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© BÜCHERmagazin, Martin Maria Schwarz (mms)
Hape Kerkeling ist für das Lachen zuständig. Nun hat er ein sehr trauriges Buch geschrieben
Im Grunde läuft alles auf diesen einen Satz zu: "Ich bin die Trümmer des Krieges, der in meiner Mutter gewütet hat." Was macht ein Mensch, der einen solchen Satz über sich selber schreibt, mit seinem Leben? Wie lebt der weiter, dieser Mensch aus Trümmern?
Es geht hier um Hape Kerkeling, den Komiker, Fernsehstar, Filmstar, Unterhaltungskünstler, der mit seinem letzten Buch "Ich bin dann mal weg" das erfolgreichste deutsche Sachbuch der Nachkriegsgeschichte geschrieben hat. 4,5 Millionen Mal hat sich der Bericht seiner Pilgerreise auf dem Jakobsweg bislang verkauft. Ungefähr jeder Deutsche kennt diesen Hape, kennt ihn als Horst Schlämmer, Königin Beatrix, Hurz-Interpreten und als Wanderer in die Stille.
Jetzt hat er das Buch seiner Kindheit geschrieben, es heißt "Der Junge muss an die frische Luft", und, ja, es läuft auf diesen Satz hinaus. Und auf eine Nacht, in der das Leben des damals achtjährigen Hape entzweigerissen wurde. Die Nacht, in der sich seine Mutter das Leben nahm.
Ich treffe ihn in einem kleinen Bibliotheksraum im Hotel "Frankfurter Hof" in Frankfurt. Seine Managerin ist dabei, die Pressesprecherin seines Verlages. Und wir also: zwei Menschen, die sich nicht kennen und die jetzt 45 Minuten Zeit haben, um über den Selbstmord einer Mutter zu reden und darüber, was das mit einem macht und wie man ein Buch darüber schreibt und warum. Kerkeling, graues Sakko, karierter Schal, braun gebrannt, ist freundlich, distanziert, antwortet knapp, überlegt oft lange, bevor er etwas sagt. Es wird kein einziges Mal gelacht in den 45 Minuten, und am Ende wird er sagen: "Das war ja wie eine Therapiesitzung."
Ja. Ein bisschen wie sein Buch. Auch das hat etwas von einem langen Couch-Besuch. Und die Leser sind die lauschenden Psychologen. Am Anfang werden sie launig begrüßt, klamaukig, etwas eitel, "wer kennt schon diesen Hape", warum sollte man sich für dessen Kindheit interessieren, "ich habe jetzt schon Kreislauf" und so weiter. Man hat von Anfang an den Eindruck, dass sich da einer langsam auf den entscheidenden Punkt hinschreibt, am Anfang Wörter sucht, um einen Umweg zu machen, weil es einen direkten Weg nicht gibt.
Das Kapitel, auf das alles zuläuft, beginnt auf Seite 195 und trägt den Titel "Der Stuhl am Küchenfenster". Und während man vorher noch manchmal das Gefühl haben konnte, der Autor umstelle mit Worten umständlich den Kern der Geschichten, die er erzählen will, wird hier die Sprache knapp und klar, reduziert auf das Geschehen. Seitdem seine Mutter ein Jahr zuvor nach einer misslungenen Operation der Nebenhöhlen den Geschmacks- und Geruchssinn verloren hatte, hat sie allen Lebensmut, alle Lebenslust verloren. Ihr Sohn sieht seine Lebensaufgabe darin, sie aufzuheitern. Ein kleiner Clown und Imitator, um seine Mutter froh zu sehen und - im Stillen ahnt er es wohl schon: am Leben zu erhalten. An diesem Abend ist alles wie immer, nur ein bisschen schöner. Sein Vater ist auf Nachtschicht, Hape, im blauen Flanellpyjama auf die Couch gekuschelt, sieht gemeinsam mit seiner Mutter fern. Sie ist ausgeglichen, fast heiter. Irgendwann verschwindet sie wortlos im Badezimmer und kommt nach einer Weile "nachtfein und stark parfümiert" zurück. Sie lächelt ihren Sohn an und sagt sehr leise: ",Ich lege mich jetzt schlafen, Hans-Peter. Es sind ja noch Sommerferien, und deshalb darfst du heute so lange fernsehen, wie du willst.'" Kerkeling fügt im Buch hinzu: "Das werden ihre letzten Worte an mich sein. Keine Umarmung. Kein Kuss. Sie zieht sich einfach ins Schlafzimmer zurück."
