbritannien. Es eroberte Palästina gegen Ende des Ersten Weltkriegs und hatte schon 1917 in der "Balfour-Deklaration" aus eigenen strategischen Interessen den Zionisten Unterstützung bei der Gründung eines "jüdischen Nationalheims" in Palästina versprochen. Dazu gehörten: Erleichterung jüdischer Einwanderung und Landerwerb, Begünstigung der Keimform eines jüdischen Staats und Unterdrückung arabischen Widerstands gegen die Besiedlung. Diese Besiedlung, die entscheidende Vorbereitung der Gründung des Staats Israel, war nur möglich durch die Unterstützung der britischen Mandatsmacht. Diese verabschiedete sich allerdings 1939 von ihrer einseitig prozionistischen Politik, woraufhin sich die Zionisten nach einer anderen Schutzmacht umschauten. Das wurden dann mehr und mehr die USA.
In der nächsten größeren Auseinandersetzung, dem UN-Teilungsbeschluss vom November 1947, der Gründung Israels und dem Krieg von 1948, konnte Israel gleich auf mehrere Unterstützer rechnen: Die USA und die Sowjetunion verhalfen der UN-Resolution zur Billigung, die Tschechoslowakei lieferte Waffen an die Haganah und Israel. Israel behielt denn auch im Krieg die Oberhand.
Die dritte Kriegserklärung war für Khalidi dann der Junikrieg von 1967. Bis dahin war die amerikanische Unterstützung für Israel nicht absolut gewesen; die meisten Waffen, ebenso wie die Hilfe bei der Entwicklung von Kernwaffen, kamen aus Frankreich; auch Deutschland spielte eine Rolle. Nun erschien für Israels Präventivkrieg gegen Ägypten, das bei allem Säbelrasseln keinen Angriff auf Israel vorhatte, die Billigung durch die USA essenziell. Sie kam. Aus jener Zeit resultiert das besondere Bündnis beider Länder, das seitdem immer enger geworden ist und sich in beinahe bedingungsloser politischer und militärischer Unterstützung manifestiert.
Die vierte "Runde" war die groß angelegte israelische Intervention im Libanon 1982, deren erklärtes Ziel die Zerstörung der PLO war. Dieses Kapitel ist besonders anschaulich erzählt, weil der Autor die Ereignisse mit seiner Familie in Beirut hautnah erlebt hat. Die fünfte "Runde" war die (erste) palästinensische Intifada, der Aufstand in der Westbank und im Gazastreifen gegen die Besatzung, unter Verzicht auf tödliche Gewalt und mit einem realistischen Ziel, einem palästinensischen Staat an der Seite Israels. Sie schaffte es, die festgefahrenen Fronten des Konflikts in Bewegung zu bringen, wurde aber unter Einsatz aller Mittel niedergeschlagen. Sie führte aber immerhin zur Madrider Friedenskonferenz 1991 und den folgenden israelisch-palästinensischen Verhandlungen in Washington, die zu Beginn mit großen Hoffnungen verbunden waren. Khalidi fungierte dabei als Berater der palästinensischen Delegation. Die eigentliche Einigung Israels mit der PLO war aber das in Geheimverhandlungen erzielte Vertragswerk von Oslo, das die israelische Besatzung und den Siedlungsbau nicht beendete und das Khalidi in einer genauen Analyse der Texte von Oslo als Kapitulation der palästinensischen Führung bewertet.
Die sechste Runde der Auseinandersetzungen begann mit der Al-Aqsa-Intifada (2000-2005), die durchaus nicht auf Gewalt verzichtete und ein Rückschlag für die Palästinenser war, setzte sich fort mit dem israelischen Rückzug aus dem Gazastreifen, der Machtübernahme der Hamas dort und den fortgesetzten großen Militärschlägen Israels gegen Gaza 2006-2014.
In all diesen Auseinandersetzungen waren die Zionisten beziehungsweise war Israel die stärkere Partei, sie waren jeweils proaktiv, denn sie waren es ja, die den Status quo im Land ändern wollten, und sie behielten auch stets die Oberhand. Aber anders als geplant konnten sie die Palästinenser als Faktor nicht ausschalten. Diese blieben und sind so nach wie vor ein Störfaktor bei der Verwirklichung der israelischen Pläne.
Khalidi spart durchaus nicht mit palästinensischer Selbstkritik. Wenn die Palästinenser ihre erklärten Ziele nicht erreicht haben, sagt er, lag das auch an eigenen Fehlern. Das Alles-oder-nichts-Programm der Frühzeit der PLO ("Befreiung ganz Palästinas") und in dem Zusammenhang ihre ausschließliche Orientierung auf den bewaffneten Kampf, terroristische Kampfformen eingeschlossen, half zwar, die palästinensische Sache auf der Tagesordnung der Weltpolitik zu etablieren, erwies sich aber in der Auseinandersetzung mit Israel als hinderlich. Das Programm wurde richtigerweise revidiert. Dann aber ließ sich das Gros der PLO in seiner Gestalt als PA (Palestinian Authority) auf den Deal von Oslo und seine Rolle als "Subunternehmer der israelischen Besatzung" ein. Und auch die alternative palästinensische Führung, Hamas, wiederholt teilweise die Fehler der frühen PLO und hat kein wirklich vorwärtsweisendes Programm zur Beendigung des Konflikts.
Khalidi hat keine Rezepte zur Lösung des Konflikts. Er argumentiert aber, dass jede Lösung zwei Prinzipien beachten muss: Sie muss die Existenz der beiden großen nationalen Gruppen im Land, der arabischen Palästinenser und der jüdischen Israelis, anerkennen und ihre gegenseitige Tolerierung sichern, und sie muss die völlige individuelle und kollektive Gleichheit der Menschen im Land enthalten. ALEXANDER FLORES
Rashid Khalidi: Der Hundertjährige Krieg um Palästina. Eine Geschichte von Siedlerkolonialismus und Widerstand.
Unionsverlag, Zürich 2024. 384 S., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.