Der Junge ahnt etwas. So lange fernsehen, wie er will? Das hat es ja noch nie gegeben. Es läuft "Klimbim", er fühlt sich unwohl, aber er folgt der eigentlich herrlichen Erlaubnis zum ultimativen Fernsehabend wie einem Befehl. Er schaut, bis das Wort "Sendeschluss" erscheint. Dann legt er sich ausnahmsweise - er fühlt, dass er das tun sollte - zu seiner Mutter ins Bett. Und er schläft neben ihr ein.
Diese Geschichte ist herzzerreißend traurig und unglaublich, und niemand wird verstehen, wie eine Mutter ihrem Sohn so etwas antun kann. Aber wie ein achtjähriger Junge so etwas erlebt, wie er langsam das Unfassbare fasst, wie er neben ihr liegt und langsam begreift, dass sie gerade stirbt. Wie er nicht weiß, was er jetzt tun soll. Wie er nicht weiß, ob er den Opa rufen darf. Oder die Polizei. Ob die nicht lacht, mitten in der Nacht, weil der Sohn in Sorge ist, nur weil seine Mutter komische Geräusche macht. Wie er die ganze späte Nacht das Vaterunser betet, bis sein Vater kommt. Und wie er danach vor allem diese eine Frage fürchtet, von seiner Familie, die eine Frage: "Warum hast du keine Hilfe gerufen?" "Warum hast du deine Mutter nicht gerettet?" Und wie die Frage niemand stellt und ihm bis heute niemand gestellt hat, aber er sich selbst natürlich diese Frage immer wieder stellt und keine Antwort darauf weiß, außer der, dass er eben zu klein gewesen ist und der Situation nicht gewachsen war.
Das Grauen nach dieser Nacht wird nur noch schlimmer. Denn alle sind mit der Situation überfordert. Vor allem sind die Erwachsenen mit ihm überfordert, dem kleinen Jungen, der Antworten will und keine Lügen. Die Mutter lebt zunächst noch, bewusstlos im Krankenhaus. Ihr Sohn darf nicht zu ihr. Die Erwachsenen lügen, wie sie können. Sie werde wiederkommen. Sie freue sich auf zu Hause, auf ihren Sohn. Alles werde gut.
Doch nichts wird gut. Er fühlt es ja, er weiß es ja. Die Erwachsenen sind hilflos wie Kinder, nur dass sie es vor sich selbst hinter Lügen und Selbstbetrug verbergen. Der Junge hasst die Lügen, ahnt die Wahrheit, und er will in diesen Tagen nur eins: "Erwachsen werden." Er hebt die Hände, wenn er jetzt, in der Hotelbibliothek darüber spricht und sagt: "Nur das wollte ich: das Heft des Handelns in der Hand haben. Nicht hilflos sein. Entscheidungen treffen. Nicht diesen Lügen ausgeliefert sein." Und dass das auch einer der Antriebe für ihn war, dieses Buch zu schreiben: erstens, "ganz egoistisch, um mir über meine eigene Geschichte endlich klar zu werden", durch das Schreiben auch Abstand zu der Geschichte zu bekommen und sie einmal als etwas Abgeschlossenes vor sich zu haben. Aber vor allem auch, um gegen das Schweigen anzugehen. "Über diese Gruppe wird nicht gesprochen", sagt er. Selbstmord, Kinder von Selbstmördern, überhaupt über den Tod. Wie über den Tod sprechen, wie mit Menschen reden und umgehen, die gerade einen nahen Menschen verloren haben, wie mit Kindern?
In Hape Kerkelings Buch gibt es zahlreiche Heldinnen. Ja, es sind fast alles Frauen. Seine Omas, die eine, in deren Tante-Emma-Laden er so unendlich viele Lebensgeschichten hörte, die er alle ungemein spannend fand, die andere, Mutter seines Vaters, die zu ihm gezogen ist, nach dem Tod der Mutter. Auch diese Lebens-Szene, in der sich die Großmutter spontan entschließt, zu ihrem Enkel zu ziehen, ist traumhaft schön und schön erzählt, wie sie da, kaum hat sie die Todesnachricht erfahren, zunächst zögert oder gar entsetzt ist, als sie von ihrem Sohn erfährt, welche Aufgabe er für sie vorgesehen hat, wie der kleine Hape dann leise zu ihr sagt: "Bitte Oma", und sie dann sofort ihren Koffer packt, ihre Wohnung verlässt, die sie danach nie wieder betreten wird, das ist so traurig-lebensfreundlich-weise, dass einem beim Lesen echt die Tränen in die Augen schießen.
Das Buch von Hape Kerkeling wird von einem Willen zum Optimismus getragen, von einer Menschenfreundlichkeit, einem Vertrauen in Gott und die Menschen um einen herum. Woher einer das nimmt, der so etwas erlebt hat? "Ich hatte ja nur zwei Möglichkeiten", sagt er jetzt. "Entweder ich vertraue oder ich vertraue nicht. Ich habe damals blind in mein Schicksal vertraut. Und dieses Vertrauen ist nie enttäuscht worden."
Ob er sich jetzt nicht schutzlos fühle, mit so einer privaten, persönlichen Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen? "Nein", sagt er ganz entschieden. "Schutzlos war ich nach meinem Outing. Seitdem bin ich gewappnet. Das Outing damals war ein Befreiungsschlag. Und so fühle ich mich auch jetzt: Wie nach einem Befreiungsschlag. Aber schutzlos? Nein, das nicht mehr."
Wir sprechen noch darüber, wie Erinnerung funktioniert und ob man sie steuern kann. Im Buch schreibt Kerkeling an einer Stelle, dass er seine Mutter fröhlich und singend und patent in Erinnerung behalten wolle und dass das funktioniert. "Hm. Jetzt hätte ich gern einen Professor für Hirnforschung hier", sagt er. Und: "Ob man das steuern kann? Ich glaube schon. Wissen Sie, die Erinnerung geht mit der Gemütsverfassung einher. Und für die Gemütsverfassung ist man selbst verantwortlich. Ob man bereit ist, eher das Positive für sich zu bewahren."
Sein Buch, das vom Schrecklichsten berichtet, was einem Kind geschehen kann, handelt vor allem davon, von dem, was er bei seiner Oma "Zweckoptimismus" nennt. Man kann auch einfach "Wille zum Optimismus" sagen. Es sind immer auch Wörter gewesen, die Kerkeling als Optimismuswaffe gebraucht hat. Geschichten so erzählen, dass sie als Abwehrzauber funktionieren. Er schildert das einmal, als er Kerkeling-Fans beobachtet, die seine Texte auswendig kennen. "Sie benutzen sie als eine Art Code gegen die Welt", schreibt er, und das klingt nicht eitel, sondern wahr. Jetzt im Gespräch sagt er: "Ich merke, dass das so funktioniert. Ich mache das aber nicht bewusst."
Es funktioniert. Auch in diesem Buch. Das natürlich vor allem die Geschichte ist von einem Menschen, der Millionen zum Lachen bringt und der das kann, weil er einmal, in sehr früher Zeit in einer Situation war, in der Lachen überlebenswichtig schien, für den Menschen, der ihm am nächsten war. Der das aber nicht als große, klischeehafte Geschichte vom traurigen Clown erzählt. Sondern als eine erkämpfte Lebensgeschichte von einem Menschen, der Schlimmes erlebt hat, der vor allem aber auch viel Glück gehabt hat und den Willen zum Glück und von Menschen umgeben war, die diesen Glückswillen und das Zutrauen zur Welt und zu den Menschen gefördert haben. Zuerst aber: er selbst. Hape Kerkeling und sein Entschluss. Der steht nur eine Seite hinter dem Satz mit den Trümmern und dem Krieg: "Mein Leben jedenfalls soll ein großes Fest werden, beschließe ich mutterseelenallein nach der Beerdigung. Ich entscheide mich ganz bewusst für das Lachen und für die Fülle des Lebens. Manche Menschen mögen meine Einstellung getrost für oberflächlich halten, sei's drum. Ich habe meine guten Gründe."
VOLKER WEIDERMANN
Hape Kerkeling: "Der Junge muss an die frische Luft". Piper, 320 Seiten, 19,99 Euro
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Rouladen
Hape Kerkelings bewegendes
Buch über den Tod seiner Mutter
Die Kindheit des Hape Kerkeling endet an einem Ferientag im Sommer 1973. Er ist acht Jahre alt und allein mit seiner Mutter zu Hause. Im Fernsehen läuft „Klimbim“, später eine Krimiwiederholung. Und irgendwann steht die Mutter im Türrahmen und sagt nur leise, sie lege sich jetzt schlafen, er dürfe heute so lange fernsehen, wie er will. Es werden ihre letzten Worte sein. Der kleine Hape spürt, dass etwas nicht stimmt, dennoch harrt er tapfer vor dem Bildschirm aus. Erst nach Sendeschluss schlüpft er statt in sein Kinderzimmer zu seiner Mama ins Bett. Stunden später entdeckt er das verschmierte Glas Holundersaft, in dem sie die Schlaftabletten aufgelöst hat.
Der Selbstmord der Mutter und die Ohnmacht des Kindes gegenüber diesem Tod, es ist das Lebenstrauma des großen Komikers und Entertainers Hape Kerkeling, ein Trauma, das er sich nun von der Seele geschrieben hat. „Der Junge muss an die frische Luft“, heißt sein zutiefst bewegendes Buch, ursprünglich geplant als unterhaltsamer Rückblick eines schillernden Showstars auf dem Höhepunkt seines Erfolgs. Doch: „Es musste vielleicht einfach alles mal gesagt werden“, schreibt Kerkeling. Die Scheu, von dieser Wunde zu erzählen, und wie er sie überwindet, das ist selbst eingegangen in seine Autobiografie. Und ein Grund, der sie so lesenswert macht.
Langsam, in weiten Schleifen nähert sich Kerkeling dem Punkt, von dem aller Schmerz ausstrahlt. Es beginnt aufgekratzt, anekdotisch-verquasselt, wenn er seine idyllische Ruhrpott-Kindheit heraufbeschwört, als verhätschelter Wonneproppen der Familie, der sich früh schon für die männlichen Unterwäsche-Models aus dem Versandhauskatalog interessiert und im Karneval als Prinzessin geht.
Ihr Enkel werde Junggeselle bleiben, so lautet die Sprachregelung der Großmutter für dessen Homosexualität. Omas Lebensmittelladen ist eine Schule der Menschenbeobachtung, die den jungen Hape zum Parodisten werden lässt. Aber was perfektes Timing heißt, das hat er trainiert jedes Mal, wenn es ihm mit Faxen und einem Kochlöffel als Mikrofon gelang, seine Mutter für Momente aufzuheitern. Heute würde man ihr Leiden als Depression bezeichnen, aber damals war es eine peinliche Blöße, die man mit allen Mitteln verbarg.
Kerkelings Geschichte hat nichts gemein mit dem Klischee vom traurigen Clown. Wer das Handwerk des Komikers erlernt bei dem vergeblichen Versuch, einen Menschen dem Tod zu entreißen, und im Wissen, nur eine misslungene Pointe trennt sie beide vom Abgrund, für den ist Unterhaltungskunst zweierlei: Mysterium und angewandter Optimismus, wie ihn die Großmutter vorgelebt hat. Als sie nach dem Tod der Mutter gefragt wird, ob sie die Erziehung des Jungen übernehmen kann, zögert sie keine Sekunde. Sie sagt nur: „Morgen könnte ich vielleicht Rouladen machen?“ Denn die isst er doch so gerne.
Seine Mutter hat Hape Kerkeling nicht retten können, aber wenn es stimmt, dass seine Gags beim Publikum oft wie ein Abwehrzauber gegen das Böse funktionieren, dann beschützt er mit jedem seiner Auftritte ein paar Menschen. Und einer dieser Menschen ist nicht zuletzt er selbst.
CHRISTOPHER SCHMIDT
Hape Kerkeling: Der Junge muss an die frische Luft. Meine Kindheit und ich. Piper Verlag, München 2014. 320 Seiten. 19,99 Euro. E-Book 16,99 Euro.
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